13.09.1996

Die europäische Arktis im Kalten Frieden

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Die europäische Arktis im Kalten Frieden

Vor drei Jahren taten sich Russen, Norweger, Finnen und Schweden zusammen und riefen den Barentsrat ins Leben. Durch diese Initiative entstand im Nordosten Europas eine neue regionale Zusammengehörigkeit. Doch die drängenden geopolitischen Probleme der ehemaligen Sowjetrepublik Karelien lassen alle weiteren Fragen derzeit in den Hintergrund treten. Im Vordergrund der aktuellen Krisensituation steht der fortgesetzte lautlose Krieg um militärische Aufklärung und nukleare Abschreckung, den sich Moskau nd Wangton unter dem nordpolaren Packeis unverändert liefern. Stille Zeugen dieses Konflikts sind die verseuchten atombetriebenen Eisbrecher im Hafen von Atomflot und die Deponien für radioaktiven Müll, die von den Atom-U-Booten im Liznaja Fjord herrühren. Die transpolare Konfrontation hat nach dem Ende des Kalten Krieges nicht an Schärfe verloren, und so wächst inzwischen die Unruhe der Skandinavier, die endlich eine „Friedensdividende“ für sich verbuchen wollen.  ■ Von ERLENDS CALABUIG ODINS

DER Schnellzug Arktika fährt in den Bahnhof von Petrosawodsk ein. An den Ufern des Onegasees zeugen die Kanonen Peters des Großen noch heute von der Heftigkeit der kriegerischen Auseinandersetzungen, die in Karelien einst tobten. Fünfhundert Jahre lang stritten sich das zaristische Rußland und das Königreich Schweden um die Vorherrschaft über dieses Gebiet. Später setzten die Republik Finnland und Sowjetrußland diesen unerbittlichen Krieg fort – bis 1947. Nicht weniger als neun Friedensverträge wurden über die Jahrzehnte hinweg geschlossen, die Grenze jeweils neu gezogen und die verschiedenen Völker – Karelier, Finnen, Wepsen, Russen, Belorussen und Ukrainer – je nach Laune der Geschichte hin und her geschoben.

„Wir sind allesamt Deportierte“, erklärt Shukka. Er ist ein Nachfahre jener „roten Finnen“, die 1918 aus den USA kamen, um den sowjetischen Sozialismus aufzubauen, und die Opfer der Stalinschen Säuberungen wurden. Den Präsidenten der russischen Republik Karelien, Wiktor Stepanow, drängt es, endlich mit der Geschichte reinen Tisch zu machen: „Es ist an der Zeit, die Grenzen zu überwinden. Die Barentsregion hat heute die Aufgabe, die Völker zusammenzuführen, die hier, an der Grenze zwischen Rußland und Skandinavien, durch den Krieg auseinandergerissen wurden. In den kommenden drei Jahren werden fünf neue Grenzübergänge eröffnet, so daß es dann insgesamt sieben gibt. Bald kann man die finnisch- russische Grenze genauso einfach passieren wie die innerskandinavischen Grenzen.“

Der Barentsrat wurde im Januar 1993 auf Initiative Norwegens ins Leben gerufen. Drei russische Regionen (die Republik Karelien, das Gebiet Murmansk und das Gebiet Archangelsk), drei norwegische (die Provinzen Finnmark, Troms und Nordland), eine finnische (die Provinz Lappland) und eine schwedische (der Bezirk Norrbottens Län) bilden das Regionalkomitee des Rates. Nachdem im Januar 1995 Finnland und Schweden der Europäischen Union beigetreten sind, entwickeln nun die politischen Entscheidungsträger in Karelien neue Ziele: „Karelien ist der größte Verbindungsweg zwischen der EU und Rußland und zugleich eine Nahtstelle zwischen geopolitischen Blöcken“, lautet die Analyse Waleri Schljamins, des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Karelien. „Petrosawodsk ist der Hafen der fünf Meere. Im Südwesten verbindet ein Flußsystem den Onegasee mit dem Ladogasee, der seinerseits über die Newa mit der Ostsee verbunden ist. Im Nordosten besteht vom Onegasee über den Weißmeerkanal Zugang zur Barentssee. Im Südosten führt ein Kanalsystem vom Onegasee über den Belojesee und den Rybinsker Stausee bis zur Wolga, die ins Kaspische Meer mündet und über das auch ein Zugang zum Schwarzen Meer besteht.

Mehrere an der Peripherie gelegene russische Republiken und Gebiete beanspruchen die Rolle, für den entstehenden Markt im Innern Rußlands eine Art Vorhof zu bilden. Karelien hält dabei einige Trümpfe in der Hand – vor allem sozialen Frieden und politische Stabilität. Als sich 1990 die russischen autonomen Republiken – allen voran Tschetschenien und Tatarstan – von Rußland zu trennen begannen, blieb Karelien der Föderation treu.

Die westlichen Investoren wußten dies zu schätzen: „Mehr als vierzig Länder haben in Karelien Joint-ventures gegründet“, bemerkt der karelische stellvertretende Premierminister Sergej Jaskunow nicht ohne Freude. „Insgesamt gibt es bei uns 411 Gemeinschaftsunternehmen: 230 finnische, 24 nordamerikanische und 20 deutsche, ferner schwedische, norwegische, türkische, spanische, italienische und ... zwei französische.“

Der Ängstlichkeit der französischen Investoren diametral entgegengesetzt ist die Wirtschaftsaktivität der Finnen: „Das ist unsere Art, die Grenze zu beseitigen“, meint Kari, ein finnischer Jungunternehmer in den Dreißigern. Sein Großvater stammt aus Sortawala im „verlorenen Karelien“1. Er gehörte zu den rund 420000 Kareliern, die nach dem Krieg nach Finnland evakuiert wurden. „Eines Tages wird der Unterschied zwischen dem russischen und dem finnischen Karelien verschwunden sein, und die Nationalität wird keine Bedeutung mehr haben“, hofft Kari.

Symbol für diese Zusammenarbeit neuen Typs ist das wenige Kilometer vor der finnisch-russischen Grenze, in Kostomukscha, gelegene bedeutendste Hüttenkombinat. Die hiesigen Arbeiter sind nachgerade privilegiert. Die von Finnen erbaute Fabrik ebenso wie die Stadt unterscheiden sich wie Tag und Nacht von den heruntergekommenen Gebäuden aus der Sowjetzeit. Die Vegetation wurde nicht zerstört, das Einkaufszentrum erinnert an einen westlichen Supermarkt, die offizielle Beschilderung erfolgt in Russisch und Finnisch, der kleine Grenzhandel sprießt und gedeiht.

Die Nato wird wieder interessant

DIE bilateralen Beziehungen zwischen dem russischen Goliath und dem norwegischen David sind heikel. Rußland hofiert dieses „kleine“ Nato-Land, um seinen Ansichten bei der Nordatlantischen Allianz Gehör zu verschaffen, ohne den Weg über Washington nehmen zu müssen. Doch der Dialog zwischen den beiden „Polnachbarn“ scheitert an der Neuaufteilung der Hoheitsgewässer in der Barentssee. „Zwei Theorien, wie das Gebiet aufzuteilen sei, stoßen hier aufeinander“, erläutert Lars Kullerud, Leiter des norwegischen Polarprogramms Global Resource Information Database (GRID)-Arendal. „Rußland stützt sich bei der Festlegung der 200-Meilen-Zone exklusiver Ausbeutungsrechte auf die Theorie der Sektoren und wählt dafür einen Grenzlängengrad, der bis zum Nordpol führt. Die Norweger wenden das Prinzip der Abstandsgleichheit an, das heißt, sie zeichnen eine Seitenhalbierende, die zwischen den benachbarten Archipelen verläuft, ohne je den russischen Längengrad zu berühren.“ Das umstrittene Gebiet, 150000 Quadratkilometer, gelegen zwischen den Inseln Svalbard auf der einen und Franz-Josef-Land und Nowaja Semlja auf der anderen Seite, entzweit Moskau und Oslo seit gut dreißig Jahren. Daß der Dialog bis heute nicht zustande kommt, erklärt sich durch die bedeutenden Gas- und Erdölvorkommen, die in dieser „Grauzone“ liegen.

Die Neubestimmung der militärischen Allianzen in Nordeuropa ist für die westlichen Regierungen ein heikles strategisches Problem.6 Der Beitritt Schwedens und Finnlands zur Europäischen Union hat den Neutralitätsstatus der beiden Länder gemindert und das sakrosankte „nordische Gleichgewicht“ erschüttert, das bislang die Stabilität Skandinaviens gegenüber der UdSSR garantierte. In der neuen Konstellation gehört nun Dänemark der EU und der Nato an, Norwegen hingegen zwar der Nato, jedoch nicht der EU, und Schweden und Finnland sind EU-, aber nicht Nato-Mitglieder. Überdies will die EU die Rolle der Westeuropäischen Union (WEU) erweitern, so daß EU und Nato in der Frage konkurrieren, wer die Sicherheit des alten Kontinents gewährleisten soll.

Die Norweger, die durch das Referendum 1994 vor den Toren der EU geblieben sind, möchten ihre nordischen Partner gern erneut unter einer Flagge vereinen: „Für unsere eigenen Beziehungen mit Rußland sind die strategischen Entscheidungen Schwedens und Finnlands innerhalb der Europäischen Union ausschlaggebend“, hört man halblaut aus dem norwegischen Verteidigungsministerium. „Wir glauben nicht, daß die WEU eine taugliche Ersatzlösung für die Nato wäre. Schweden und Finnland werden uns schließlich doch in die Nato folgen, und zwar schneller, als man glaubt.“

In Helsinki scheint man es allerdings nicht so eilig zu haben. „Ein Beitritt Finnlands zur Nato wäre nicht die beste Lösung und würde die Sicherheit in Nordeuropa gefährden“, meint Pasi Patokallio, stellvertretender Leiter für Politische Angelegenheiten des finnischen Außenministeriums. „Die entscheidende Frage ist, wie wir jetzt, nach dem Ende des Kalten Krieges, die beste Sicherheit erlangen. Weshalb die Nato endlos erweitern? Mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) existiert bereits ein multilaterales Entscheidungsgremium. Im übrigen wird die Frage einer Erweiterung des Atlantischen Bündnisses endgültig jeden Sinn verlieren, wenn sich in Rußland eine wirkliche Demokratie durchgesetzt hat.“

Dessenungeachtet bestimmt die Nähe des mächtigen russischen Nachbarn unvermindert die finnische Außenpolitik. Im Januar 1992 kündigte Helsinki zwar einseitig den Beistandspakt auf, den Finnland und Rußland 1948 für den Fall einer Aggression, die von Deutschland oder dessen Verbündeten ausginge, geschlossen hatten, doch nach wie vor bleibt diplomatisches Feingefühl gegenüber Moskau oberstes Gebot.

Mehrmals mußte der finnische Präsident Martti Ahtisaari Finnlands Neutralität unterstreichen, um den Kreml zu beruhigen. Gleichwohl wird die Frage öffentlich debattiert. Auch wenn sich erst kürzlich in einer Umfrage 59% der Finnen gegen einen Nato-Beitritt aussprachen7, so sind doch in dieser Frage die politischen Kreise mehr und mehr gespalten. Als Beispiel wäre Max Jakobson zu nennen – ehemals zusammen mit dem damaligen Präsidenten Kekkonen ein Architekt der finnischen Neutralität –, der nun ein leidenschaftliches Plädoyer zugunsten der Nato veröffentlicht hat: „Wir haben es in Bosnien gesehen – die Vereinigten Staaten und die Nordatlantische Allianz sind die einzigen Garanten der Sicherheit in Europa. Daß Frankreich seine Zusammenarbeit mit der Nato wiederaufgenommen hat, ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlußreich. Nach dem Beitritt der Länder Mitteleuropas wird Österreich von Nato-Mitgliedsstaaten umgeben sein und seinerseits die Aufnahme beantragen. Schweden und Finnland werden folgen, und es ist undenkbar, daß wir nicht aufgenommen werden. Unser Beitritt würde auch das Problem der baltischen Staaten lösen, die so indirekt vom Schutz des Atlantischen Bündnisses profitieren könnten.“8

An seiner skandinavischen Flanke öffnet sich für Rußland derzeit mit Finnland (1300 Kilometer gemeinsame Grenze) ein großes Fenster zur EU und mit Norwegen (196 Kilometer gemeinsame Grenze) eine kleine Luke zur Nato. Im Falle eines finnischen Nato-Beitritts hätte Rußland auf einmal eine 1500 Kilometer lange gemeinsame Grenze mit dem Nordatlantikpakt.

Für die russischen Strategen ist dies ein wahrhaftes Katastrophenszenario, um das sich ein heftiges Tauziehen auf höchster Ebene entwickelt hat. „Die Russen fügen sich langsam in die Perspektive eines möglichen Nato-Beitritts der Länder Mitteleuropas, denen Finnland und Schweden folgen werden, doch wollen sie sich ihre strategischen Zugeständnisse im Norden teuer bezahlen lassen“, verlautet es aus hohen militärischen Kreisen in Norwegen. „Sie haben bei den USA bereits die Neuverhandlung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) erreicht. Jetzt fordern sie, daß das Aufnahmeverfahren der baltischen Länder in die Nato auf unbestimmte Zeit ausgesetzt wird und daß es keine Stationierung von Waffen oder Truppen der neuen Allianz nahe der russischen Grenze gibt, insbesondere nicht in Norwegen.“

Das arktische Europa zwischen der Barents- und der Ostsee sucht nach dem Ende des Kalten Krieges ein neues geopolitisches Gleichgewicht. Die drängenden ökologischen Probleme und die enormen natürlichen Ressourcen haben die grenzüberschreitende wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den skandinavischen Ländern und Rußland sprunghaft ansteigen lassen. Ob sich wirklich ein Gebiet der kollektiven Sicherheit herausbilden kann, wird in hohem Maße davon abhängen, für welche militärischen Optionen sich Präsident Boris Jelzin (respektive sein potentieller Nachfolger) in seiner zweiten Amtszeit entscheiden wird.

dt. Eveline Passet

1 Siehe hierzu Nicole-Lise Bernheim, „Joensuu et la nostalgie de la Carélie perdue“, Le Monde diplomatique, November 1991.

2 Sofern nicht anders angegeben, stammt das Zahlenmaterial aus John Richard Hansen und Rasmus Hansson, „The State of the European Arctic Environment“, Europäische Umweltagentur, Oslo 1996.

3 Siehe Barents Region Environmental Program, „Radioactive Contamination, Nordic Environment Finance Corporation, Arctic Monitoring and Assessment Program“, Oslo 1996.

4 Siehe Thomas Nilsen, Igor Kudrik und Alexander Nikitin, „The Russian Northern Fleet: sources of radioactive contamination“, Bellona, Moskau, April 1996.

5 Siehe Jane's International Defence Review, Juli 1996.

6 Siehe Rolf Gauffin, „Renaissance de la zone baltique“, Le Monde diplomatique, Mai 1994.

7 Siehe die Depesche der Agence France-Presse, 23. Mai 1996.

8 Siehe Helsinjin Sanomat, 7. Mai 1996.

Journalist

Le Monde diplomatique vom 13.09.1996, von Erlends Calabuig Odins