Laboratorium der direkten Demokratie
HÄUFIG erzeugt der „institutionelle Exotismus“ der Schweiz bei anderen abfälliges Lächeln. Daß die Mehrheit der Schweizer 1992 den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum in einer Volksabstimmung ablehnte, hat das Bild von der zurückgebliebenen und isolationistischen Schweiz verfestigt. Niemand weiß allerdings, ob es die Europäische Union in der heutigen Gestalt überhaupt gäbe, wenn die Bevölkerung in den Mitgliedstaaten ebenso über direkte Mitbestimmungsmöglichkeiten verfügen würde wie die Schweizer.
Von URS MARTI *
Die moderne Schweiz ist 1848 als demokratisch-föderalistischer Staat entstanden. Nach der schrittweisen Einführung von Volksrechten beruht das System seit 1891 auf einer Kombination aus repräsentativen und direkt-demokratischen Elementen. Die zwei Kammern des Parlaments – der Nationalrat und der Ständerat – repräsentieren das Volk bzw. die Kantone. Für Parlamentsbeschlüsse ist die Übereinstimmung beider Kammern erforderlich. Die wichtigsten Volksrechte bestehen im obligatorischen und im fakultativen Referendum sowie in der Volksinitiative. Vom Parlament beschlossene Verfassungsänderungen und wichtige Staatsverträge unterliegen dem obligatorischen Referendum. Sie gelten erst dann als angenommen, wenn sowohl die Volksmehrheit als auch die Mehrheit der Stände (zwanzig Vollkantone, sechs Halbkantone) zustimmen – die Volksmehrheit allein genügt nicht.1 Für das fakultative Referendum ist das Ständemehr nicht erforderlich; damit kann eine Volksabstimmung über Gesetze und Bundesbeschlüsse verlangt werden, sobald innerhalb einer Frist von drei Monaten 50000 Stimmen gesammelt werden. Die doppelte Unterschriftenzahl ist bei einer Frist von achtzehn Monaten für den Begehr einer Volksinitiative erforderlich. 100000 Stimmberechtigte können die Änderung einer geltenden Verfassungsbestimmung verlangen. Regierung und Parlament nehmen Stellung zum Begehren und legen gegebenenfalls einen Gegenentwurf vor. Initiative und Gegenvorschlag werden der Volksabstimmung unterbreitet, zur Annahme sind Volks- und Ständemehr nötig. Auf kantonaler und kommunaler Ebene sind die direkt-demokratischen Instrumente unterschiedlich ausgestaltet.
Ob das direkt-demokratische System „euro-kompatibel“ ist, bleibt umstritten.2 Die EU-Kommission zeigt, daß sie damit Mühe hat: Sie hat nicht nur den negativen Ausgang der EWR-Beitritt-Abstimmung von 1992 als europafeindlich erachtet, sondern auch den positiven Ausgang der Abstimmung über die – allseits als ökologisch sinnvoll gelobte – Alpeninitiative von 1994, die eine Umverlegung des Transitverkehrs von der Straße auf die Schiene forderte. Doch in der Schweiz selbst wird das System der direkten Demokratie von niemandem ernsthaft in Frage gestellt, und im umliegenden Europa, namentlich in Deutschland, stößt es zunehmend auf Interesse.
Die konservative und zum Teil offen fremdenfeindliche Rechte pflegt den Mythos von einem Volk, das seine Souveränität und seine kulturelle Identität heldenhaft verteidigt. Sie setzt großes Vertrauen in die direkt-demokratischen Instrumente – mit gutem Grund. 1994 wurde das Gesetz über die „Zwangsmaßnahmen im Ausländerrecht“3 trotz Bedenken von Menschenrechtsexperten mit großer Mehrheit angenommen, während im gleichen Jahr ein von rechter Seite heftig bekämpftes Antirassismus-Gesetz4 nur knapp durchkam. Den Reiz der direkten Demokratie haben auch die Apologeten einer strengen Austeritätspolitik wiederentdeckt. Sie sehen darin ein bewährtes Mittel gegen die Erhöhung von Steuersätzen und öffentlichen Ausgaben. Tatsächlich zeigen manche Beispiele, auch auf kommunaler Ebene, wie fortschrittliche Projekte an der Finanzierung scheitern, weil sie in der Volksabstimmung abgelehnt werden. Passionierte Verteidiger der direkten Demokratie finden sich dennoch auch auf der Linken. 1989 konnten die Schweizerinnen und Schweizer über ein Volksbegehren abstimmen, das die Abschaffung der Armee verlangte. Zwar wurde die Initiative abgelehnt, doch erzielte sie mit 35,6 Prozent Jastimmen bei einer überdurchschnittlich hohen Stimmbeteiligung einen unerwarteten Erfolg. Seither engagieren sich radikaldemokratische Bewegungen vermehrt für die Verteidigung und den Ausbau der Volksrechte und verweisen auf die – dank ihnen zustande gekommene – Umweltgesetzgebung.
1 Der Grundsatz der doppelten Mehrheit wird häufig als undemokratisch kritisiert, weil Kantone mit geringer Bevölkerungszahl die gleiche Stimme haben wie solche mit hoher Bevölkerungszahl.
2 Zwar hätte eine EU-Mitgliedschaft negative Auswirkungen auf die direkte Demokratie, aber nur in geringem Ausmaß, wie kürzlich eine Untersuchung ergeben hat (Neue Zürcher Zeitung, 11.10.95).
3 Konkret geht es um Maßnahmen wie Abschiebehaft und Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Ausländern und insbesondere Asylsuchenden.
4 Das Gesetz verbietet die öffentliche rassistische Hetze und Diskriminierung sowie das Leugnen und Verharmlosen von Völkermord oder anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
5 Franz Lehner, „Phänomen Schweiz: Aufstieg und kein Niedergang?“; Heidrun Abromeit, Werner Pommerehne (Hg.), „Staatstätigkeit in der Schweiz“, Bern 1992.
6 Vgl. Wolf Linder, „Swiss Democracy“, St. Martin's Press, New York 1994; Hanspeter Kriesi (ed.), „Citoyenneté et démocratie directe. Compétence, participation et décision des citoyens et citoyennes suisses“, seismo, Zürich 1993.
7 Vgl. dazu Manfred G. Schmidt, „Vollbeschäftigung und Arbeitslosigkeit in der Schweiz. Vom Sonderweg zum Normalfall“, Politische Vierteljahresschrift 1995, 1, S. 35–48.
8 Vgl. Silvano Möckli, „Direkte Demokratie. Ein internationaler Vergleich“, Bern, Stuttgart, Wien. Haupt. 1994.
9 Vgl. Marie-Josée Kuhn, „Die feministische Aufweichung“, sowie Lotta Suter, „Profit privat, die Frauen dem Staat“, WochenZeitung, 26.1.1996.
* Urs Marti ist Redakteur der WochenZeitung WoZ in Zürich und Dozent für Philosophie an der Universität Bern