Das tschechische Wunder auf dem sozialen Prüfstand
WÄHREND die Regierung von Václav Klaus – anders als die Regierungen der meisten Länder Mittel- und Osteuropas – bislang von den Engpässen und Anfechtungen ihrer Politik des Wirtschaftsliberalismus verschont geblieben ist, so sieht sie nunmehr wachsenden sozialen Unmut auf sich zukommen. Die positiven makroökonomischen Daten (eine Wachstumsrate von 4,4 Prozent, eine Inflationsrate von 9,3 Prozent und eine Arbeitslosenrate von 3,7 Prozent) kaschieren, daß Gesundheitsversorgung, Ausbildung und soziale Absicherung mittlerweile nicht mehr für alle Tschechen gleichermaßen gewährleistet sind. Die steigende Unzufriedenheit spiegelt sich in den jüngsten Umfragen, denen zufolge die Sozialdemokratische Partei längst der Parteienkoalition des Premierministers dicht auf den Fersen ist.
Von unserem Sonderkorrespondenten JEAN-YVES POTEL *
Das weitläufige, in die Jahre gekommene Gebäude mit Blick über das schöne und kalte Prag beherbergt das Motol- Krankenhaus, das größte in Böhmen und dank seines hohen technischen Standards und bester Ärzte bereits zu Zeiten des alten Regimes ein Vorzeigeobjekt. Hier sehen Sie die Oberschwester der Hämatologie-Station. Es fehle an Personal, klagt sie dem Fernsehreporter: In wenigen Monaten seien allein sechs ihrer Kolleginnen in besser bezahlte Jobs gewechselt. Tatsächlich verdient eine Fachkraft auf dieser Station für Kinder nach sieben Jahren Berufstätigkeit 4000, mit Prämien 5000 Kronen monatlich (rund 300 Mark). Eine lächerliche Summe.
„Anna und ihre Schwestern“ wurde im Juni von dem Privatsender TV Nova ausgestrahlt. Die Reportage traf ins Schwarze: Der Journalist hatte eine der verschwundenen Krankenschwestern unwürdigerweise als Chefin wiedergefunden ... in einem Erotik-Salon. Das Bild bewegte die Gemüter, denn jeder hier weiß, welche Not hinter derlei Berufswahl steckt. Abzulesen ist dies an den Briefen, die nach der Ausstrahlung eintrafen: „Anna hat ihre Würde gegen Geld verhökert, aber auch andere, viele andere, halten nicht durch. Krankenschwestern haben mir geschrieben, die Krankenhausarbeit sei so anstrengend, daß sie keinen Nebenerwerb erlaube, vor allem, wenn man noch Kinder hat. Deshalb lassen sich einige auf alles ein...“
Die Wirkung der Sendung war so durchschlagend, daß sich der Gesundheitsminister in der darauffolgenden Woche vor den Scheinwerfern desselben Fernsehteams zu einem Lokaltermin einfand. Ein Stationsarzt zum Minister: „Es fehlen 176 Krankenschwestern.“ Die Gegenfrage: „Worauf stützen Sie Ihre Zahl?“ – „Das sagen die Leiter der Fachabteilungen...“ Der Regierungsmann fiel ihm ins Wort: „Ich bin anderer Meinung, hier gibt es genügend Krankenschwestern.“
Das Personal fühlte sich schwer beleidigt; die Patienten und die Öffentlichkeit waren von der Arroganz des Ministers empört. Sie befürchten, daß das Krankenhaus in seiner bestehenden Form aufgelöst und anschließend privatisiert werden könnte. Minister Luděk Rubáš indessen schrieb nach der Fernsehsendung – ungeachtet der Gefahr, sich lächerlich zu machen – an den betreffenden Journalisten: „Vielen Dank. Es ist Ihnen gelungen, die Zuschauer davon zu überzeugen, daß es bei uns an Krankenschwestern mangelt und daß der Minister, wenn er dies abstreitet, ein Einfaltspinsel ist.“1
Besser läßt sich die Stimmung in der tschechischen Republik in diesem Herbst nicht resümieren. Spätestens seit dem Frühjahr sind die sozialen Fragen dringlich geworden. Es ist, als ob die Geister aus einer Art von Betäubung erwachten, als lösten sich die Wolken der schönen Reden auf, um den Blick auf die triste, graue Realität freizugeben.
Nach der kurzen Euphorie der samtenen Revolution hatte die Mehrzahl der Wähler, vor allem in den Städten, für den Weg optiert, der ihnen der sicherste – wenn auch am wenigsten poetische – Garant für ein besseres Leben zu sein schien. Die Regierung von Václav Klaus, eines stinknormalen, aber kompetenten Menschen, sollte die notwendigen Reformen einleiten und die Wirtschaft auf „internationalen Standard“ bringen. Während Präsident Václav Havel, ein integrer und mutiger Intellektueller, garantieren sollte, daß dieser Prozeß mit Moral und Anstand vonstatten ginge. Zwar trennte man sich vor zweieinhalb Jahren nur widerwillig von den Slowaken2, doch heute bedauert niemand mehr die Teilung des Landes – wird doch der populistische Weg, den der dortige Premierminister Vladimir Mečiar genommen hat, hier allenthalben mißbilligt.3 Freilich stellt sich nun heraus, daß die soziale Lage sich kaum verbessert. Schlimmer noch, es herrscht der Eindruck vor, daß die Früchte aller Anstrengungen nach wie vor in dieselben Säckel wandern, während die Mehrheit der Bevölkerung sich ihrer grundlegenden Rechte beschnitten sieht: Gesundheit, Ausbildung, soziale Sicherheit.
Die makroökonomischen Zahlen Tschechiens malen in der Tat ein ganz hervorragendes Bild. Die Zahlen sprechen für sich. Das Land ist reich, sein Bruttoinlandsprodukt beträgt 7000 Dollar pro Einwohner (höher als in Polen oder Ungarn) und seine Konten sind ausgeglichen. „Es ist uns gelungen, unsere Schulden zurückzuzahlen“, unterstreicht Finanzminister Ivan Kočarnik, „was heißt, daß wir im Rahmen des IWF inzwischen zu Gläubigern geworden sind.“4 Und mit zufriedenem Lächeln erläutert er den Haushalt für 1996: kein Defizit (die vorausgegangenen Haushalte konnten sogar mit einem Kredit abschließen), Senkung der Steuerlast, was durch eine Wachstumsrate von 4,4 Prozent aufgefangen wird; die Inflation beträgt 9,3, die Arbeitslosenquote 3,7 Prozent. Ein wahres Wunder!
Wie jedes gut organisierte Mirakel wird auch das tschechische Wirtschaftswunder von der internationalen Presse besungen, während zugleich die ausländischen Investoren die sicheren Anlagebedingungen dieses kleinen Landes preisen. Im ersten Halbjahr 1995 erreichten die ausländischen Investitionen – überwiegend aus Deutschland und Frankreich5 – ein Volumen von 402,5 Millionen Dollar, das höchste seit 1992. Doch dieser Erfolg hat auch seine Kehrseite: einen so rasanten Zuwachs an Geldtransaktionsgeschäften, daß im Juni 1995 Maßnahmen gegen die Börsenspekulation nötig wurden. Nach Auskunft des Direktors der Zentralbank (ČNB) werden seit Beginn dieses Jahres 50 bis 66 Prozent der drei Milliarden Dollar nur kurzfristig bei tschechischen Banken angelegt, weshalb die ČNB mittels technischer Maßnahmen (Zinssatzerhöhungen) den Andrang einzudämmen sucht.
Als stabile und unterbewertete Währung schützt die tschechische Krone eine wenig konkurrenzfähige Industrie, stimuliert zugleich den Export und verhindert jegliche Umstrukturierung, die sich allzu negativ auf die Beschäftigung auswirken würde. Dagegen „könnte eine Schwankung oder gar eine Aufwertung der Krone zu rasch gewaltige soziale und politische Unruhen nach sich ziehen“, bemerkt ein kenntnisreicher Beobachter.6 Deshalb zeigt sich Václav Klaus zweifellos auch deutlich zurückhaltender als der Leiter der ČNB.
Wirtschaftsminister Karel Dyba, ein stets sehr ruhig und abgeklärt wirkender Mensch, verweist auf die Arbeitslosenrate als untrüglichen Indikator. Tschechien ist das einzige Land in Europa, das auf seinem Weg aus dem Kommunismus ein exzellentes Ergebnis vorzuweisen hat: eine Arbeitslosenrate von unter 4 Prozent – also nahezu Vollbeschäftigung. „Dies ist der schnellen Umstrukturierung der Wirtschaft zu danken“, sagt Dyba. „Ich glaube, der entscheidende Faktor war die beschleunigte und massive Privatisierung unserer Unternehmen, wodurch neue Arbeitsplätze, insbesondere im Dienstleistungssektor, geschaffen wurden.“
Eine Auffassung, die – bemerkenswerterweise – Richard Falbr, Präsident der einflußreichen Gewerkschaft ČMKOS, zu teilen scheint, wenn er erklärt, daß er bis zum Jahr 2000 nicht mit einer bedeutenden Verschlechterung der Arbeitsmarktlage rechnet. Doch er weiß auch noch eine weitere Erklärung für den Erfolg der Regierung. „Wir haben von der geographischen Lage unseres Landes – zwischen Österreich und Deutschland – profitiert; so konnten Grenzgänger leicht Arbeit finden und andererseits Dienstleistungsbetriebe und kleine Privatunternehmen sich gut entwickeln. All dies hat ungeheure Möglichkeiten eröffnet, die von den Arbeitsämtern bestens umgesetzt werden. Dies ist ohne jeden Zweifel ein Erfolg.“ Anders als in einigen anderen Ländern des Ostblocks gab es in der sozialistischen Tschechoslowakei praktisch keine Privatbetriebe.
In einem Bericht aus dem vergangenen Jahr stützt sich die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zwar im wesentlichen auf die Analysen der tschechischen Regierung, zeigt sich allerdings weniger optimistisch: „Die Konsequenzen der systematischen Veränderungen, die den Arbeitsmarkt betreffen, sind noch nicht alle zum Tragen gekommen (...). Von entscheidender Bedeutung ist die Frage, ob die Faktoren, die bisher einen Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert haben, weiter wirksam bleiben werden.“ Daran scheint der Bericht zu zweifeln: „Es fehlt an Mobilität zwischen den Regionen, Berufen und Arbeitsbereichen, weshalb die weitere wirtschaftliche Umstrukturierung einen Anstieg der Arbeitslosigkeit nach sich ziehen könnte, und zwar in bestimmten Regionen auch längerfristig.“7
Die Arbeitslosigkeit ist freilich nicht der Anlaß für die Ernüchterung und Beunruhigung der Bevölkerung in diesem Herbst. Sie bezieht sich vielmehr auf die Enthüllungen über die Art und Weise, in der die massenhaften Privatisierungen vonstatten gegangen sind. Von offizieller Seite wird geschätzt, daß der Anteil der Privatwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr 80 Prozent erreichen wird. Doch handelt es sich wirklich um einen Bereich, der frei ist von jeder staatlichen Kontrolle? Zahlreiche Beobachter bezweifeln dies. Gewiß, die zweite Privatisierungswelle ist zügig über die Bühne gegangen: Von 861 zum Verkauf angebotenen Unternehmen waren nach einem Jahr 668 verkauft.
Durch das Kupon-System werden diese Unternehmen jedoch nicht etwa zwingend vom Staat abgekoppelt. Im Gegenteil, bemerkt Richard Portes: „Dadurch ist ein einzigartiges Kontrollsystem entstanden. Die Unternehmen werden von den Investitionsfonds ausgehalten, die zur Durchführung der Privatisierung geschaffen wurden und denen die meisten Menschen ihre Kupons anvertraut haben. Die meisten dieser Gesellschaften jedoch werden von den großen Banken verwaltet. Und an diesen ist der Staat noch zu durchschnittlich 40 Prozent beteiligt, während gleichzeitig die einstigen Staatsbetriebe dort hoch verschuldet sind. Die Banken zögern offensichtlich, die Rückzahlung der Kredite zu fordern, selbst wenn manche Außenstände gefährdet erscheinen; und die Regierung verfolgt wohlweislich eine Politik, die mit Hilfe des Nationalen Vermögensfonds und der Bank für Konsolidierung Bankrotte zu verhindern sucht.“8
Insgesamt acht Banken teilen sich die wichtigsten Fonds. „Besser als der Gosplan!“ lautet der ironische Kommentar eines tschechischen Journalisten. Im übrigen bereitet der Finanzminister ein Gesetz vor, das dem Staat noch mehr Macht über die Fonds einräumen soll. Neben einer Konzentration des Eigentums haben diese Operationen vor allem einige wenige Profiteure begünstigt. Korruptionsskandale und andere Straftaten von Insidern, die in den letzten Monaten um ein Vielfaches zugenommen haben, haben den Tschechen offenbart, daß manch einer sich in unvorstellbarem Ausmaß bereichern und allzuoft damit ungestraft davonkommen konnte. So hat sich der Präsident des größten Fonds in die Schweiz abgesetzt; und der Chef des Amtes für die Privatisierung des Staatseigentums wurde wegen Unterschlagung von mehreren Millionen Kronen verhaftet.
Dieser Fetischisierung des Marktes und des schnellen Geldes steht heute eine zunehmende Verschlechterung der öffentlichen Einrichtungen gegenüber. Sie belastet vor allem die ärmsten Bevölkerungsschichten, wird aber auch von den Angestellten dieser öffentlichen Dienste angeprangert. Im letzten März trat der Unmut erstmals offen zutage, als große Teile der Bevölkerung dem Aufruf der Gewerkschaften folgten und gegen den von der Regierungskoalition im Parlament eingebrachten Gesetzentwurf zur sozialen Absicherung auf die Straße gingen (es waren die größten Demonstrationen seit 1989). Im Juni wurde das ganze Land dann von den Eisenbahnern in Atem gehalten, die einen unbegrenzten Ausstand androhten, falls ihre Löhne nicht erhöht würden. Die Regierung mußte einlenken, so wie sie auch Ende August kurz vor Beginn des neuen Schuljahrs nachgeben mußte, als die Lehrer eine ähnliche Drohung formuliert hatten. Dazu muß man wissen, daß eine Grundschullehrerin knapp 6000 Kronen im Monat erhält, also ein Drittel dessen, was eine einfache Sekretärin in der Privatwirtschaft verdient. In diesen Aktionen, die von der Bevölkerung positiv aufgenommen wurden (von der Presse weniger), wie auch in den Unmutsbekundungen aus dem Gesundheitssektor kristallisiert sich eine neue Art der Unzufriedenheit heraus: „Die Tschechen haben immer etwas zu nörgeln“, kommentiert Ivan Gabal, Soziologe und Chef eines Meinungsforschungsinstituts, „aber diesmal hat es wirklich einen qualitativen Umschwung gegeben.“
Letzte Insel des Thatcherismus
EMPÖRUNG löste das im vergangenen Frühjahr verabschiedete Gesetz über die Sozialleistungen aus, insbesondere die Änderungen im Bereich der Familienbeihilfe. Mit technischen Argumenten und inhaltlichen Vorwänden soll das bisherige, auf dem Gleichheitsgrundsatz beruhende System aufgeweicht werden. Die Familien können nach Maßgabe ihres Einkommens neun Kategorien von Beihilfen (Kinder-, Eltern-, Mutterschafts-, Wohngeld usw.) beantragen, wobei die Anspruchsberechtigung mittels eines Koeffizienten ermittelt wird, der sich auf ein von den Behörden festgelegtes „Subsistenzeinkommen“ bezieht.9 Der Ministerpräsident, der in diesem Gesetz seine Sozialphilosophie verkörpert sieht, will mit seiner Hilfe Ungleichheiten abbauen, indem etwa jede vierte Familie zusätzliches Geld bezieht. Die Opposition hält dem entgegen, daß diese Art „gezielter“ Umverteilung, die eine Lieblingsidee der Weltbank sei, das Gegenteil bewirken werde.
„Leider ist es das einzige Ziel dieser Regierung, zu sparen“, erklärt der Gewerkschafter Richard Falbr. „Sie beteuert, daß man nicht alle zufriedenstellen könne, daß ein zielgerichtetes System gerechter sei. Es stimmt, das derzeitige System funktioniert schlecht, es muß verändert werden, doch nicht radikal. Die von der Regierungskoalition vorgeschlagenen Regelungen sind teuer und wirken diskriminierend. Durch sie wird nichts eingespart, und sie bedeuten einen Machtzuwachs für die Behörde; vor allem aber schaffen sie eine Sonderkategorie von Menschen: die Ärmsten.“ Zudem hat ein Abgeordneter der Regierungsmehrheit eingestanden, daß der tatsächliche Wert der Beihilfen ständig weiter sinkt. 1994 lag bei einer Familie mit Kindern das durchschnittliche Realeinkommen um etwa 20 Prozent niedriger als 1989, bei einer Familie ohne Kinder immer noch um 12 und bei Rentnerhaushalten um 17 Prozent. Gleichzeitig ist der reale Wert der Beihilfe pro Kind in den letzten fünf Jahren um 25 Prozent gesunken!10
An zweiter Stelle der Unzufriedenheitstabelle liegt die Rentenfrage. Nachdem die Lebenserwartung in den letzten fünfzehn Jahren deutlich gestiegen ist, hat in den letzten beiden Jahren die Zahl der Demonstrationen und Petitionen um ein Vielfaches zugenommen. Zudem sagen tschechische Demographen voraus, daß die Geburtenzahl erst im Jahre 2005 wieder ansteigen wird. Bis dahin, so der Direktor der Abteilung für Bevölkerungsfragen im Statistischen Amt (ČSU), könne der Mangel an Arbeitskräften nur durch Immigration aufgefangen werden, „aber das ist nicht wünschenswert“. Also kam der Vorschlag auf, das Pensionsalter heraufzusetzen, das derzeit für Männer bei 60 Jahren liegt, für Frauen dagegen zwischen 55 und 57 Jahren (je nach Zahl der Kinder); jetzt ist eine Altersgrenze von 62 Jahren für Männer bzw. 60 Jahren für Frauen im Gespräch.
Unmittelbar von dieser Maßnahme betroffen wären freilich genau die Jahrgänge, die noch die schlimmsten stalinistischen Stachanow-Zeiten (in den fünfziger Jahren) miterlebt haben. Die Gewerkschaften lehnen eine stufenweise Verlängerung der Lebensarbeitszeit nicht prinzipiell ab, doch fordern sie eine Garantie, sich auch für den Vorruhestand entscheiden zu können. Außerdem kritisieren sie die Verwaltung der Rentenkassen, die nach wie vor dem Staatshaushalt angegliedert sind: Man verdächtigt die Regierung, die Mittel anderweitig zu verwenden. Deshalb fordert man eine Kasse, die von allen drei einzahlenden Parteien verwaltet wird; auch dürften die Privatversicherungen nur eine Zusatzversicherung sein und die staatliche nicht ersetzen, die eine Minimalrente zu garantieren habe.
Für Jindřich Vodička, Minister für Arbeit und Sozialfragen, beweisen diese Unruhen nur, daß Tschechien den Anschluß an den „internationalen Standard“ gefunden habe. „Das Wichtigste ist, daß wir es geschafft haben, in den vergangenen fünf Jahren, während unser Land einen beispiellosen Transformationsprozeß in Angriff genommen hat, den sozialen Frieden zu wahren. Frieden heißt nicht einfach, daß keiner protestiert. Unter dem Kommunismus hatten wir eine absolute Gleichheit für alle, aber keine Verantwortung, keine Freiheit. Jeder glaubte, der Staat müsse sich um einen kümmern; jetzt muß sich jeder um sich selber kümmern. Alle sind frei.“ Solche dogmatischen Zuspitzungen, die wie eine Karikatur der neoliberalen Ideologie anmuten, dominieren heute die regierungsamtlichen Äußerungen. „Sie wollen die Rolle des Staates mindern“, bemerkt Richard Falbr ironisch, „sie wollen uns mehr Verantwortung aufladen, aber sie weigern sich, von der Macht auch nur einen Zipfel abzugeben. Wir befinden uns hier auf der letzten Insel des Thatcherismus in Europa.“
Doch erweist sich die tschechische Regierung – zweifellos aufgrund ihrer geringen Erfahrung mit sozialen Bewegungen – in der Praxis als verwundbarer als die Eiserne Lady. Kaum hatte Vodička erklärt, der Grundlohn im öffentlichen Dienst werde um nicht mehr als 10 Prozent angehoben, sah er sich schon mit dem Widerstand der Eisenbahner konfrontiert. Nebenbei war zu erfahren, daß der Minister ursprünglich eine Anhebung um 20 bis 25 Prozent geplant hatte (die Lebenshaltungskosten waren seit der letzten Angleichung um 17 Prozent gestiegen), doch dann aus Budgetgründen darauf verzichten mußte. Als jedoch die Eisenbahner ihren unbefristeten Streik ankündigten und der Regierung überdies ein Ultimatum stellten, mußte man verhandeln und sich schließlich auf eine stärkere Anhebung der Löhne einlassen. Eine Woche vor dem entscheidenden Datum war die Regierungskoalition gespalten: Der Minister für Transport und Verkehr war unschlüssig, der Premierminister sprach von Verhandlungen, und der Innenminister attackierte den „sozialen Terrorismus“ der Eisenbahner. Pressemeldungen zufolge hat Václav Klaus mit seinem Rücktritt drohen müssen, um seine Minister zu einem Kompromiß – eine Lohnerhöhung um 18 Prozent – mit den Gewerkschaften zu bewegen. Auf die Forderungen der Lehrer im August reagierte die Regierung ebenso unentschlossen, am Ende stand eine Lohnerhöhung von 16,5 (statt der geforderten 20) Prozent. Proteste dieser Art können um so erfolgreicher sein, als die Arbeitslosigkeit niedrig ist und die Regierung den ausländischen Investoren ein ruhiges und sicheres Land präsentieren will. Daß wichtige Termine näherrücken – die nächsten Parlamentswahlen sind für Juni 1996 angesetzt – macht die Dinge nicht einfacher. Ein Jahr ist eine kurze Zeit, wenn die Umfrageergebnisse nichts Gutes verheißen...
Zum ersten Mal seit drei Jahren nämlich wird die Parteienkoalition von Klaus ernsthaft von der linken Opposition bedrängt. Während in den Umfragen regelmäßig rund 26 Prozent der Wähler für seine Demokratische Bürgerpartei (ODS) optieren, verzeichnet die Sozialdemokratische Partei (ČSSD) innerhalb der letzten zwölf Monate einen konstanten Anstieg in der Wählergunst um zehn Prozentpunkte. Würden in diesem Herbst Wahlen stattfinden, käme sie auf 23 Prozent der Stimmen.11 Die anderen kleinen Parteien – der Koalition wie der Opposition – stagnieren oder gehen zurück. So könnte es passieren, daß auch die Bürgerlich-Demokratische Allianz (ODA), obwohl sie den sehr populären Industrieminister stellt, im Parlament wegen der 5-Prozent-Hürde nicht mehr vertreten sein wird.
Besteht auch für Václav Klaus die Gefahr, im kommenden Jahr seine Macht einzubüßen? In den Reihen der Sozialdemokraten scheinen dies einige zu glauben. Ihre Partei ist nicht eine umfrisierte Organisation ehemaliger Kommunisten, wie es gewisse Anhänger der Regierungskoalition so gern herumerzählen. Anders als in den Nachbarländern haben in Tschechien die Kommunisten sich selbst marginalisiert12; die Wirtschaftsnomenklatura ist bei den Parteien der Regierungskoalition untergekommen, vor allem bei der ODS und der ODA. Die Sozialdemokratische Partei (ČSSD) hingegen hat mit ihrer Neugründung 1990 das Erbe der Vorkriegs- Sozialdemokratie angetreten und versammelt in ihren Reihen sowohl alte Sozialisten, die den Kommunismus von jeher ablehnten, als auch einstige Reform-Kommunisten, die nach 1968 der Rückkehr zu den alten Verhältnissen zum Opfer gefallen waren13, sowie einige Abgeordnete, die nach Auflösung des Bürgerforums zu ihr stießen.
Zu letzteren gehört der ČSSD-Vorsitzende Miloš Zeman, dessen politische Laufbahn durchaus typisch ist. Er war 1968 der KPČ von Alexander Dubček beigetreten, 1970 aber schon wieder ausgeschlossen worden und hatte sich danach als Wirtschaftsfachmann der Forschung gewidmet. Als solcher blieb er in der „Grauzone“ (war also weder Dissident noch Stütze des Regimes); wurde dann aber als Gründer des Bürgerforums im Winter 1989 zu einer der populärsten Figuren. Die ČSSD ist Mitglied der Sozialistischen Internationale und hat ein Programm verabschiedet, das an die zentristische Entwicklung der britischen Labour Party erinnert. Der Partei fehlt es zweifellos an erfahrenen Führungskräften und Experten, doch in jüngster Zeit haben sich ihr mehrere ehemalige Minister aus den ersten nachkommunistischen Regierungen angeschlossen.
Wie auch immer, das Spiel ist völlig offen. Die Regierungsmannschaft hält einige Trümpfe in der Hand. Zwar haben einige Minister unzweifelhaft ihr Ansehen verspielt, doch Václav Klaus selbst verfügt über eine breite Basis im Lande. Er konnte sich im Inland wie im Ausland als Staatsmann profilieren und ist bei der Jugend ebenso populär wie in Wirtschaftskreisen. Seine Partei ist fest verankert, und seine Gegner vergleichen ihre Organisationsstrukturen gern mit denen der ehemaligen KP, insofern sie stark hierarchisiert und zentralisiert ist, ein ausgeprägtes Honoratiorenwesen pflegt und sich ständig bemüht, die Machtzentren vor allem gegenüber den Medien abzuschotten. Ein alter Apparatschik müßte bei aufmerksamer Betrachtung des politischen Lebens in Tschechien in der Tat ins Schwärmen geraten. Der Ministerpräsident, dem eigentlich Pragmatismus und taktische Fähigkeiten nachgesagt werden, kann auch überaus arrogant und autoritär auftreten. Und er verfügt über einen effizient arbeitenden politischen Apparat.
Natürlich sind die Sozialdemokraten schwächer und verfügen über weniger Macht. Doch auch sie sind bemüht, einen soliden Apparat aufzubauen, der über Schaltstellen in den Gewerkschaften, Gemeinden und Vereinen verfügt. Dennoch haben sie noch Schwierigkeiten: Ihr Programm ist noch zu allgemein, zu defensiv. Und vor allem ist nicht erkennbar, wie und mit wem sie regieren wollen. „Zwei Möglichkeiten sind für uns ausgeschlossen“, betont Parteisprecher Jiři Kanturek, „eine Allianz mit den Extremisten (ob Kommunisten oder Faschisten) und eine große Koalition mit der ODS.“ Bezeichnend für dieses Handicap bei der Partnersuche waren die Intrigen, die diesen Sommer abliefen, während die Sozialdemokraten in den Umfragen aufholten. Dennoch gibt sich Zeman ausgesprochen offen. Außerdem lassen sich einige interessante Entwicklungen beobachten: Der ehemalige Außenminister Jiři Dienstbier, der Präsident Havel nahesteht, versucht auf dem Gipfelpunkt seiner demoskopischen Popularität, die Sozialliberalen in einer neuen Partei zusammenzuführen; ein Ex-Premierminister macht sich offen anheischig, ein Mitte-Links-Bündnis zustandezubringen; und schließlich wählen die gemäßigtesten der Ex-Kommunisten (der Linksblock) einen neuen Ehrenvorsitzenden.
In Wahrheit akzentuiert sich über derlei polittaktisches Manövrieren in den Lagern der beiden wichtigsten Parteien eine deutliche soziale Polarisierung. Die ODS von Václav Klaus erzielt überdurchschnittliche Ergebnisse bei jungen Menschen, Unternehmern und hochqualifizierten Personen, besonders in Prag; bei den Anhängern der ČSSD von Miloš Zeman handelt es sich in der Regel um ältere Menschen, um Arbeiter oder Angestellte bzw. auch Rentner, die einen mittleren Ausbildungsgrad haben und überwiegend in Mähren und Nordböhmen zu Hause sind.14 Diese politische Konstellation wird, als Zerrbild wachsender sozialer Spannungen, die kommenden Monate beherrschen. Sie wird dazu beitragen – und zwar unabhängig von den Ergebnissen der kommenden Wahlen –, die Tschechische Republik auf den wahren „Standard“ Mitteleuropas festzulegen: eines Landes, das sich wie die anderen auch in Zukunft auf das Erwachen seiner Gesellschaft einzustellen hat.
dt. Eveline Passet
1 Brief vom 22. Juni an František Ružička, dem ich an dieser Stelle danken möchte, daß er mir seine beiden Filme und die Briefe , die dazu eingingen, gezeigt hat.
2 Siehe Jean-Yves Potel, „L'Europe centrale à la recherche d'une nouvelle cohésion“, in: Le Monde diplomatique, Oktober 1992.
3 Siehe Karel Bartak, „La déstruction de la Tchécoslovaquie“, in: Le Monde diplomatique, Januar 1993.
4 Gespräch in Industrie et Commerce tchèque, Juli 1995.
5 Deutschland stellt 37,7 Prozent des Investitionsvolumens, dicht gefolgt von Frankreich mit 35,6 Prozent. In großem Abstand folgen Italien (6,1 Prozent), Österreich (5,3 Prozent) und Großbritannien (4,9 Prozent). Die USA gehören in diesem Jahr nicht zu den bedeutenden Investoren. Vgl. Prag Info, Nr. 98, September 1995.
6 Colin Jones, The Banker, London, Februar 1995.
7 „Etude du marché du travail dans la République tchèque“, CCET, Publikation der OECD, Paris, Juli 1994, S. 29f.
8 Richard Portes, „Transformation Traps“, The Economic Journal, Oxford, September 1994.
9 So erhält das Kindergeld nur, wer nicht mehr als das 1,8fache dieses Existenzminimums verdient. Mutterschaftsgeld erhalten nur Frauen, die nicht mehr als das 2,5fache des Existenzminimums verdienen usw.
10 Stellungnahme des KDU-ČSL-Abgeordneten Jan Kasal am 4. Mai 1995 vor dem Tschechischen Parlament.
11 Die Erhebungen stammen von den beiden wichtigsten Meinungsforschungsinstituten IVVM und STEM.
12 Sie haben sich in vier Gruppen aufgesplittert, von denen zwei offen dem alten Regime (ja sogar Stalin) nachtrauern, während die beiden anderen eher „sozialdemokratischen“ Konzepten anhängen. Hierzu zählt der Linksblock; Zdeněk Mlynář, ein Mann von 1968, wurde kürzlich Ehrenvorsitzender dieser Partei. Eine detaillierte Analyse dieser Entwicklungen findet sich bei Karel Bartošek, „La spécificité des communistes tchèques“, in: La Nouvelle Alternative, Nr. 38, Juni 1995.
13 Nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch die Truppen des Warschauer Pakts und nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Rote Armee schloß die KPČ ungefähr 500000 ihrer Mitglieder aus der Partei aus. Manche dieser Ausgeschlossenen wurden inhaftiert, viele ihrer sozialen oder politischen Funktionen enthoben. Zu dieser „Normalisierung“ in den siebziger Jahren siehe Milan Šimečka, „Le rétablissement de l'ordre“, Paris, 1979.
14 Umfrage von Dr. Randlová, IVVM, Prag, August 1995.
* Mitarbeiter am Institut für Europäische Studien
der Universität Paris-VIII.