13.10.1995

Neues über die Prozesse der fünfziger Jahre

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Neues über die Prozesse der fünfziger Jahre

Von

LIONEL

RICHARD *

IM Mai 1949 wird der Amerikaner Noel Haviland Field von Polizisten aus einem Prager Hotel entführt. Wenig später erleidet seine Frau dasselbe Schicksal. Im August 1949 wird Noels Bruder Hermann Field in Warschau verhaftet, wo er Nachforschungen über das Schicksal seines Bruders anstellen wollte.

Der Kalte Krieg hat begonnen. In den USA läuft während des ganzen Jahres 1948 die von dem Senator Joseph McCarthy ausgelöste „Hexenjagd“ auf Hochtouren. Ohne die Verhaftung Noel Fields jemals offiziell bekanntzugeben, präsentieren die sowjetischen Behörden ihn als Kopf eines amerikanischen Spionagenetzes. Vom 16. bis 24. September 1949 folgt in Budapest der Prozeß gegen den ungarischen Außenminister Laszlo Rajk und seine angeblichen Komplizen. Dann sind im November 1952 in Prag vierzehn tschechoslowakische Politiker an der Reihe, unter ihnen auch Rudolf Slansky, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei.1 Opfer dieser von Lawrenti Berijas NKWD organisierten Liquidierungskampagne werden – rechnet man Todesurteile und Selbstmorde zusammen – mindestens 250 Menschen. Nicht eingerechnet sind dabei die Tausende, die aus den kommunistischen Parteien ausgeschlossen bzw. gar verhaftet wurden.

In allen Prozessen, von Budapest bis Sofia, taucht immer wieder der Name Noel Field auf. Die Staatsanwälte bezeichnen ihn stets als Kern der Verschwörung, obwohl er selbst nie leibhaftig anwesend ist. Insofern seine Verhaftung ein Geheimnis bleibt, ist er eine reine „Fiktion“, ein Phantom, dessen Schuld als erwiesen gilt. Noel Field sollte nie Gelegenheit erhalten, sich öffentlich zu verteidigen.

Im März 1953 stirbt Stalin. Die polnischen Behörden müssen Hermann Field 1954 freilassen. Am 19. November 1954 gibt die ungarische Presseagentur MTI bekannt, daß Noel Field und seine Frau mangels Beweisen aus der Haft entlassen wurden. Fünf Wochen später stellt das Ehepaar einen Asylantrag ... bei den ungarischen Behörden, und führt fortan ein friedliches Leben in Ungarn.

Doch wer ist eigentlich dieser Noel Field? Seine einzige Biographin, die amerikanische Journalistin Flora Lewis, gibt zu verstehen, daß er 1935 in den USA als Agent für die Sowjetunion angeworben, später aber in der Schweiz von der OSS rekrutiert wurde, dem amerikanischen Geheimdienst unter Allen Dulles, der ab 1942 in Europa operierte. Für Wolfgang Kiessling – der über den Fall Field und seine Auswirkungen in der untergegangenen DDR ein zwar nicht gut aufgebautes, aber spannendes Buch verfaßt hat, das sich auf erst seit 1990 zugängliche Dokumente stützt2 – sind die Behauptungen von Flora Lewis durch nichts gerechtfertigt.

Noel Field, einer der großen machiavellistischen Spione dieses Jahrhunderts? Nein, sagt Kiessling. Zeugenaussagen und Archivmaterialien zeichnen vielmehr das Bild eines großherzigen, uneigennützigen Humanisten. Field stammt aus einer Quäkerfamilie und erhält in Zürich, wo sein Vater, ein Biologe, vor 1914 zeitweilig gewohnt hatte, eine deutsche Schulbildung – er ist perfekt zweisprachig. Nach dem Tod des Vaters 1921 kehrt die ganze Familie in die USA zurück, wo Noel Field nach einem Jurastudium einen hohen Posten in der Regierung bekommt. Aufgrund seiner großen Sprachkenntnisse wird er als amerikanischer Vertreter zum Völkerbund nach Genf entsandt. Zwischenzeitlich heiratet er eine alte Züricher Schulfreundin, die Schweizerin Herta Vieser, die mit den Fields in die USA gegangen war.

Das tatsächliche Engagement Fields beginnt, so Kiessling, mit dem spanischen Bürgerkrieg. Er wird offizieller Vertreter des Barsky-Komitees in der Schweiz, einer in den USA gegründeten und von den amerikanischen Kommunisten unterstützten antifaschistischen Organisation. Seine eigentliche Aufgabe besteht darin, ehemalige Kämpfer der Internationalen Brigaden zu unterstützen. Eine andere, ebenfalls amerikanische, von Quäkern gegründete und rein humanitäre Organisation, das Unitarian Service Committee (USC) bietet ihm 1940 an, sich um die Unterstützung deutscher und österreichischer Emigranten zu kümmern: Er bemüht sich, die am stärksten gefährdeten Insassen von Internierungs- oder Konzentrationslagern freizubekommen und ihnen bei der Ausreise in die USA, nach Mexiko oder in die Schweiz zu helfen.

Diese Arbeit bringt Field während des ganzen Krieges mit Verantwortlichen der Untergrundorganisation der KPD in Westeuropa zusammen. Was zwei Konsequenzen für ihn hat: Auf amerikanischer Seite steht sein Name ab 1948 auf McCarthys roten Listen; auf sowjetischer Seite wird er für Berijas Geheimdienst zum idealen Vorwand, im Namen der Verteidigung des Sozialismus gegen die ideologischen Attacken aus den USA all jene kommunistischen Funktionäre auszuschalten, die nicht den Moskauer Emigrantenkreisen entstammen und unter dem Verdacht stehen, sich Stalins Befehlen zu widersetzen. Auf den prominenten Plätzen der Anklagebank sitzen Freiwillige aus den Internationalen Brigaden, führende Köpfe des inneren Widerstands und Juden.

Kiessling interessiert sich bei seinen Nachforschungen nicht in erster Linie für Noel Field. Er will vielmehr aufzeigen, wie der KPD-Funktionär Paul Merker, dem Field 1942 zur Emigration verholfen hatte, vom Räderwerk der Beschuldigung der Spionage für die Vereinigten Staaten erfaßt wird. Im März 1951 wird er vom NKWD bei Ulbricht denunziert. Er wird am 2. Dezember 1952 verhaftet und angeklagt, den „Frieden des deutschen Volkes und den Frieden der Welt“ durch seine Zusammenarbeit mit imperialistischen Geheimdiensten vor und nach 1945 bedroht zu haben. Er wird als „deutscher Trotzkist“ und Verbündeter der „Zionisten“ eingestuft. Merker hat nie ein Geständnis abgelegt, vielmehr stets, selbst unter größtem Druck seine Unschuld beteuert; er wurde im Januar 1956 aus der Haft entlassen und starb 1969, rehabilitiert und wieder in die kommunistischen Reihen aufgenommen.

Die Opfer der fabrizierten Anschuldigungen

ANDERE Schicksale nahmen einen tragischeren Verlauf. Etwa das von Paul Bertz. Der alte Aktivist war von 1935 bis zum Kriegsende im KPD-Sekretariat für Westeuropa zuständig und ein wichtiger Verbindungsmann zur französischen Résistance. Aufgrund seiner Funktionen steht er in der Schweiz mit Noel Field in ständigem Kontakt. Nach Deutschland zurückgekehrt, wird er Leiter der Hauptverwaltung Verkehrswesen in der damaligen SBZ. Als er erfährt, daß seine Verhaftung bevorsteht – weil er angeblich die Unterwanderung der KPD durch die Amerikaner zu verantworten habe –, begeht er im April 1950 Selbstmord. Am 8. Juni 1950 folgt der Selbstmord des 42jährigen Rudolf Feistmann. Der Journalist beim SED-Organ Neues Deutschland stammte aus einer jüdischen Familie und war wie Merker nach Mexiko emigriert. Aus taktischen Rücksichten wurde sein Tod jahrelang von offizieller Seite als Lebensmittelvergiftung kaschiert.

Wer heute die Polizeiberichte liest, muß sie mit großer Vorsicht interpretieren. Um so mehr, als es unter Berijas Schergen nicht wenige Experten für das Erzwingen falscher Geständnisse gab. Jedenfalls scheiden die von Kiessling zitierten Dokumente die Betroffenen recht säuberlich – und vielleicht zu Unrecht – in Mutige und Feiglinge. Die kommunistischen Funktionäre Paul Bertz, Franz Dahlem und Paul Merker werden ersichtlich aufs Podest gestellt. Herta Geffke, Hermann Matern, Walter Ulbricht und insbesondere Anton Ackermann hingegen scheinen blinde und sture Diener der sowjetischen Organe gewesen zu sein. Wenig seelische Größe und ein unerfreulicher Denunziantengeist sind auch aus den Aussagen von Anna Seghers' Ehemann Laszlo Radvanyi und des österreichischen Schriftstellers Leo Katz herauszulesen!

Wie es sich für gute Kriminalromane gehört, enthüllt Kiessling einige wichtige Punkte, läßt jedoch bestimmte Rätsel ungelöst. In seinen Gefängnistagebüchern fragt sich Noel Field 1952, ob der Weg, den er seit 1936 gegangen war, der richtige sei, ob er nicht etwa ein „Narrenparadies“ betreten habe. Aber er versichert sich sogleich, sein Vertrauen sei nicht mißbraucht worden, früher oder später werde er von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen freigesprochen, und auch die Unschuld der als Verräter verurteilten Kommunisten werde sich mit Sicherheit irgendwann herausstellen. Nun, dies entbehrt nicht einer gewissen Hellsichtigkeit. Interessant wäre es, zu wissen, ob Field noch andere Aufzeichnungen und Überlegungen hinterlassen hat. Hat er womöglich zwischen 1956 und seinem Tod im September 1970 den Mechanismus jener fabrizierten Anklagen erforscht und durchschaut, den er unwillentlich in Gang brachte und dem in der internationalen kommunistischen Bewegung so viele Menschen zum Opfer fielen?

dt. Eveline Passet

* Verfasser von „Le Nazisme et la culture“, Brüssel, 1988, und von „Les Artistes confronts la seconde guerre mondiale“, Paris, 1995.

1 Die wichtigste Quelle zu den Prager Prozessen ist selbstverständlich nach wie vor „L'Aveu“ von Artur London, Paris, 1968, deutsche Ausgabe „Ich gestehe“, Berlin 1991. Eine neuere Analyse findet sich in der Zeitschrift Communisme unter dem Titel „Le ,procès‘ politique de 1952 en Tchécoslovaquie“, Nr. 26-27 (3. Trimester 1990), die diese Machenschaften in einen generellen Zusammenhang stellt. Eine der jüngsten Publikationen stammt von Christian Duplan und Vincent Giret, „La Vie en rouge. Les pionniers. Varsovie, Prague, Budapest, Bucarest“, Paris, 1994, worin auch die beiden Kinder der bekanntesten Opfer zu Wort kommen: der Sohn von Laszlo Rajk und der Sohn von Rudolf Slansky.

2 Wolfgang Kiessling, „Partner im ,Narrenparadies‘. Der Freundeskreis um Noel Field und Paul Merker“, Berlin, 1994. Flora Lewis' Field-Biographie trägt den Titel „Red Pawn, The Story of Noel Field“, New York, 1965, deutsche Ausgabe 1968 unter dem Titel „Bauer im roten Spiel“.

Le Monde diplomatique vom 13.10.1995, von Lionel Richard