Algeriens Erdölträume
Von SMAÏL GOUMEZIANE
DIE jüngsten Erdölfunde sowie die Ausbeutung bereits bekannter, aber wenig genutzter Vorkommen durch die Staatsgesellschaft Sonatrach und mehrere internationale Gesellschaften im Süden des Landes haben Algerien erneut in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Die optimistischsten Voraussagen erwarten einen Anstieg der Jahreseinnahmen auf 15 Milliarden Dollar bis zum Jahr 2000. Das wäre fast eine Verdoppelung der Einnahmen von 1994. Die Sonatrach rechnet angesichts der Exportstruktur nüchterner mit 13 bis 13,5 Milliarden Dollar: Man erwartet, daß sich die Gasverkäufe dank der beiden im Osten und Westen durchs Mittelmeer führenden Gasleitungen verdoppeln, die Rohölexporte um 25 bis 30 Prozent anwachsen und die Ausfuhr von Veredelungsprodukten um 20 Prozent steigt. Diese Zahlen bedeuten zwar einen klaren Zuwachs im Vergleich zu 1994 (ein sehr schlechtes Jahr), liegen aber auch nicht höher als etwa die Exportrate von 1980 und 1991. Es handelt sich also weniger um einen „Boom“ als um eine Konsolidierung früherer Erträge.
Man ging zunächst davon aus, daß diese Rohstoffvorkommen nun auch leicht „auszubeuten“ seien. Doch die Sonatrach gesteht wegen der verzögerten Finanzierung ihrer Projekte schon jetzt für ein zusätzliches Produktionsvolumen von 2 Milliarden Dollar einen einjährigen Rückstand.
Ob die Prognosen wahr werden, wird davon abhängen, ob drei grundlegende Bedingungen auf dem internationalen Ölmarkt gegeben sind: Wird die Organisation erdölexportierender Länder (Opec) Algerien gestatten, seine Fördermenge von 750000 auf 1 Million Barrel pro Tag zu erhöhen? Wird das Embargo gegen den Irak bis zum Jahr 2000 aufrechterhalten? Bleiben die Preise mittelfristig stabil? Es fällt schwer, diese Fragen positiv zu beantworten.
Der Tanz um das schwarze Kalb
DIE erwünschte Erhöhung der algerischen Förderquote um 30 Prozent scheint reichlich hoch gegriffen und würde andere Mitglieder der Opec anregen, ihre Produktion ebenfalls zu steigern. Könnte Algerien im Falle einer Ablehnung aus der Organisation austreten und sich alleine durchschlagen? Bis jetzt war von solchen Absichten noch nicht die Rede. In jedem Fall würde es die Disziplin innerhalb der Opec schwächen, eine beträchtliche Zunahme des Angebots und folglich eine Preissenkung nach sich ziehen. Der Zusammenhalt der Organisation ist ohnehin schon gefährdet durch Länder wie Venezuela, die ihre Quoten regelmäßig überziehen, sowie durch den Austritt mehrerer Mitgliedsstaaten, wie Ecuador und Gabun.
Das Ende des schrecklichen und skandalösen Embargos gegen das irakische Volk, dem bereits fast 600000 Kinder zum Opfer gefallen sind, scheint nahe. Zahlreiche Länder (darunter Frankreich), denen sich auch Algerien angeschlossen hat, setzen sich zu Recht für die Aufhebung des Embargos ein. Nach Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der UNO wurde dem Irak bereits zugestanden, sechs Monate lang Erdöl bis zu einem Gegenwert von 2 Milliarden Dollar zu exportieren, unter der Bedingung, daß die Einnahmen zum Kauf von Nahrungsmitteln und Medikamenten verwendet werden. Falls diese Beschlüsse umgesetzt werden, könnten sie einen Preisverfall des Barrel um 3 bis 4 Dollar nach sich ziehen.
Hinzu kommt die heftige Konkurrenz der Erdölproduzenten außerhalb der Opec; so feilschen etwa seit Monaten westliche, hauptsächlich US-amerikanische und russische Firmen um die immensen Ölreserven im Kaspischen Meer – alles vor dem Hintergrund einer allgemeinen Krise in den Ländern dieser Region, deren dramatischster Aspekt der Krieg in Tschetschenien ist.
Daher kann das voraussichtliche Wachstum der Weltwirtschaft und folglich des Energieverbrauchs diese Tendenzen höchstens zugunsten einer Preisstabilität auffangen. Die USA rechnen deshalb trotz eines leichten Anstiegs in den letzten Monaten mittelfristig mit einem Preis von 16 bis 17 Dollar pro Barrel.
Schließlich scheinen die optimistischen Voraussagen auch die Reorganisierung des Rohölmarkts in Algerien zu vergessen. Fünfundzwanzig Jahre nach der (am 24. Februar 1971 beschlossenen) Verstaatlichung und seit der Gesetzesänderung vom Dezember 1991 unterliegt die Erdölproduktion zahlreichen Kooperationsvereinbarungen, insbesondere Verträgen zur Produktionsaufteilung. Anders gesagt: Neue Regeln bestimmen die Verteilung der Erträge und folglich der Exporteinnahmen. Erheblich mehr als die „bezahlten Eintrittsgelder“ dürfte als Abfindung für die an der Entdeckung der Ölvorkommen beteiligten Partner außerhalb Algeriens bezahlt werden.
Trotz all dieser Unsicherheitsfaktoren und in der Annahme, daß alle Voraussagen eintreffen, darf man sich fragen, welchen Einfluß dies auf die algerische Wirtschaft haben könnte. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) würde jährlich immerhin um 1 bis 2 Prozent ansteigen, bedeutet aber ein Pro-Kopf-Einkommen von weniger als 1800 Dollar im Jahr 2000 (im Vergleich zu 1500 Dollar 1995) und entspräche dem heutigen Niveau in Tunesien. Im IWF-Jargon würde Algerien also gerade mal als „Schwellenland“ (pre-emergent) bezeichnet. Doch die in erster Linie finanziellen Anstrengungen, um zu diesem Resultat zu kommen, wären besonders groß. Die Sonatrach hat etwa 5 Milliarden Dollar investiert zur Verbesserung der Förderungstechniken, zur Modernisierung ihrer Anlagen, zur Eroberung neuer Exportmärkte und für die Beteiligung internationaler Gesellschaften an den Forschungs-, Ausbeutungs- und Produktionsaktivitäten.
Ein zusätzlicher Betrag von 18 Milliarden Dollar müßte für die nächsten fünf Jahre bereitgestellt werden. Im Juni 1996 hat der Direktor der Sonatrach die Abnehmerländer bei einem Europa-Mittelmeer- Treffen in Brüssel dazu aufgerufen „sich nachhaltiger an der Bereitstellung von Investitionen zu beteiligen“. Doch die akquirierten Gelder scheinen auf 10 Milliarden zusammengeschrumpft zu sein, was den Anstieg des Exportvolumens weiter verzögern wird.
All dies führt zu einer immensen Aufblähung der Auslandsschulden Algeriens. 1996 betrugen sie bereits 34 Milliarden Dollar, das sind mehr als drei Viertel des BIP – das entspricht den Exporteinnahmen aus drei Jahren. Die Zinsverpflichtungen sind nach den aufeinanderfolgenden Umschuldungen von 1994 und 1995 in weniger als drei Jahren um 8 Milliarden Dollar gestiegen, und erneut verschlingt die Schuldentilgung mehr als 50 Prozent der jährlichen Exporteinnahmen.
Der Exportanstieg wird zudem das Gegengewicht bilden müssen zu einer für die nächsten fünf Jahre prognostizierten Zunahme der Importe um 6 Milliarden Dollar, die durch „ununterdrückbare“ Ansprüche der Bevölkerung erforderlich werden. Die demographische Zuwachsrate geht zwar zurück (2,4 Prozent pro Jahr), dennoch werden jedes Jahr 700000 Kinder geboren, die ernährt, untergebracht und ausgebildet werden wollen. Bis zum Jahr 2000 wird Algerien mehr als 3000 neue Schulen und Gymnasien bauen müssen, um alle diese Kinder unterzubringen. Welche Zukunft erwartet sie nach dem Studium? Jetzt sind bereits fast 1700000 Personen arbeitslos, das sind 27 Prozent aller Erwerbstätigen, und weitere 2 Millionen werden noch vor Ende des Jahrhunderts auf den Arbeitsmarkt drängen. Kann man es hinnehmen, daß die Volkswirtschaft im Rahmen der Strukturanpassung Hunderttausende Arbeitsplätze zerstört, während sie doch jedes Jahr 250000 neue schaffen müßte, um dem Anstieg der Arbeitslosigkeit entgegenzutreten?
Wirtschaftskrise trotz des Ölbooms
DEN Zusatzeinnahmen stehen ferner voraussichtlich Mehrausgaben in Höhe von etwa 35 Milliarden Dollar gegenüber. Man kann also nicht von zu erwartenden Nettogewinnen sprechen. Im Gegenteil, allein in den Jahren 1996 und 1997 muß das Land ein auf mehr als 25 Milliarden Dollar geschätztes Finanzloch stopfen. Der aufgrund der „erweiterten Zugeständnisse“ des Internationalen Währungsfonds (IWF) in den nächsten zwei Jahren zu erwartende Kapitalzufluß wird 7 Milliarden Dollar nicht übersteigen, während die Handelskredite weiterhin wie Chagrinleder schrumpfen. Das wird die seit 1993 negative Außenhandelsbilanz nicht gerade verbessern. Die Handels- und Zahlungsbilanzen wiesen 1995 Löcher von 1,3 Milliarden beziehungsweise 2,1 Milliarden Dollar auf.
1996 schrumpften die Importe (im ersten Quartal um 30 Prozent im Vergleich zu 1995). Dank eines leichten Anstiegs der Erdölpreise wurde ein kleiner Handelsbilanzüberschuß verzeichnet – doch die Wachstumsmöglichkeiten erweisen sich als gering. Industrie und Baugewerbe sind auf dem absteigenden Ast. Das in Abstimmung mit dem IWF gesetzte Ziel von 5,4 Prozent wird trotz guter Ernten sicher auf 3,2 oder sogar 2 Prozent zurückgenommen werden müssen.
Unter diesen Bedingungen muß das Land aus seinen internationalen Reserven schöpfen. Sie sind bereits von 2,7 Milliarden Dollar im Jahr 1994 auf 1,9 Milliarden Dollar 1995 um 30 Prozent geschrumpft. Außerdem müssen in relativ naher Zukunft – sicher vor Ablauf der Abkommen mit dem IWF im Frühjahr 1998 – eine erneute Abwertung der Währung, eine dritte Umverteilung der Auslandsschulden und eine zweite, wirtschaftlich wie sozial noch einschneidendere Strukturanpassung durchgeführt werden. Wird man einigermaßen unbeschadet aus der fatalen „Umschuldungsspirale“ hervorgehen können?
Jenseits der Chimäre eines Erdölbooms kann nur ein nationaler Pakt aller gesellschaftlichen Kräfte dem algerischen Volk und besonders der Jugend neuen Antrieb geben. Ansonsten können die Erdöl- und Gasfunde der letzten Monate und das ihren Rahmen bildende Strukturanpassungsprogramm bestenfalls wirkungslos bleiben, schlimmstenfalls das Glück gewissenloser Spekulanten machen, die Algeriens Reichtümer seit Jahrzehnten ausplündern. Das Wachstum würde weiterhin stagnieren, trotz einer (dank günstiger klimatischer Bedingungen) um 20 Prozent gestiegenen landwirtschaftlichen Produktion. Das Erdölfieber wäre schnell verflogen, die Desillusionierung um so heftiger. Und die Folge: ein schwerer Rückschlag für den Wunsch der Bevölkerung nach Frieden und Freiheit, Arbeit und Wohlstand, mit der Aussicht auf eine Radikalisierung der Situation.
dt. Christiane Kayser
Ehemaliger Minister, Universitätsdozent und Autor von „Le mal algérien, économie politique d'une transition inachevée (1962-1994)“, Paris (Fayard) 1994.