14.06.1996

Schon gleitet mein Nachen dahin, zwischen zehntausend Bergterrassen

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Schon gleitet mein Nachen dahin, zwischen zehntausend Bergterrassen

Von unserem

Korrespondenten

JEAN CHESNEAUX *

DIENSTAG, 8 Uhr. Morgendliches Einschiffen in Chongqing bei ohrenbetäubendem Dröhnen der Nebelhörner. Die Passagiere tappen unsicher über den abschüssigen Anleger, erklimmen die Gangway des Vierdeckschiffes „Nr. 55“, zögern aber, ihr Gepäck den aggressiven „Knüppelkulis“ anzuvertrauen – jenen armen Bauern, die sich zu Hunderttausenden in die Flußmetropole geflüchtet haben.

Chongqing entfernt sich schnell, versinkt in seinem gewohnten Nebel, und die Nr. 55 beginnt ihre Fahrt den Jangtse hinunter, der bereits hier, 2500 Kilometer vor seiner Mündung, durch seine Größe beeindruckt: Vereinzelt liegen kleine bewaldete Inseln in der lebhaften Strömung, bilden sich Strudel um einige knapp übers Wasser ragende Felsen, markieren Wirbel die abrupten Biegungen des Flusses, tanzen gelblich-braune Reflexe über den trüben, erdfarbenen Strom. Werden sich diese lebhaften Wassermassen, auf denen der Steuermann so geschickt manövriert, durch den geplanten Riesenstaudamm bändigen lassen? Der, im übrigen, wird das gesamte geschäftige Leben entlang des Flusses unter den Fluten begraben: die an den Hängen in Stufen angelegten Terrassenfelder, die Fähren und Brücken an den Zuflüssen, die an den Ufern gelegenen Gemüsefelder, die Siedlungen und Dörfer, die zum Wasser hin abfallenden Laderampen.

12 Uhr 15, erste Etappe, Fuling. Kulis mit nacktem Oberkörper, die Schultern durch grobes Segeltuch geschützt, brauchen mehr als zwei Stunden, um die zahllosen Kartons – zweifellos Produkte aus einer nahen Fabrik – zu verstauen.

Der Himmel bedeckt sich, Wind kommt auf, die Ufer kommen näher. Man ahnt gerade noch die sich unter der Wasseroberfläche abzeichnenden Riesenfische und auch die Pegelsteine aus der Zeit der Tang-Dynastie, die seit dem Jahr 763 die jeweils tiefsten Wasserstände markieren. Wir fahren an der elfstöckigen Pagode von Schibaozhai vorbei, die sich in die steilen Felshänge schmiegt. In der Ferne erscheint die Totenstadt Fengdu, berühmt wegen ihrer grausigen buddhistischen Reliefs.

18 Uhr 15, zweite Etappe, Zhongxian. Die Nacht bricht herein, hemmt aber die Schlepper und Lastkähne nicht in ihrer Fahrt, nicht die Fischerboote, die Passagierschiffe mit drei, vier oder fünf Decks und die Schnellboote, die in endlosen Kolonnen einander unentwegt kreuzen oder überholen. Die Scheinwerfer der Nr. 55 tasten über die lehmigen Fluten, die nun violett und rosa schimmern. Durch den Nebel erkennt man noch umrißhaft die Abstufungen ferner Hügelketten, doch die Ufer lassen sich nur dank einer Reihe von Leuchtbojen ausmachen, merkwürdige rote und grüne Leuchtkäfer, die auf der Wasseroberfläche zu gleiten scheinen.

21 Uhr 15, dritte Etappe, Wanxian. Die Nr. 55 wird hier bis zum nächsten Morgen haltmachen, denn durch die Drei Schluchten fährt man nicht bei Nacht. In einem wildem Getümmel stürzen mehr als tausend Wanderarbeiter aus den armen Landstrichen von Ostsetschuan mit ihren armseligen Bündeln über den Laufgang und suchen sich ihre Plätze in den Zwischendecks, unter Treppen, in den Gängen. Touristen, denen klimatisierte Kabinen und Hostessen mit geschlitzten Röcken auf schwimmenden Palästen lieber sind, werden dieses China niemals kennenlernen.

Mittwoch, 6 Uhr. Die Nr. 55 verläßt Wanxian noch vor Sonnenaufgang. Im Rhythmus der süßlichen Musik aus quäkenden Lautsprechern beginnt langsam das Leben an Bord unseres schwimmenden Mikrokosmos. Die Kabinenpassagiere begegnen sich im Salon auf dem Vorschiff, im nachmaoistischen China kommt man leicht ins Gespräch, auch mit den vier Franzosen und den fünf Japanern, die sich bei der Abfahrt noch etwas verloren vorkamen.

Diese kleine privilegierte Welt kommt kaum mit den vielen hundert Passagieren aus dem Schlafsaal mit harten Pritschen in Berührung. Und noch weniger – außer wenn man zum hinteren Speisesaal will und über die vielen Leiber vorsichtig hinwegsteigen muß – mit den elenden Wanderarbeitern in den Zwischendecks, die in Wanxian an Bord gekommen sind. Nur eine einfache Schwingtür trennt diese von den mit Teppichboden ausgelegten Gängen zu den Kabinen, aber sie wird zu einer unsichtbaren sozialen Membran, die genauso gebieterisch ist wie die, welche in Buñuels Film „Der Würgeengel“ den Salon teilt. Obwohl sie so leicht zu passieren wäre, wird diese Grenze weder tags noch nachts überschritten. Ewige Resignation der Verlierer im jetzt „offenen“ China ...

Es sind wenigstens tausend Passagiere zuviel an Bord. Die Nr. 55 könnte auch eine überladene Fähre oder ein Lastenfloß auf den Philippinen oder in Lateinamerika sein.

9 Uhr 15, vierte Etappe, Fengjie und Baidi. Der Jangtse ist ein jahrtausendealter kultureller Ort. An der Felswand grüßt eine riesige antike Inschrift mit vier Schriftzeichen „den reinen Wind, der den Fluß hinaufweht“ (Jiang shang, feng qing). Wir kommen gerade am Tempel von Zhang Fei vorbei, dem Helden aus der Sage von den „Drei Königreichen“: Man hat vor, ihn flußabwärts genau so wiederaufzubauen, denn der Staudamm wird ihn verschlingen. Hier in Baidi, das der große Dichter der Tang-Ära, Du Fu, besingt, fand Liu Bei, der andere Held der „Drei Königreiche“, den Tod.

Und schon erreichen wir Qu Tang, die mit acht Kilometern kürzeste, aber auch engste und schroffste Schlucht des Flusses. Die Nr. 55 wirkt winzig zwischen den wie mit der Axt gehauenen Abhängen, die manchmal einen Kilometer senkrecht in die Höhe steigen. Der Wind verfängt sich in dem engen Durchstich, an dem sich eine Straße tollkühn entlangschlängelt, lächerlich fast mit den schwankenden Überlandbussen und winzigen weißen Tupfern, den Hemden der Fahrradfahrer.

An Bord, und das ist in China sehr außergewöhnlich, verbergen die Passagiere nicht ihre Erregung. Man ruft sich zu, fotografiert sich, geht von einer Seite auf die andere, um die Aussicht zu vergleichen. Nur die ganz Unbeirrbaren schließen sich in ihre Kabinen ein, als ob sie ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Schluchten demonstrieren wollten. Ob sie wohl „für den Damm“ sind?

10 Uhr 50, fünfte Etappe, Wushan. Hier ist der Eingang zum großen Einschnitt der zweiten Schlucht, die fünfundvierzig Kilometer lang ist. Mächtige Felsmassen, zwischen die sich die anmutige freistehende Säule der Xian-Nu-feng („Spitze der Geistfrau“) mogelt, beherrschen die nun äußerst wild gewordenen bernsteinfarbenen Strudel. Ängstlich drücken sich die kleinen lokalen Lastkähne so nah wie möglich ans Ufer.

In meinem Block finde ich einen Vierzeiler des Dichters Li Bai wieder, den mir ein Intellektueller aus Sian im Zug von Peking in Erinnerung an seine eigene Fahrt in die Drei Schluchten aufgeschrieben hatte: „Im Morgengraun verlass' ich Baii, gehüllt in vielbunte Wolken ,/ Zurückzukehren nach Jiangling: ein Tag und tausend Stadien. / Affen rufen in einem fort, von einem Ufer zum andern; / Schon gleitet mein Nachen dahin, zwischen zehntausend Bergterrassen.“

Er jedenfalls hat mit seiner Gegnerschaft zum Staudammprojekt nicht hinter dem Berg gehalten ...

13 Uhr, sechste Etappe, Badong. Rasch fahren wir in die dritte Schlucht ein, die von Xiling. Diese längste (70 Kilometer) besteht eigentlich aus zwei steilen Engpässen, die von einem niedrigeren Teil getrennt werden, ebenjenem Ort, an dem die künftige Staumauer stehen soll.

Am Ufer eine eigenwillige Parole in riesigen Schriftzeichen: „Setzen wir uns in den Drei Schluchten fest, um den Großen Fluß zu entwickeln“ (Jianshi san jia, gaifa chang jiang).

Die Arbeiten haben bereits begonnen, auf der pharaonisch anmutenden Baustelle krabbelt es in alle Richtungen, ein emsiger Ameisenhaufen – dieser arg abgenutzte Allgemeinplatz, hier stimmt er wieder.

Über Kilometer hinweg ziehen sich Schlangen von Lastwagen und Bussen, Brennstofftanks, Zufahrtsstraßen, Behelfsbrücken, betonierte Böschungen, lange Barackenreihen, schwere Maschinen. Ein wenig unwirklich wirkt eine „Affenbrücke“ aus Metallteilen auf riesigen Masten, auf der winzige schemenhafte Gestalten von einer Seite des Flusses zur anderen gehen, so hoch, so fern, daß sie fast unbeweglich scheinen.

Die Staumauer (pa) wirft vier große Problemfelder auf:

– ökologisch: Kann man das Wassernetz des zentralen Jangtse einschließlich der Nebenflüsse, die so lebenswichtig für diesen Teil Chinas sind, derart umgestalten? Wie wird der Fluß reagieren, vor allem in Hinblick auf die riesigen Geröllmassen, die er mit sich führt?

– wirtschaftlich: Wird die angekündigte Energieausbeute die enormen Kosten ausgleichen, die durch den Umfang des Projekts anfallen? Hätten nicht zehn Staudämme mittlerer Größe mit derselben Elektrizitätsleistung weniger Geld gekostet?

– kulturell: Die chinesische Identität ist über Jahrtausende zutiefst mit der Geschichte verbunden. Doch die Anhebung des Flußniveaus (bis auf 110 Meter) wird mehr als tausend Kultstätten und Denkmäler für immer verschlingen, deren Rettung mit riesigen Kosten verbunden wäre.

– sozial: Mindestens eine Million Menschen müssen umgesiedelt, aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden, mit allen Folgen sozialer und moralischer Entwurzelung.

Selbst wenn das China des autoritären Neokapitalismus, für das Singapur mehr noch als Hongkong Modellcharakter hat, all das kaum demokratisch diskutiert hat, geht man in Peking immer ungenierter dazu über, eine fünfte Frage aufzuwerfen, welche die anderen vier Fragen hinfällig machen würde: Ist das Ganze letztlich nicht eine politische Angelegenheit? Ist der jangtse pa nicht eine Kraftprobe, durch die ein an der Macht befindlicher Premierminister, der nicht allzu fest im Sattel sitzt, den Versuch unternimmt, diese Macht in Beton in eine geschichtsträchtige Landschaft festzuschreiben? Daß dieser Premierminister früher einmal eine Ausbildung zum Ingenieur für Wasserbau absolviert haben soll, könnte ihn geradezu in diese Richtung gedrängt haben. So munkelt man, daß die Arbeiten sich ganz von selbst sehr verlangsamen oder sogar eingestellt werden könnten, wenn jene Veränderungen an der Regierungsspitze eintreten, von denen man vermutet, daß sie nahe bevorstehen.

19 Uhr, siebte Etappe, Yichang. Als es dunkel wird, passieren wir die alte Staustufe von Gezhou, die in den siebziger Jahren gebaut wurde. Von den vier Decks recken sich Hunderte Köpfe, fasziniert von der ungewohnten Abwärtsbewegung des Schiffes. Viele rauchen, und die dicken Schwaden, die sich im Licht der Scheinwerfer kräuseln, beweisen, daß die Antiraucherbewegung in China noch nicht viele Anhänger hat.

Donnerstag, achte Etappe, Shashi. Mitten in der Nacht hat wie auf den anderen Etappen erneut das Ballett der segeltuchbewehrten Kulis begonnen; diesmal werden dicke Reissäcke geladen.

Das empfindliche soziologische Wehr, das quer durch die Nr. 55 verläuft, hat gehalten. Die Wanderarbeiter ohne Besitz und Zukunft, manche richtige Landstreicher, respektieren weiter die einfache, unverschlossene Tür, die sie von den Privilegierten im Vorschiff trennt. Dieser „zweite Staudamm des Jangtse“, der Menschen-, nicht Wassermassen bändigen soll, ist vielleicht ebenso bezeichnend für die chinesische Wirklichkeit unter Deng wie der erste.

11 Uhr, neunte Etappe, Yueyang. Während die Kabinenpassagiere davon sprechen, mit dem Bus eine berühmte Gruppe von Pavillons aus der Song-Epoche zu besuchen, strömt plötzlich die geballte Menge der Wanderarbeiter aus den Zwischendecks, als würden sie von einem riesigen Staubsauger angesogen. Wir sind am südlichsten Punkt unserer Reise angelangt, an der großen Achse Peking- Wuhan-Kanton-Hongkong. Wo hoffen diese Menschen anzukommen?

20 Uhr, zehnte und letzte Etappe, Wuhan. Den ganzen Nachmittag über haben wir die endlose Ebene des mittleren Jangtse durchfahren. Der Horizont ist leer. Das Schiff bewegt sich im Nebel, China bewegt sich im Nebel.

Nachdem man sich von den Mitreisenden des Vorschiffsalons verabschiedet hat, geht man in der riesigen, so chinesischen Stadt Wuhan von Bord, hinein in die nächtliche lärmende, wogende Menge.

dt. Christophe Zerpka

* Emeritierter Professor der Universität Paris VII.

Le Monde diplomatique vom 14.06.1996, von Jean Chesneaux