13.09.1996

Offener Streit in der Hamas-Bewegung

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Offener Streit in der Hamas-Bewegung

TROTZ einiger beschwichtigender Erklärungen führt der israelische Ministerpräsident Netanjahu seine Offensive gegen die Osloer Verträge fort – der Abzug der Armee aus Hebron wird verzögert, der Ausbau der Siedlungen beschleunigt. Israels arabische Partner geraten durch diese Entwicklung in eine heikle Lage. Wie gefährdet die Macht König Husseins von Jordanien ist, haben die Aufstände vom vergangenen Monat gegen die Verdopplung des Brotpreises gezeigt, Aber auch die palästinensische Autonomiebehörde steht unter Druck; sie verliert an Popularität, profitiert jedoch von der Spaltung der islamistischen Opposition. Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Flügeln der Hamas werden inzwischen öffentlich ausgetragen.

Von WENDY KRISTIANASEN LEVITT *

„Die dauernden militärischen Aktionen der Hamas nützen ihr nicht“, meint Ghasi Hamad, der zur Führung der Islamischen Widerstandsbewegung in Gaza gehört. „Sie fügen der Bewegung sogar schweren Schaden zu. Wir sind bereit, über diese Fragen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde zu diskutieren, wir suchen nicht die Konfrontation mit ihr. Die Palästinenser sollen nicht Hamas die Schuld für ihre Leiden geben. Im Rahmen eines umfassenden Abkommens werden wir die Einstellung unserer Operationen beschließen.“ Außerdem warte die Führung in Gaza nur auf grünes Licht von den offiziellen israelischen und palästinensischen Stellen, um sich in dieser Angelegenheit auch mit den Hamas-Führern im Westjordanland und in Amman zu verständigen.

„Ich war einer der ersten, der das ,Einfrieren‘ der militärischen Operationen gefordert hat, weil ich der Meinung bin, daß sie eine schwere Belastung für die Palästinenser bedeuten“, erklärt auch Dschamil Hammami in Ost-Jerusalem. Hammami war 1988, zu Beginn der Intifada, einer der Begründer von Hamas im Westjordanland und gilt heute als Führer der „Tauben“-Fraktion in der Bewegung. „Wer auch immer unseren militärischen Flügel dirigiert – die Frage muß politisch entschieden werden. Letztlich sind es die Mitglieder unserer Inlandsführung, die sich dazu äußern müssen.“

Hammami scheint überzeugt, daß die Köpfe der beiden Flügel, zwischen denen die Hamas-interne Auseinandersetzung geführt wird (die Inlandsfraktion in Gaza und die Auslandsfraktion in Amman) so klug sein werden, eine Spaltung zu vermeiden. Er glaubt, daß die Hamas-Aktivisten in den besetzten und autonomen Gebieten die neue Situation besser einzuschätzen vermögen, weil dort die Realität der palästinensisch-israelischen Abkommen stärker ins Gewicht falle als die islamische Bewegung.

Nach den Bombenanschlägen im Frühjahr dieses Jahres, bei denen 58 Israelis den Tod fanden, kam die Umsetzung der Oslo-Abkommen schlagartig zum Stillstand, viele Palästinenser mußten in der Folge hungern, und der Einfluß von Hamas sank auf einen Tiefstand. Damit war nicht nur der Waffenstillstand zwischen Hamas und Jassir Arafat beendet, auch die inneren Auseinandersetzungen in der Bewegung verschärften sich.

Seither werden die alten Rivalitäten zwischen Gaza und Amman offen ausgetragen. Aus drei Gründen war es nicht möglich, die Streitigkeiten geheimzuhalten: Die Organisation steckt in einer Führungskrise, die Anschläge vom Frühjahr hatten fatale Auswirkungen, und die Palästinenser befinden sich insgesamt in einer kritischen Situation.

Am 31. Juli starb Mahmud Dschumayyil, ein Aktivist der „Falken“, einer Miliz der Fatah, die in der Intifada eine große Rolle spielte und inzwischen verboten ist, in den Gefängnissen der Autonomiebehörde an den Folgen von Folterungen. Vor Dschumayyil waren bereits mindestens sieben Palästinenser auf diese Weise umgekommen. Als sein Tod bekannt wurde, setzte man in Nablus die palästinensischen Flaggen auf Halbmast, und es kam zu Demonstrationen vor dem Gefängnis von Tulkarim. Die Polizei eröffnete das Feuer, ein Demonstrant wurde tödlich getroffen. Da das Opfer, Ibrahim Hadaydeh, zur Hamas gehörte, versuchte man, die Ausschreitungen der islamistischen Bewegung anzulasten. Der palästinensische Präsident verstieg sich sogar zu der Behauptung, Hadaydeh sei von Kugeln der Islamisten getötet worden.1 Tatsächlich waren die Demonstranten in der Mehrheit Islamisten – ebenso wie die Gefangenen, deren Befreiung sie forderten...

Solche Vorfälle bedrohen die palästinensische Einheit. Sogar die Führung der Fatah im Westjordanland verfaßte eine Protestnote, und der Gesetzgebende Rat übte Kritik am Vorgehen der palästinensischen Polizei. Hussam Khader, Abgeordneter der Fatah aus Nablus, ist der Ansicht, daß körperliche Mißhandlungen heute häufiger vorkommen als während der Besatzungszeit. Im Gefängnis von Gaza starb am 7. August ein weiterer Häftling, am 19. verfügte der palästinensische Oberste Gerichtshof die Freilassung von Gefangenen – offensichtlich haben die Palästinenser Probleme mit ihrer Polizei, die unkontrollierbar geworden ist.

Für Hamas, die wichtigste Kraft der Opposition, bedeutet dieser Ansehensverlust der Autonomiebehörde neuen Auftrieb: Die Islamisten treten nun als Verteidiger der Rechte der Palästinenser auf, die nach ihrer Ansicht in den Verträgen von Oslo ebenso mißachtet werden wie durch die Politik der neuen israelischen Regierung. Ein Flugblatt, das am 3. August in Jerusalem verbreitet wurde, aber unverkennbar die Handschrift der Führung in Amman trug, rief sogar zu einer neuen Intifada auf, gegen „eine Regierung, die von den Besatzern gekauft ist“. Muhammad Nazzal, Vertreter der Hamas in Jordanien, hatte bereits zuvor eine entsprechende Erklärung abgegeben.2

Solche Positionen widersprechen der politischen Linie der Hamas-Führung in Gaza, die für die Wiederaufnahme des Dialogs mit der Autonomiebehörde eintritt, in der Hoffnung, die nationale Einheit zu stärken und ihrer Bewegung in diesem Rahmen wieder mehr Einfluß als legale Opposition zu verschaffen. Für dieses Ziel wäre sie bereit, die Autonomiegebiete nicht mehr als Basis für gewaltsame Aktionen zu nutzen.3 Am 5. August fuhren vier Vertreter der Bewegung ins Westjordanland, um über die Wiederaufnahme des „nationalen Dialogs“ zu diskutieren.

1 Salwa Kanaana, Palestine Report (Jerusalem), 9. August 1996, Bd. 2, Nr. 9.

2 Al-Watan Al-Arabi (Paris), 2. August 1996.

3 Siehe Wendy Kristianasen Levitt, „L'introuvable stratégie du pouvoir palestinien face aux islamistes“, Le Monde diplomatique, April 1996, und „Palästinenser zwischen den Gräben“, Le Monde diplomatique, Juni 1995.

4 Al-Hayat (London), 13. August 1996, zit. nach Summary of World Broadcasts, BBC London.

5 Mideast Mirror (London), 13. August 1996.

6 Jerusalem Press Service, 27. März 1996.

* Journalistin, London

Le Monde diplomatique vom 13.09.1996, von Wendy Kristianasen Levitt