16.08.1996

Besuch bei den Häftlingen von Sabaneta

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Besuch bei den Häftlingen von Sabaneta

IMMER wieder prangern die Menschenrechtsorganisationen und insbesondere das Observatoire international des prisons in Paris die furchtbaren Haftbedingungen in venezolanischen Gefängnissen an. Präsident Rafael Caldera wird scharf kritisiert, weil er keine Maßnahmen getroffen hat, um die Aufstände zu verhindern, die in einigen Gefängnissen zu blutigen Massakern führten. Eines davon ist Sabaneta in der Stadt Maracaibo.

Von unserem Korrespondenten ANTOINE DE TOURNEMIRE *

„Willkommen im Gefängnis der Hölle“ ruft ein Soldat der Nationalgarde. Seine Augen wirken in der Sonne wie kleine Schlitze; Maracaibo, die Hauptstadt von Zulia, dem reichsten Bundesstaat Venezuelas, ist auch die Hauptstadt des Öls und der Hitze. Und sie ist berüchtigt für die Gewalt, die in ihrem Gefängnis Sabaneta herrscht. Als 1958 die ersten Wachtürme aus dem Boden wuchsen, glaubte man noch, hier werde zugleich mit der Wiederherstellung der Demokratie ein „vorbildliches Gefängnis“ entstehen.

Am 3. Januar 1994 ereignete sich in diesem Gefängnis ein schreckliches Massaker, obwohl es unter der Aufsicht des Militärs steht. Bei einem Bandenkrieg kamen mindestens 106 Menschen ums Leben: Sie wurden erschossen, erstickten, wurden enthauptet oder verbrannten bei lebendigem Leibe. Erst vier Stunden nach Ausbruch des Feuers, das durch reichliche Mengen von Benzin entfacht worden war, schlugen die Wächter Alarm.

„Als wir, von der schwarzen Wolke über dem Gefängnis angezogen, vor Ort eintrafen, wies uns der Kommandeur der Nationalgarde zurück und behauptete, die Gefangenen hätten nur die Abfalleimer angezündet“, erinnert sich Giovanni Esposito, Journalist beim Sender Venevision. „Doch drei Wochen später wurden der Gefängnisdirektor und der Kommandeur der Nationalgarde für das Massaker verantwortlich gemacht und festgenommen.“

Wenn man heute, mehr als zwei Jahre nach diesem Massaker, das das gesamte Land in Schrecken versetzte, einen der Gefängnisaufseher fragt, ob die Gefangenen Feuerwaffen besitzen, dann lacht er und bejaht. Jede Woche werden Dutzende Waffen entdeckt. Ein vor kurzem ausgestrahlter Videofilm, in dem ein Wärter dabei überrascht wird, wie er einem Häftling eine Granate verkauft, bestätigte die schlimmsten Befürchtungen.

Der neue Direktor Giancarlo Di Martino hat die Zeit seit seinem Dienstantritt in Sabaneta genutzt:

„Wir haben alles frisch gestrichen, die Beleuchtung und das Essen verbessert; auch die Wachtürme, die sie dort sehen, sind neu.“

„Und außerdem“, so erklärt er abschließend, „haben wir mit dem Bulldozer die Vorzugszellen niedergerissen.“ Mit diesem administrativen Euphemismus sind die wohnlich ausgestatteten Räume der Drogenbosse gemeint, die über Klimaanlagen und modernen Komfort verfügen. Doch insgesamt wären mindestens eine Million Bolivar (ungefähr 8 Millionen Mark) nötig, um Sabaneta in ein Gefängnis mit etwas menschenwürdigeren Haftbedingungen zu verwandeln.

Giancarlo Di Martino, ein promovierter Kriminologe, hat zweifellos zur Veränderung der Atmosphäre im Gefängnis beigetragen. Es herrschen merklich ruhigere Verhältnisse. Von den 79 Morden des Jahres 1993 ist man weit entfernt; im Augenblick „sind es nur acht“.

Ein Erfolg, der durch die Auswirkungen einer Schlägerei unter rivalisierenden Banden gemindert wird, die am 27. April 1995 vier Tote und vier Verletzte forderte, sowie durch einen kürzlich entdeckten, von Häftlingen gegrabenen Tunnel. „Nach dieser Entdeckung“, erzählt Giovanni Esposito, „ist der ,Verräter‘ ermordet worden. Man könnte das vielleicht für ein ,banales‘ Verbrechen halten, wenn nicht die Verwaltung fast eine Woche gebraucht hätte, um das Verschwinden des Mannes zu bemerken. Man hatte seinen Körper vor aller Augen einfach im Gefängnis verscharrt.“

Sabaneta ist bei weitem nicht das einzige Horrorgefängnis Venezuelas. Das Land hat große Probleme mit seinen zweiunddreißig Haftanstalten: 1993 kam es dort zu 600 Toten und 6000 Verletzten, 1995 waren es immer noch 299 Tote – ein trauriger Rekord in Lateinamerika.

Wie viele Menschen sind in den dantesken Zellen Sabanetas, die für achthundert Gefangene vorgesehen sind, zusammengepfercht? „Ungefähr 2500“, behauptet Kommandant Russel von der Nationalgarde. „Fast 3000“ schätzt Angel Colina, ein Beamter des Justizministeriums. In der Kunst, sich nicht festzulegen, übte man sich auch, als es darum ging, die Toten des Aufruhrs von 1994 zu zählen und zu identifizieren.

Sonntags wird den Frauen und Kindern der Gefangenen Zugang zum Hof des Gefängnisses gewährt. Der „Hof“ ist ein mit Abfällen übersätes, ödes Gelände, wo die Wäsche trocknet und Hühner in der ausgedörrten Erde herumpicken. Am Eingang wird jeder eingetragen und durchsucht, manchmal bis auf die Haut. Doch von einem Metalldetektor, wie ihn Fachleute empfehlen, keine Spur. Kommandant Russel, seine Uzi-Maschinenpistole über die Schulter gehängt, verweist auf den Personalmangel. „Wir können nicht jeden kontrollieren, der hereinkommt, wir durchsuchen nur die verdächtigen Personen“. Mit Nachdruck fügt er hinzu: „Es ist nicht Aufgabe der Nationalgarde, im Gefängnis einzugreifen. Wir sind lediglich dazu da, die Bevölkerung vor Übergriffen zu schützen, die von ausgebrochenen Gefangenen verübt werden könnten.“

Die vierundzwanzigjährige Sarah steht in der Warteschlange. Sie will ihrem Onkel Brot und Getränke bringen: „Er verbüßt eine Strafe von zwölf Jahren für einen bewaffneten Raubüberfall“, gesteht die junge Frau und verzieht dabei leicht das Gesicht. Der Gefangene wird diese Päckchen, die „von draußen“ kommen, im Gefängnis wieder verkaufen. Eine andere Frau bringt ihrem Mann Leder. Im Tausch dafür bekommt sie die in der Zelle angefertigten Brieftaschen, Taschen und Nippsachen und verkauft sie anschließend auf dem Markt. In Sabaneta können die Gefangenen ihre Familien weiter unterhalten, während sie ihre Strafe verbüßen, denn handwerkliche und geschäftliche Tätigkeiten werden hier geduldet.

Die Gefangenen haben sogar innerhalb des Gefängnisses eigene kleine Läden eröffnet und Werkstätten eingerichtet. Die Gefängnisleitung drückt ein Auge zu. Deshalb gibt es hier fast alles: einfache Restaurants, kleine Lebensmittelgeschäfte, eine Schuhmacherei, eine Tischlerei, eine Hühnerzucht, Katzen und sogar einen Hund, Gasolina, der Zerberus der Strafanstalt.

„Haben Sie keine Angst, hier geht es zu wie auf einem Dorf“, sagt ein Aufseher. Doch es sind bereits mehrere Besucher vor den Augen der Wärter ermordet worden. Trotz der Decken und bunten Handtücher, die die Wände verkleiden wie auf einem großen arabischen Markt und die Gefangenen vor indiskreten Blicken schützen, kann der Besucher hören, wie sie die Fernsehsendungen kommentieren. Der Aufseher erklärt: „Die Gefangenen besitzen auch Kassettenrekorder, Hi-Fi- Anlagen, Kochplatten und Ventilatoren. Vorausgesetzt, sie werden ihnen von ihrer Familie gebracht.“ Aber all das ist nur die äußere Fassade eines lärmenden „Stadtviertels“, in dem allwöchentlich Waffen gefunden werden. Wie gelangen sie hinein? „Betriebsgeheimnis“, murmelt der Beamte.

Auf der anderen Seite des Stacheldrahtes, einen Steinwurf vom Gefängnis entfernt, warten drei Gestalten in T-Shirts, die Ray-Ban-Brillen auf den Nasen, im Schatten eines Kiosks. Auch sie nutzen diesen Tag, um ihrem kleinen Bruder Geschenke zu bringen: „Alfredo ist neunzehn. Er sitzt hier, weil er einen gefälschten Ausweis des Innenministeriums benutzt hat“, erzählen sie. „Er ist bei einer Razzia in einer Diskothek festgenommen worden. Er wußte gar nicht, wie bedeutend dieser Ausweis war. Jetzt wartet er seit vierzehn Tagen auf seinen Prozeß. Einige Anwälte haben uns angeboten, gegen 20000 Bolivar seine Akte ganz oben auf den Stapel zu legen. Als er ins Gefängnis eingeliefert wurde, hat man ihn erst mal „angetestet“, doch einer der Bosse hat ihn sofort beschützt: er weiß, daß unser Bruder aus einer ,guten Familie‘ stammt und daß er immer auf uns zählen kann.“

Zwar sind die Gerichte nach dem Gesetz verpflichtet, den Angeklagten innerhalb von acht Monaten den Prozeß zu machen, doch die Realität sieht anders aus. Di Martino macht kein Geheimnis daraus: „Von den 1200 Häftlingen im Block für normale Straftäter warten 70 Prozent immer noch auf ihren Prozeß. 15 Prozent von ihnen sitzen wegen minderen Straftaten ein. Sie kommen hier erst heraus, wenn die Gerichte endlich ihre Arbeit tun.“ Hungerstreiks gegen die Untätigkeit der Gerichte sind an der Tagesordnung. Viele Gefangene sind kraft des „Landstreichergesetzes“ verhaftet worden: Personen, die keine Arbeit oder keinen Wohnsitz nachweisen können, werden festgenommen und dürfen ohne Prozeß bis zu einem Zeitraum von fünf Jahren festgehalten werden.

Die chaotische Situation wird durch die Zusammenlegung von Angeklagten und Verurteilten noch verschärft. Nach Schätzung des Spezialisten Elio Gómez Grillo ist landesweit weniger als ein Drittel der 25000 Inhaftierten verurteilt worden. Diese Zahl von 25000 muß im Vergleich zu den 15000 Plätzen gesehen werden, über die die Gefängnisse verfügen. „Diese unerträgliche Überbelegung“, fügt der Experte hinzu, „ist einer der Gründe für die Aufstände.“

Zwar bildet der Block für normale Straftäter den Kern des „Dorfes“, doch sind auch die anderen Häuser unübersehbar: das der Homosexuellen, der Katholiken, der Kolumbianer, der Evangelisten sowie die „Residenz“, in der (unter besseren Bedingungen) die ehemaligen Beamten untergebracht sind. Darüber hinaus befindet sich abseits der Gebäude auch eine „Krankenstation“, in der achtundsechzig Unglückliche wohnen, die um keinen Preis zu denen zurückkehren wollen, die sie als ihre Feinde bezeichnen. In der großen Gefängniszelle mit ihren dunklen, bröckelnden Mauern fallen sie sich gegenseitig ins Wort, um zu erklären: „Wir haben hier zwar weniger Platz, aber wir wollen unsere Ruhe haben: Hier gibt es keine Schlägereien.“ Ein großer Farbiger nähert sich unter allgemeinem Gelächter dem Gitter. Er heißt Edison und könnte seit zwei Jahren hinaus, doch er zieht es vor, im Gefängnis zu bleiben. Er ist kein Einzelfall.

Im letzten Kreis der Hölle leben die Indianer. Die Guajiros befinden sich hinter einer Mauer, die nach dem Massaker von 1994, für das man ihnen die Schuld gibt, errichtet wurde. Offiziell ist dieser Bereich für „Umerziehungsmaßnahmen“ vorgesehen, doch in Wahrheit dient er zur Absonderung der Indianer. Auch wenn hier auf den ersten Blick eine ruhige Stimmung zu herrschen scheint, ist es für die Indianer doch besonders hart in Sabaneta. Drei Männer, die von den anderen ermutigt werden, ergreifen das Wort. Die Gefangenen sind hier, wie im „Straf“-Block, im Durchschnitt dreißig Jahre alt. Sie sprechen sehr laut: „Man muß vorsichtig sein“, warnt einer von ihnen, „wenn die Nationalgarde eine Razzia macht, geht das immer böse aus: Sie stehlen unser Essen und schlagen unsere Fernseher und unsere Ventilatoren kaputt.“ Ein anderer macht sich zum Fürsprecher für einen seiner Leidensgenossen, dessen Ellbogen stark angeschwollen ist: „Er leidet jetzt schon seit neun Monaten, aber er wird nicht behandelt. Es gibt keine Medikamente. Man muß sie draußen kaufen, und um sie hereinzuschmuggeln, muß man obendrein die Nationalgarde schmieren.“ Die Stimmen werden lauter: „Die Bedingungen hier sind einfach zu hart. Sie machen uns erst recht gewalttätig.“

dt. Kora Perle

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 16.08.1996, von Antoine de Tournemire