13.09.1996

Die literarische Heimat des Kolonisierten

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Die literarische Heimat des Kolonisierten

FÜR wen und in welcher Sprache soll man schreiben? Die Autoren in den Ländern der Dritten Welt mit ihrer mündlichen Tradition quälen sich oft mit einer Antwort auf diese allgemeine, aber grundsätzliche Frage. Schreiben erfordert, daß man auf Leser trifft; doch in Ländern, die aus der langen Nacht der Kolonialzeit auftauchen, ist dies unwahrscheinlich. Die Schriftsteller sind zerrissen zwischen ihrer vermeintlichen Pflicht, einen Beitrag zum Aufbau dieser neuen Staaten leisten und sich für die Unterdrückten einsetzen, der Verweigerung eines identitären Rückzugs – als Ausdruck von Verzweiflung – sowie der notwendigen Dissidenz der kreativen Arbeit.

Von ALBERT MEMMI *

Allen Schriftstellern, die in bestehenden Kolonialgebieten oder im Exil leben oder die aus dem Gefängnis kommen, ist eines gemeinsam: die verzweifelte Aufrichtigkeit von Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. In den meisten neuen Staaten der Dritten Welt bleibt ihre Situation unsicher und zwiespältig. Als wären andere Schwierigkeiten an die Stelle der früheren getreten oder zu den alten neue hinzugekommen, die der freien Ausübung ihres Berufs noch abträglicher sind.

Wenn man zur Zeit der Kolonialherrschaft nicht in der Sprache des Kolonialherrn schrieb, konnte man nahezu sicher sein, kein Publikum zu finden. Mit Ausnahme einiger Gebildeter beherrschten Akademiker, Verwaltungspersonal und Bourgeoisie diese Sprache besser als ihre Muttersprache, zumindest in ihrer schriftlichen Form. Die einfachen Leute lasen nichts, weil sie meistens gar nicht lesen konnten. Hätte ein Schriftsteller sich trotzdem für die Sprache seines Volkes entschieden, an welchen Verleger hätte er sich dann wenden können? Und an welches Vertriebssystem? Außerdem gab es ein weiteres schreckliches psychologisches Hindernis, dem der Schriftsteller sogar bei sich selbst begegnete: die verinnerlichte Mißachtung gegenüber allem, was den Kolonisierten betraf. Die jungen Männer und Frauen, die in einer bereits freien Nation das Licht der Welt erblickten, können sich nicht mehr vorstellen, daß ihre Väter und Onkel sich oft geschämt haben, ihre Muttersprache öffentlich zu gebrauchen.

Aber heute ist der Schriftsteller frei: Niemand hindert ihn, in seiner Nationalsprache zu arbeiten. Er ist nicht nur frei, sondern es wird auch Zeit, daß er sein lange gefordertes Recht in Anspruch nimmt. Plötzlich aber beginnt er zu zögern: Von der Dringlichkeit seiner Entscheidung wie gelähmt, scheint er den Moment hinausschieben zu wollen. Noch nie haben wir so viele Erörterungen und Erklärungen dieser Probleme zu hören bekommen wie seit dem Ende der Kolonialzeit. Dabei ist die Wahrheit ganz einfach: Diese Schriftsteller sind mittlerweile definitiv zu Schriftstellern französischer oder englischer Sprache geworden; das ist weder Schwäche noch Verrat, sondern ein zwar fragwürdiges, aber nicht zu umgehendes Erbe. Es wäre besser, offen dazu zu stehen und, soweit es diese Leute betrifft, die Diskussion zu beenden: Sie haben ihren historischen Moment gehabt, der in der Geschichte des Landes bestehen bleibt.

Weniger klar ist die Sache für die jüngeren Generationen, die von ihrem ersten Schultag an zwei Sprachen gelernt haben: Warum entscheiden sie sich in ihrer großen Mehrheit schließlich ebenfalls, Schriftsteller französischer oder englischer Sprache zu werden? Warum ist in Algerien, Marokko und sogar in Tunesien, wo die Arabisierung umfassender ist als anderswo, die Sprache der literarischen Produktion weiterhin hauptsächlich das Französische? Und auch fast überall im französisch- oder englischsprachigen Schwarzafrika? Und das allen Erwartungen und allen stolzen Proklamationen zum Trotz.

Dabei haben sich die materiellen Bedingungen der einheimischen Literatur erheblich verbessert. Fast überall wurden staatliche Verlage gegründet; Vertriebsnetze wurden von staatlicher Seite aufgebaut und werden von Staatsangestellten geleitet. Literaturpreise werden ausgeschrieben, es entstehen Theatergruppen, und der Film macht seine ersten Schritte. All dies wird sich auf die künstlerische Produktivität positiv auswirken und dürfte den Autoren zu größerer Wertschätzung und finanzieller Sicherheit verhelfen. Aber abgesehen von diesen Erleichterungen sind noch unzählige, oft ganz neue Hindernisse zu überwinden. In den staatlichen Verlagen verbinden sich die Schwächen der Verwaltung mit denen der politischen Gruppierungen, ohne daß sie die Vorteile der einen und die Dynamik der anderen besäßen. Sie sind schwerfällig, kleinlich, ineffizient und mit geringen Mitteln ausgestattet, und das in einem Bereich, wo man mit leichter Hand und reichlich großzügig zu Werke gehen müßte. Aus Mißtrauen gegenüber den Schriftstellern und Furcht, ihre sprachlichen Seitensprünge und Unverantwortlichkeit könnten die Gemüter aufwiegeln, führen diese Administratoren die Verlage lieber für alle Fälle mit harter Hand. Vor allem aber: Welche Leser werden auf diese Weise erreicht? Sie sind so dünngesät im Ausland und so wenige im Land selbst, daß die jungen Schriftsteller ironisch munkeln, eine einheimische Veröffentlichung komme fast einer Beerdigung gleich.

Das Problem des Publikums schließt natürlich an das der Sprache an. Der kolonisierte Schriftsteller lebte mit einem grundsätzlichen Verständigungsproblem: Er stellte Forderungen für seine Landsleute, konnte von ihnen jedoch nicht gehört werden. Er schlug sich mit den Kolonialherren herum, suchte sie aber gleichzeitig als Leser. Er war begierig auf der Suche nach wirklichen Rezipienten, so behauptete er zumindest. Mit der Entkolonisierung begann sein Land zu sich selbst zu finden. Hat er nun endlich das einzig natürliche Publikum eines Schriftstellers gefunden? Eine Leserschaft, die nicht nur die Sprache seiner Werke versteht, sondern auch alle seine inneren Nuancen, alles, was in seiner Erinnerung mitschwingt, auch das, was ihm nicht bewußt ist und was er selber dann erstaunt und entzückt auf jeder kleinsten Seite entdeckt? Dieses wunderbare, wenn auch für jeden anderen ganz gewöhnliche Publikum, das seinen Schriftstellern durch jenes geheime Gesetz zugestanden wird, das eine Kulturgemeinschaft ausmacht, bleibt unauffindbar.

Der Intellektuelle als Störfaktor

AUF jeden Fall wird die Entscheidung schwierig sein, weil sie eine bestimmte Vorstellung von der künftigen Nation voraussetzt. Wenn im günstigen Fall eine vorherrschende einheimische Sprache existiert, soll man dann für ihre gelehrte Form optieren, die großartig und wunderbar, aber für die Mehrheit der Bevölkerung so gut wie unverständlich ist? Oder soll man sich für die Sprache der Straße entscheiden, wie es mehrere europäische Nationen zu Beginn ihrer Geschichte getan haben? Läuft man dann nicht Gefahr, die noch schwache Nation der Wurzeln ihrer Tradition zu berauben, eines kulturellen Erbes, dessen sie dringend bedarf? Es gibt keine Lösung, die sich so deutlich aufdrängt, daß sie dem Schriftsteller Verwirrung und Schuldgefühl ersparen könnte: Es gibt keine Lösung, die nicht schwerwiegende Konsequenzen für sein Werk und für die Zukunft seines Landes hat.

Nach den Schwierigkeiten der Kolonialzeit und der anschließenden wilden Entkolonisierungsphase haben wir es nun mit den Problemen der kollektiven Behauptung des aufzubauenden Staates zu tun. Sie sind keineswegs weniger verwirrend. Gerade wegen ihrer Gefahren ist die Rebellion erregender als die unverblümte Kritik an den eigenen Leuten. Doch als angeblich freier Bürger eines angeblich freien Landes sieht sich der Schriftsteller neuen Pflichten gegenüber: Er muß Zeugnis über die Schwächen seines eigenen Volkes ablegen, über die Ungerechtigkeit seiner Privilegierten und die Fehler und Irrtümer seiner führenden Politiker. Er muß seine eigenen Zugehörigkeiten abschütteln, was auch einen Kampf gegen sich selbst bedeutet. Wie sollte er da nicht als zusätzlicher Störfaktor erscheinen? Als Revoltierender war er mit seinen Landsleuten solidarisch, jetzt wird er des Verrats verdächtigt, womit schwieriger zu leben ist. Zu revoltieren ist weniger schmerzlich, als ein Verräter zu sein.

Es ist heute die Zeit von Schriftstellern wie Salman Rushdie, Taslima Nasrin oder Nagib Machfus, den der Nobelpreis nicht davor geschützt hat, in Kairo auf offener Straße niedergestochen zu werden. Algerische Intellektuelle wie Raschid Budschedra können ihr Leben nur von Mal zu Mal retten, indem sie täglich ihre Spuren verwischen. Es war nicht die Kolonialmacht, die Abdellatif Laabi ins Gefängnis geworfen hat.

Könnte der Schriftsteller schweigen, wenigstens zu bestimmten Themen? Das Schreiben ist immer in irgendeiner Weise Enthüllung und also Dissidenz. Wenn es sich unterwirft, dankt es ab. Ist ein Schriftsteller, der Minister wird, noch ein Schriftsteller?... Die Entkolonisierungsphase im engeren Sinn liegt hinter uns. Es reicht wahrscheinlich nicht mehr, daß wir uns jeder einzeln definieren. Über unsere besonderen nationalen, ethnischen und regionalen Probleme hinaus müssen wir zusammen eine umfassende gemeinsame Definition des Menschen von heute finden.

dt. Sigrid Vagt

* Verfasser von „Portrait du colonisé“, Paris (Gallimard) 1985, und „Le juif et l'autre“, C. de Bartillat, Paris 1995.

Le Monde diplomatique vom 13.09.1996, von Albert Memmi