13.09.1996

Der Staat, die Partei und der Clan im Clan

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Der Staat, die Partei und der Clan im Clan

AM 3. und 4. September schlugen südlich von Bagdad US-Marschflugkörper ein. Nach Angaben der US-Regierung trafen sie Militäreinrichtungen, nach Darstellung aus Bagdad auch Zivilpersonen. Anschließend erklärte die US- Regierung, die Flugverbotszone für irakische Piloten werde vom 32. auf den 33. Breitengrad nach Norden verschoben – sie reicht damit bis knapp 50 Kilometer vor Bagdad. Vorausgegangen war ein irakischer Einmarsch in Arbil, der „Hauptstadt“ Irakisch-Kurdistans. Nach dem Einmarsch erklärte UN-Generalsekretär Butros Butros Ghali den im Juli vom UN-Sanktionsausschuß bewilligten Handel „Öl gegen Lebensmittel“ mit dem Irak zunächst für eingefroren.

Von FALIH A. DSCHABAR *

Zehn Tage später schien die Möglichkeit, daß das Abkommen „Öl gegen Lebensmittel“ trotz der jüngsten Krise bald in Kraft treten würde, wieder in greifbarer Nähe. Die UNO weigerte sich unterdessen, den amerikanischen Angriff auf den Irak zu legitimieren.

Der „Oil for food“-Deal sieht vor, daß Bagdad alle sechs Monate für zwei Milliarden Dollar Erdöl exportiert und aus dem Erlös Nahrungsmittel und Medikamente kaufen kann. Damit würden einerseits die Lebensbedingungen der Iraker erleichtert, die in den letzten fünf Jahren durch das Embargo sehr erschwert worden waren, aber auch Saddam Husseins Position gestärkt, dessen Machtbasis geschrumpft ist.

Im Sommer letzten Jahres vollzog sich ein für alle überraschendes und turbulentes Schauspiel – mit Abtrünnigen aus den höchsten Kreisen, einer Flucht, politischem Asyl, einer angeblichen Begnadigung und einer Rückkehr in den Schoß der Familie.1 Damit begann eine neue Etappe in der Geschichte des Bajat-Clans, der seit Jahrzehnten das Schicksal des Iraks bestimmt. Schließlich das dramatische Ende: die Ermordung von Marschall Hussein Kamil al-Madschid, einem Schwiegersohn und entfernten Verwandten von Saddam Hussein, seiner beiden Brüder Saddam Kamil al-Madschid und Hakim Kamil al-Madschid, seiner Schwester mit ihren zwei Kindern und seines Vaters.

Angefangen hatte alles mit der Flucht des Marschalls am 8. August 1995. Nach seiner Rückkehr waren Verhandlungen über eine Begnadigung gefolgt, die vom Staat und von der regierenden Baath-Partei geführt wurden. Der Clan brach diese schließlich ab und brachte die abtrünnigen Mitglieder am 23. Februar 1996 um. Niemals zuvor ist das Nebeneinander von Staat und Clan so deutlich geworden: Der Clan hat nicht nur sein souveränes Existenzrecht verkündet, sondern auch das Recht, seinen eigenen Ehrenkodex durchzusetzen. In einer an den Präsidenten gerichteten Botschaft, die von vielen Notabeln des Clans unterzeichnet worden war, wurde klargestellt: „Wir haben den verräterischen Zweig unseres vornehmen Familienbaums abgehackt. Ihre Amnestie nimmt unserer Familie nicht das Recht auf eine angemessene Bestrafung.“2

Damit wurde das dritte Kapitel im Machtkampf zwischen der Familie und dem Staat geschrieben.3 Die erste Spaltung zu Beginn der siebziger Jahre hatte mit der Verstoßung – in einigen Fällen der Ermordung – der Angehörigen der kleinen, aber einflußreichen Familienverbände der Takriti geendet. Zu ihren wichtigsten Vertretern gehörten das frühere Mitglied des Revolutionären Kommandorats (CCR), der ehemalige Verteidigungsminister Salah Umar Ali al-Takriti und Hardan al-Ghafar al-Takriti, der 1970 kaltgestellt und 1971 in Kuwait ermordet wurde. Die Takriti sind jedoch nur Verbündete zweiten Ranges. Die wirkliche Macht liegt in den Händen der Bajat, zu denen schon der erste baathistische Präsident Hassan al-Bakr (nach der Revolution von 1968) gehörte, ebenso sein Stellvertreter Saddam Hussein, außerdem Hammad Schihab und Abdnan Chirula Tilfah, um nur einige Namen zu nennen.

Die zweite Episode ereignete sich 1979 innerhalb des Bajat-Clans: Saddam Hussein zwang Präsident al-Bakr zum Rücktritt und übernahm am 16. Juli des Jahres dessen Posten. Von nun hatte er die alleinige Macht in Händen, und zwar sowohl in seinem Clan wie auch im ganzen Land.

Diese beiden Fälle zeigen deutlich, daß Verwandtschaft und innerparteiliche Verbindungen bei den Fraktionskämpfen zwischen den Generationen und zwischen Militärs und Zivilisten eine erhebliche Rolle spielen. Typisch an den beiden ersten Spaltungen ist die Art, wie jeweils Partei und Clan gegeneinander ausgespielt werden. Seither bekämpfen sich die Clan-Mitglieder untereinander, aber aufgrund des besonderen Wesens und der besonderen Strukturen des irakischen Staates greifen die Machtkämpfe auf die Institutionen über.

Bis zum 2. Golfkrieg im Jahre 1991 beruhte der irakische Staat auf der Kombination von einem Einparteiensystem und der Herrschaft eines Clans – mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Institutionen, die Legitimität, die Ideologie und die Führungsschicht. Die Staatsmechanismen sind so ungewöhnlich, daß sie sich jeder einfachen Erklärung entziehen.

Das Vorbild der Baath-Partei ist die Sowjetunion. Das totalitäre Regime im Irak ist jedoch eine späte Erscheinung: das letzte, das errichtet wurde, und wohl auch das letzte, das wieder abtritt. Es beruht auf vier voneinander abhängigen komplexen Pfeilern: der Armee, der Partei, den Geheimdiensten und den Clans.

Das Verteidigungsministerium etwa verwaltet und führt die Armee als Organisation, untersteht aber dem Staatschef, der auch Oberbefehlshaber der Armee ist. Der Entscheidungsspielraum des Ministeriums ist auf den Einsatzort und auf Fragen der Logistik beschränkt. Doch selbst dabei gibt es zwei Entscheidungszentren: Die Präsidentengarde etwa, die sich gegenwärtig aus zwei Armeekorps, das heißt acht bis zehn Divisionen, zusammensetzt, untersteht direkt dem Präsidentenpalast, auch was ihren Einsatzort betrifft. So war die Kuwait-Invasion sowohl für den damaligen Verteidigungsminister General Dschabar Schanschal als auch für den Generalstabschef General Nisar Chasradschi eine Überraschung.

Innerhalb der Armee überwachen vertikal strukturierte Parteiorganisationen (Zellen, Komitees usw.) die Rekrutierung der neuen Offiziere, ihre Indoktrinierung, die Umbesetzung von Kommandeursposten und Stellenwechsel allgemein. Diese Organisationen werden vom Militärbüro beaufsichtigt, das dem Generalsekretär der Partei, also Saddam Hussein persönlich, untersteht. Die militärischen Nachrichtendienste haben ein Auge auf die Feinde im In- und Ausland und unterstehen dem Büro für nationale Sicherheit, dem Maktab al-Amn al-Qaumi. Durch alle drei Bereiche ziehen sich Verwandtschaftsbeziehungen und Stammesbündnisse, die so über eine eigene informelle Struktur verfügen.

Der Staatschef ist also Führer der Baath-Partei, Staatspräsident, Oberbefehlshaber und Oberhaupt seines Stammes – der allerdings viel von seiner Größe verloren hat. Mitglieder der Madschid-Familie kontrollieren das Verteidigungsministerium, das Militärbüro der Partei, das Rüstungsministerium, die politische Polizei (Muchabarat), den Inlandssicherheitsdienst (Amn) und die Abteilung für besondere Aufgaben (Dschihas al-Chas).

Die Bajat haben also die Macht in der Hand, wobei die Madschid als Unterclan über ihnen stehen. Zu den einflußreichsten verbündeten Stämmen gehören die Duri, die Raui, die Schaui und die Dschubur – allesamt Sunniten aus dem Norden des Landes. Konflikte zwischen den Clans schlagen sich deshalb fast unausweichlich in den Institutionen nieder, und andererseits kann die kleinste institutionelle Auseinandersetzung Streit zwischen den Familien auslösen.

Die Bande aus Solidarität und Zusammengehörigkeit funktionieren nach den Regeln, die Emile Durkheim dargelegt hat. Aber sie entstammen auch Modellen, auf die schon Ibn Chaldun hinwies. Zwar sind sich diese beiden Soziologen nie begegnet, aber das Binom aus Staat und Clan im Irak ist ein anschauliches Beispiel für ihrer beider Theorien. Während sich Ibn Chaldun, der Denker aus dem Mittelalter, für primäre Solidaritätsformen interessierte, widmete sich der französische Theoretiker dem organischen Zusammenhalt in der Neuzeit. Im Irak gibt es beides.

Die duale Natur des irakischen Staates hat Saddam Hussein einmal so erklärt: Die Führungskräfte stammen zum einen aus Expertenkreisen (Ahl al-Kibra), zum anderen aus Kreisen, die das Vertrauen des Präsidenten genießen (Ahl al-Thiqa). Mit dieser Aussage wollte Saddam Hussein sicher den schnellen Aufstieg der Madschid während des Krieges gegen den Iran erklären, der auf den langen Prozeß der Verdrängung des Bakr-Zweigs innerhalb des Bajat-Clans folgte.

In der Zeit nach dem Sturz Präsident Bakrs hat sich Saddam Hussein auf drei verschiedene Gruppen gestützt:

Die erste besteht aus seinen drei Halbbrüdern Barsan, Sabuai und Watban, die die heikelsten Posten in den zahlreichen Geheimdiensten bekleideten: in der allgemeinen Sicherheitsbehörde (al-Amn al-Am), im Geheimdienst Muchabarat und in der Schutzabteilung (Dschihas al- Himaja). Wichtig ist, daß die drei Halbbrüder mit Saddam über die Mutter verwandt sind, daß sie also väterlicherseits nicht zu den Madschid gehören.

Die zweite Gruppe besteht aus den Madschid im engeren Sinne. Ali Hassan Madschid al-Madschid ist verantwortlich für den Nordbereich der Baath-Partei, das Verteidigungsministerium und das Militärbüro der Partei. Hussein Kamil hat den Dschihas al-Chas übernommen und in den achtziger Jahren neu organisiert, um dort die ungebildeten Mitglieder der verwandten Stämme aus den kleinen, nördlich von Bagdad am Tigris gelegenen Dörfern wie Bai, Schirgat und anderen unterzubringen. Er ist später in das Rüstungs- und dann ins Erdölministerium übergewechselt und hat eine Zeitlang das Militärbüro der Partei geleitet. Sein Bruder Saddam Kamil stand an der Spitze des Dschihas al-Chas.

Die dritte Gruppe, deren Einfluß damals rasch wuchs, besteht aus den beiden Söhnen Saddams, Kusai und Udai, denen eine große Zukunft vorausgesagt wird.

Zwischen diesen drei Untergruppen des Bajat-Clans brach im Sommer 1995 ein Konflikt aus. Zwei von ihnen sind von der Madschid-Familie, die dritte gehört weder väterlicher- noch mütterlicherseits dazu. Ausgelöst wurden die Feindseligkeiten durch Heiratspolitik: Als Saddam Hussein Hussein Kamil und Saddam Kamil als Schwiegersöhne in die Familie aufnimmt, kommt es zu einer heftigen Reaktion seines Halbbruders Barsan. In dessen Augen bringen diese beiden Hochzeiten das Machtzentrum aus dem Gleichgewicht, weil sie eine Machtkonzentration in wenigen Händen begünstigen. Dann verlangt der jüngste Bruder von Hussein Kamil die letzte Tochter des Präsidenten zur Frau und beunruhigt damit die anderen Cousins des Madschid-Zweiges, die fürchten, kaltgestellt zu werden.

Tatsächlich werden Barsan und seine beiden Brüder durch den Aufstieg der Madschids nach und nach in den Hintergrund gedrängt. Der Machtzuwachs für Udai und Kusai, die beiden einflußreichen Söhne des Präsidenten, ist ebenfalls ein schwerer Schlag für Watban und Sabuai. Watban, der Innenminister, hat letztes Jahr von der Leibwache Udais einen Schuß ins Bein erhalten. Kusai hat Saddam Kamil aus der Spezialabteilung (Dschihas al-Chas) verdrängt. Ali Hassan al-Madschid hatte 1992 das Verteidigungsministerium von seinem Neffen Hussein Kamil übernommen, wurde jedoch drei Jahre später selbst abgelöst. Sein Nachfolger Thabit Sultan ist der erste Berufssoldat auf diesem Posten seit vielen Jahren.

Auslöser für diesen letzten Wechsel waren eine gewisse Feindschaft der Militärführung gegenüber den beiden Madschid und die Vorfälle in der Provinz Anbar. Nachdem mehrere hohe Offiziere aus dem Stamm der Dulaimi verhaftet und einige von ihnen gefoltert und dann hingerichtet wurden, führte dies im Frühjahr 1995 zu einem Aufstand in der Stadt Ramadi, der „Hauptstadt“ dieses Stammes, und sogar zu einem dilettantischen Putschversuch. Dabei waren die Dulaimi immer ein treuer und den Bajat verbundener Stamm gewesen, der viele Mitglieder in die Armee absandte. Nachdem er Ali Hassan al-Madschid, den er für die Vorfälle verantwortlich machte, als Verteidigungsminister abgesetzt hatte, unternahm Saddam Hussein im Mai 1996 eine Reise zu den Führern der Dulaimi, um die Versöhnung zu besiegeln.

In den siebziger Jahren hatte der Clan die Partei erobert, seit dem Ende des Krieges gegen den Iran im Jahre 1988 verfolgt er praktisch nur noch seine Eigeninteressen. Zum einen sind seine Geldmittel erschöpft. Das Manna des Erdöls, mit dem die modernen Mittelklassen „geschmiert“ worden waren, deren Anteil an der Stadtbevölkerung zwischen 1968 und 1990 von 28 auf 48 Prozent gestiegen ist, nimmt immer mehr ab. Dank der vom Staat gewährten Verträge und Erleichterungen hatte das Erdöl auch die Entwicklung der Oberschichten (Großhändler, Industrielle, Unternehmer) beschleunigt. Heute lebt die lohnabhängige Bevölkerung, auch die Mittelschicht, im Elend. Die Partei hat als politischer und ideologischer Apparat an Anziehungskraft und an Macht verloren. Das Überwachungssystem hat seine Logistik und die Zahl seiner Mitarbeiter reduzieren müssen, und die Personalstärke der Armee ist von einer Million auf weniger als vierhunderttausend zurückgegangen. Auch die Sicherheitsdienste sind im Verlauf der schiitischen und kurdischen Aufstände im Frühjahr 1991 zusammengeschmolzen. Ihre Hauptquartiere wurden damals bombardiert und ihre Archive zerstört, von den Todesopfern ganz zu schweigen. Die Auflösung der sozialen Organisationen, die in den vergangenen dreißig Jahren betrieben wurde, hat ein Vakuum hinterlassen, das nun zunehmend durch Clan- und Familienbeziehungen gefüllt wird.

Vor diesem Hintergrund traf Saddam Hussein 1992 ein historisches Abkommen mit den Stammesführern im mehrheitlich schiitischen Südirak. Nachdem er sich für die Agrarreformen der Vergangenheit entschuldigt hatte, bot ihnen der Präsident in Ermangelung an Geld riesige Ackerflächen an. Und wie überall förderte er auch hier die Stärkung der Stammesstrukturen. Unter der Hand wurde der Kodex der Stammesehre wieder eingeführt. Kurz gesagt haben sich der Madschid-Clan und seine Konföderation verbündeter Stämme eine Welt nach ihrem eigenen Bilde geschaffen.

Nach der Spaltung innerhalb der „heiligen Familie“, die durch den Aufstieg seiner Söhne verursacht worden war, hat der Vater sich für ein neues Präsidialsystem entschieden: Er will sein Überleben mittels eines subtilen Gleichgewichts zwischen den institutionellen Fraktionen, Clan-Rivalitäten, sozialen Antagonismen und ethnischen und religiösen Schismen sichern. Die institutionellen Veränderungen wurden zunächst vorsichtig und schrittweise eingeleitet, doch nach der Flucht Hussein Kamils im August 1995 beschleunigt. Aller Wahrscheinlichkeit nach stehen Präsidentschaftswahlen, neue Statuten und Parlaments- und Gemeinderatswahlen und eine Verfassungsreform auf der Tagesordnung.

Bezeichnend ist auch die radikale Neuorganisation der Sicherheitsorgane, die sich an der offiziellen Anerkennung der Fidaijun Saddam (Anhänger Saddams) ablesen läßt. An der Spitze dieser paramilitärischen Organisation stand bis vor kurzem Udai, der älteste Sohn Saddams. [Anfang September soll sein Vater ihn Gerüchten zufolge abgesetzt und selber die Leitung übernommen haben. Grund war Saddams Verdacht, Udai habe moderne Waffen, die für die Präsidialgarde bestimmt waren, an seine Truppe umgeleitet. Anm. d. dtsch. Red.] Die irakische Nationalversammlung hat einen Gesetzestext verabschiedet, in dem diese privilegierte militärische Einheit für gesetzlich erklärt wird.

Fidaijun Saddam besteht aus jungen Arbeitslosen, die monatlich 25000 Dinar erhalten – etwa das Achtfache dessen, was ein Arzt verdient. Als Bilanz der blutigen Episode um Hussein Kamil ließe sich sagen, daß Saddam Hussein viel gewonnen, das Regime insgesamt aber verloren hat.

dt. Christian Voigt

1 Siehe Paul-Marie de la Gorce, „Jordanien nimmt Kurs auf den Westen“, Le Monde diplomatique, Oktober 1995.

2 Irakisches Fernsehen Bagdad, 23. Februar 1996.

3 Siehe Alain Gresh, „Les ambitions de M. Saddam Hussein“, „Proche-Orient: une guerre de cent ans“, Manière de voir, Nr. 11, März 1991.

* Irakischer Forscher, Verfasser von „Irak: Etat et société 1980–1992, Kairo (Ibn Chaldun) 1992

Le Monde diplomatique vom 13.09.1996, von Falih A.Dschabar