Getreten, umarmt, getreten
■ Blutige Krawalle, eine israelische Armee, die unter Mißachtung der Osloer Vereinbarungen in das Autonomiegebiet eindringt, Dutzende von Toten, ein Aufstand, wie ihn Jerusalem, Gaza und
Blutige Krawalle, eine israelische Armee, die unter Mißachtung der Osloer Vereinbarungen in das Autonomiegebiet eindringt, Dutzende von Toten, ein Aufstand, wie ihn Jerusalem, Gaza und das Westjordanland seit der Intifada nicht gesehen haben: Drei Jahre nach dem Händedruck zwischen Jitzhak Rabin und Jassir Arafat bedroht Netanjahu den Frieden zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn und damit die Ordnung, die nach dem Golfkrieg von den USA so mühsam durchgesetzt wurde. Zudem führt Ankaras Armee ihren Feldzug gegen kurdische Aufständische fort, und die jüngste Krise im irakischen Kurdistan endete mit einem Erfolg für Bagdad: Durch das Bündnis mit Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans hat Sadam Hussein im Norden wieder festen Fuß gefaßt. Wie das Leid der Palästinenser findet auch das Leid der Kurden kein Ende.
Von KENDAL NEZAN *
DER Einmarsch der irakischen Truppen im Norden des Landes, der mitten in den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf platzte, hat die USA zu einem Vergeltungsschlag veranlaßt, aber weder die rund vierzig Marschflugkörper, die auf irakische Militärstützpunkte im Süden abgefeuert wurden, noch die Ausdehnung der Flugverbotszone vom 32. bis zum 33. Breitengrad haben an der Lage vor Ort etwas ändern können.
Die von Bagdad unterstützte Demokratische Partei Kurdistans (KDP) hat die Kämpfer der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) binnen einer Woche aus ihren Hochburgen Erbil und Sulaimanijja vertrieben und kontrolliert jetzt die gesamte kurdische „Schutzzone“. Der Irakische Nationalkongreß (INC), ein von Washington finanzierter Dachverband prowestlicher Saddam-Gegner, ist endgültig zusammengebrochen. In aller Eile mußte das Pentagon über die Türkei etwa 2500 Personen aus dem Nordirak herausholen, die mit militärischen oder zivilen US-Einrichtungen kollaboriert hatten.
In dieser neuen Kraftprobe steht Washington ziemlich einsam da. Selbst Verbündete aus der Region, wie die Türkei oder Saudi-Arabien, wollen nicht kooperieren, während Frankreich und Rußland die amerikanische Aktion offen kritisieren. Von der Golfkriegsallianz, die Kuweit befreite, scheint nur noch die angelsächsische Achse intakt zu sein, und der Herrscher von Bagdad nutzt dies, um allen zu zeigen, daß man ihn zu früh für tot erklärt hat: Immer noch verfügt er über eine schlagkräftige Armee, und die Zeit arbeitet für ihn.
Im April 1991 wurde unter Berufung auf die UNO-Resolution 688, die auf Betreiben Frankreichs verabschiedet worden war, im Nordirak eine Schutzzone eingerichtet, während Patrouillenflüge der Amerikaner, Franzosen und Briten nördlich des 36. Breitengrads die Sicherheit garantieren sollten. Durch diese gemeinsame Aktion der drei Westmächte, die sogenannte Operation „Provide Comfort“, konnten zwei Millionen kurdische Zivilisten, die in den Iran oder die Türkei geflohen waren, in ihre Heimat zurückkehren.
Hinter dieser humanitären Aktion stand jedoch nie der politische Wille, der Bevölkerung die Mittel zu verschaffen, die nötig wären, um ihre Selbstverwaltung zu finanzieren, die Wirtschaft wieder anzukurbeln und das zerstörte Land wiederaufzubauen, in dem auch Ackerbau und Viehzucht darniederlagen, weil der irakische Diktator außer 20 Städten auch 4500 Dörfer ausradiert hatte. Mit Rücksicht auf den wichtigen Bündnispartner Türkei, dem auch außerhalb der eigenen Grenzen jeder staatsähnliche Zusammenschluß der Kurden ein Dorn im Auge ist, und auf die kritischen Reaktionen aus arabischen Ländern, die eine Zerstückelung des Irak befürchteten, überließen die Alliierten die vier Millionen Kurden dieser Schutzzone – die siebenmal so groß ist wie der Libanon – ihrem prekären Schicksal.
Nach dreißig langen Kriegsjahren waren die irakischen Kurden also auf sich allein gestellt. Und das in einer Enklave ohne Zugang zum Meer, umringt von feindlichen Staaten und vollends isoliert durch das internationale Embargo gegen den Irak, das ihnen die Einfuhr einfachster technischer Geräte verbot und jedes Entwicklungsprojekt unmöglich machte. Verschärft wurde diese Isolation seit dem Oktober 1991 durch eine innerirakische Blockade. Bagdad zog alle Beamten aus den kurdischen Provinzen ab und drehte den Ölhahn zu: Weder Heizöl noch Benzin durften in die Schutzzone geliefert werden.
Das war nicht der einzige Mangel. Als die irakischen Truppen aus Kurdistan abgezogen waren, hatten sie die Systemfestplatte der Telefonzentrale von Dohuk mitgenommen. Damit die 400000 Einwohner der Stadt wieder telefonieren konnten, versuchte eine regierungsunabhängige Organisation (NGO) aus Frankreich monatelang, dieses Teil zu kaufen, das ungefähr 6500 Mark kostet. Unmöglich – wegen des Irak-Embargos. UN-Stellen lehnten auch den Vorschlag ab, in Kurdistan eine kleine Ölraffinerie aufzubauen, obwohl mehrere Fördertürme problemlos reaktivierbar gewesen wären. Es hätte die Energieversorgung der Kurden gesichert und nur ein Viertel der Summe gekostet, die von der UNO jährlich an Bagdad für Heizöl gezahlt wurde. Überdies hätte man die perversen Auswirkungen des von Bagdad festgesetzten Wechselkurses bedenken sollen: Wenn UN-Stellen 100 Dollar im Irak ausgaben, flossen 96 davon in die Kassen des Regimes, und nur 4 kamen wirklich bei den Kurden an.
Mit Hilfe westlicher NGOs ist es den Kurden dennoch gelungen, die meisten der zerstörten Dörfer wiederaufzubauen. Man betreibt wieder Ackerbau, die Schulen wurden wieder geöffnet, und es gibt sogar drei funktionierende Universitäten. Die seit 1988 in einer Einheitsfront zusammengeschlossenen acht politischen Parteien verabschiedeten ein Wahlgesetz, und im Mai 1992 gab es freie Wahlen zu einem Regionalparlament, das eine Regionalregierung bestimmte. Die mit 45,2 Prozent der Stimmen und 51 von 100 Sitzen siegreiche KDP Barzanis überließ einen Sitz der PUK, die auf 49 Sitze gekommen war, so daß zwischen den beiden wichtigsten Parteien des Landes im Parlament Stimmengleichheit herrschte. Talabani beschwor daraufhin die „unzerstörbare Einheit des kurdischen Volks“. Die sechs anderen Gruppen der Front waren an der Fünfprozenthürde gescheitert.
Weil man die Nachbarstaaten nicht beunruhigen wollte, sprach sich das kurdische Parlament für einen Föderalismus aus, der die territoriale Integrität des Irak respektiert. Die Regierung in Ankara, die ihren „schmutzigen Krieg“ gegen die aufständischen Kurden nicht auf türkisches Territorium beschränken wollte, hatte keine Skrupel, ihre Armee mehrmals in den Nordirak einmarschieren zu lassen, mit dem Ziel, „Stützpunkte und Nachschublinien“ der PKK zu zerstören.1 Um der Türkei keinen Vorwand für Invasionen zu bieten, haben irakische Kurdenmilizen ab Oktober 1992 PKK-Kämpfer aus Stellungen auf ihrem Gebiet vertrieben.
Obwohl die neue kurdische Regierung sich zwei Jahre darum bemühte, hat kein westlicher Staat sie unterstützt. Die Türkei gab ihre Interventionspolitik nicht auf; am 20. März 1995 drangen 35000 Soldaten in die sogenannte Schutzzone ein, sechs Wochen dauerte das Morden und Zerstören.
Die junge Kurdenadministration war so arm, daß an eine autonome Polizei nicht zu denken war; nicht einmal die unentbehrlichsten Beamten ihrer Verwaltung konnten regelmäßig bezahlt werden. So kam es, daß alte Parteimilizen aus der Zeit des Guerillakampfs die öffentliche Ordnung aufrechterhalten mußten. Angesichts steigender Kriminalität in einem Land, in dem bittere Armut herrscht und mehr als die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung ohne Beschäftigung ist, angesichts bewaffneter islamistischer Gruppen, die mit iranischem Geld gebildet wurden, und nicht zuletzt angesichts der destabilisierenden Umtriebe Bagdads und der Nachbarstaaten wurden die Milizen der beiden kurdischen Koalitionsparteien zügig verstärkt und präsentierten sich als der „bewaffnete Arm“ einer Regierung, die in Wahrheit keinen Einfluß auf sie hatte. Ihre wirklichen Herren waren Barzani und Talabani.
Diese aber gehörten nicht der Regierung an: Die Nachbarstaaten und die westlichen Länder, die unsere Regierung nicht anerkennen – so ihre Begründung –, würden uns nicht empfangen, wenn wir offizielle Ämter bekleideten. Diese Logik und die Gewohnheiten der Vergangenheit sorgten dafür, daß die spärlichen Hilfen, die beide dank ihrer Kontakte zum Ausland lockermachen konnten, jeweils der eigenen Partei zuflossen.
Seit eine geheime Direktive des Präsidenten vom Mai 1991 gezielte Störaktionen gegen das irakische Regime angeordnet hatte, flossen freigiebig amerikanische Gelder in die Aufstellung und Ausrüstung von Milizen und bewaffneten Gruppen der irakischen und kurdischen Opposition. Höchstwahrscheinlich haben die beiden Kurdenchefs einen Teil der 100 Millionen Dollar abbekommen, die der CIA angeblich im Irak „investierte“ und die über den in London residierenden Irakischen Nationalkongreß und den „National Accord“ in Amman flossen.2 Dieses Programm, das etwa ein Zehntel des Gesamtbetrags verschlang, den die Amerikaner flüssigmachten, um „Saddam Husseins Pläne zu stören, ihn zu demütigen und zu schwächen“, hatte die mißliche Folge, die großen Milizen in einem Maße zu finanzieren, daß die Türkei, sehr zu Unrecht, schon die Bildung einer kurdischen Armee fürchtete.
In einer zerrütteten und zerstückelten Gesellschaft, in der es nach drei Jahrzehnten Diktatur keine Kultur des Kompromisses und keine Vermittlungsinstanzen gab, führte die Vorherrschaft der Milizen schließlich zum Bürgerkrieg. Und dies um so schneller, als die Administration, die das Elend bekämpfen sollte, ohne über die nötigen Mittel zu verfügen, in den Augen der Bevölkerung ihre Glaubwürdigkeit einbüßte. Da für Fehlschläge niemand verantwortlich zu sein pflegt, schob jede Partei der anderen die Schuld für die entstandene Lage zu, bezichtigte sie der Vetternwirtschaft oder der Veruntreuung von Geldern. Und schon waren die alten Dämonen wieder da.
Nach den ersten Zusammenstößen im Mai 1994 schienen die Führer beider Parteien noch bereit, das Kriegsbeil zu begraben. Man bedauerte die „Fehlentwicklungen“, das Parlament trat wieder zusammen, und die beiden rivalisierenden Chefs entschuldigten sich gegenüber Volk und Parlament dafür, daß sie die Bruderkämpfe nicht verhindert hatten. Danach reisten Delegationen beider Parteien nach Frankreich, wo sie, diskret assistiert vom Elyseepalast, eine Woche lang alle Streitfragen erörterten. Ergebnis war ein Abkommen, nach dem die Milizen aufzulösen und eine regierungstreue autonome Polizei zu schaffen waren. Zudem sollten die internationale Gemeinschaft und insbesondere die an der Operation „Provide Comfort“ beteiligten Staaten die autonomen Kurdenorganisationen anerkennen.
Als die Türkei von dieser Vereinbarung erfuhr, entfesselte sie einen wahren Mediensturm, und ihre Diplomaten protestierten gegen den angeblich entstehenden Kurdenstaat. Mit Rücksicht auf Ankara haben die USA und ihre Verbündeten diesem Abkommen, das den Bürgerkrieg hätte verhindern können, die Unterstützung verweigert. Am 19. September 1994 erklärte uns Präsident Mitterrand enttäuscht: „Die Türken sagen, daß die irakischen Kurden einen Staat bilden wollen, und Washington will ihnen keine Ungelegenheiten bereiten. Die Wünsche der Kurden scheinen mir legitim zu sein, doch in dieser Angelegenheit würden mir weder unsere Verbündeten noch meine eigene Regierung folgen. Sie erkennen nicht, welche Gefahren drohen, wenn sich die Situation weiter verschlechtert.“
Im Dezember 1994 hatte die Situation sich verschlechtert, und erneut kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Talabanis PUK errang die Herrschaft über Erbil, wo sich Parlament und Regierung der Kurden befinden; beide Institutionen waren damit praktisch handlungsunfähig. Im Frühjahr 1995 spitzte sich der Konflikt zu, und das amerikanische Außenministerium entsandte einen Vertreter, der zwischen den kurdischen Bürgerkriegsparteien vermitteln sollte. Diese Mission führte im August zum Abschluß eines Waffenstillstandsabkommens in der irischen Stadt Drogheda, das insbesondere vorsah: Die Kämpfer der PUK sollten aus Erbil abziehen, und die an der türkisch- irakischen Grenze kassierten „Zölle“ sollten nicht mehr von der dort herrschenden KDP, sondern von einer unabhängigen Kommission verwaltet werden. Um die Einhaltung des Abkommens zu überwachen, wären lächerliche 3 Millionen Dollar nötig gewesen – der Preis für drei Cruise Missiles! Doch Washington hat das Geld nie freigegeben, was die Kurdenführer an der Ernsthaftigkeit des Vermittlungsversuchs zweifeln ließ. Auch der Iran, der sich in dieser strategisch wichtigen Region nicht weniger als die USA um Einfluß bemüht, bot sich öffentlich als Vermittler an, weil er, wie auch Syrien, unter allen Umständen eine Pax americana verhindern will.
„Barzaniland“ gegen „Talabaniland“
DIE Logik der militärischen Konfrontation und die regionalen Bestrebungen um Selbständigkeit hatten faktisch eine Aufteilung des irakischen Kurdistan zur Folge. Im Norden erstreckte sich bis zur Türkei ein „Barzaniland“, südlich von Erbil und angrenzend an den Iran ein „Talabaniland“. Über die Bündnisse entschied die geographische Lage. Gefangen in diesem unbarmherzigen Räderwerk, wurden die Kurdenführer mehr und mehr zu Chefs von Bürgerkriegsparteien, die ihre Klientel zu versorgen haben.
Nachdem Massud Barzani versucht hatte, sich mit der Türkei zu verbünden, und sei es auch nur, um die Stromversorgung für sein Territorium sicherzustellen, schreckte er angesichts des allzuhohen Preises dann letztlich doch zurück, denn Ankara verlangte als Gegenleistung ein härteres Vorgehen gegen die PKK. Daraufhin knüpfte Barzani „Handelsbeziehungen“ mit Bagdad an, das ihm gegen Dollar Strom und Heizöl liefern wollte. In der Überzeugung, die Vereinigten Staaten würden, trotz ihrer Brandreden gegen den Despoten von Bagdad, Saddam im Amt lassen und letztlich auch nicht davor zurückscheuen, die Kurden zur gegebenen Zeit, wie schon 19753, auf dem Altar ihrer Interessen zu opfern, hat sich Barzani auf einen „politischen Dialog“ mit Bagdad eingelassen. Dieser „Dialog“ trieb ihn schließlich Ende August zu dem, was er selbst eine „Verzweiflungstat“ nennt: Er bat Bagdad um Hilfe „gegen die Angriffe der vom Iran unterstützten Kämpfer der PUK“.
Talabani hatte seinerseits schon 1991, als die Kurden noch in Massen vor der irakischen Armee fliehen mußten, diesen unmöglichen Dialog mit Präsident Saddam Hussein gesucht und sich dabei nicht einmal gescheut, vor Fernsehkameras den Diktator zu umarmen. Vier Jahre später mußte er sich dem Iran annähern, „um seine Bevölkerung ernähren zu können und eine Tür zur Außenwelt zu haben“. Und das natürlich zu Teheraner Bedingungen, wobei es nicht genügte, die üblichen Lobeshymnen auf Ayatollah Chomeini und die Islamische Republik anzustimmen; er mußte überdies die aus irakischen Schiiten bestehende Badr-Einheit und die Wächter der Revolution auf seinem Territorium operieren lassen. Dies führte schließlich Ende Juli dieses Jahres dazu, daß 3000 Revolutionsgardisten in das irakische Kurdistan einmarschierten, unter Führung von Sahrarudi, einem Mitverantwortlichen für das Attentat auf den iranischen Kurdenführer Abd al-Rahman Ghassemlou4.
Nach ihrem Empfang in Sulaimanijja rückten die Revolutionsgardisten mehr als hundert Kilometer durch das von Talabani kontrollierte Gebiet vor, um die Lager iranischer Kurden in der Nähe von Kuisandschak zu bombardieren. Da Barzani ihnen verbot, sein Territorium zu betreten, versprach Sahrarudi ihm eine „exemplarische Bestrafung“.
Zwei Wochen später, am 17. August, nahm schwere iranische Artillerie die an der strategisch wichtigen „Hamilton Road“ gelegenen Ortschaften Choman und Hajomran unter Beschuß, während die PUK an mehreren Fronten zum Angriff überging. Zur Überraschung der US- Regierung, für die diesmal der stellvertretende Außenminister Robert Pelletreau die beiden Kurdenführer wieder zur Vernunft bringen sollte, war der Waffenstillstand gebrochen worden. Da Barzani sich von den Kämpfern der PUK und des Iran umzingelt wähnte, bat er in seiner Not zuerst die Vereinigten Staaten um Beistand. Als Washington ablehnte, wandte er sich am 22. August an Saddam Hussein und ersuchte ihn um Hilfe „gegen die Invasion des Iran und der mit ihm verbündeten Kämpfer der PUK“.
Der Bürgerkrieg, der seit dem Mai 1994 im irakischen Kurdistan immer wieder aufgeflammt war und bereits mehr als 2000 Tote gefordert hatte, weitete sich jetzt zwangsläufig aus. Er endete vorläufig mit dem Sieg der KDP. Dank ihrer Allianz mit Bagdad konnte sie die Herrschaft über alle drei Provinzen erobern, aus denen sich das autonome Kurdengebiet zusammensetzt. Der Iran ist Talabani nicht zu Hilfe geeilt; offenbar wollte er ihn erst auf die Knie zwingen, um ihm besser seine Bedingungen diktieren zu können.
Durch seinen Erfolg gestärkt und um Schadensbegrenzung bemüht, hat Massud Barzani versprochen, „noch vor Ende 1996“ allgemeine Wahlen durchführen zu lassen. Alle Bürgerkriegsbeteiligten sollen amnestiert werden, auch Dschalal Talabani, und alle Parteien dürfen zur Wahl antreten, vorausgesetzt, sie stellen keine bewaffneten Milizen auf. Überdies hat Barzani verkündet, daß er „trotz einer zweckgebundenen, provisorischen Allianz“ von Bagdad unabhängig sei und sich mit dem Irak nur im Rahmen einer Föderation verbinden wolle. So jedenfalls hat er sich in einem Brief an Präsident Bill Clinton geäußert, in dem er darum bittet, Amerika und seine Verbündeten mögen die Kurden auch weiterhin, wie früher auch schriftlich zugesichert, vor irakischen Angriffen schützen. Außerdem bat er den US-Präsidenten um die Lieferung von schweren Waffen, damit er seine Unabhängigkeit gegenüber Bagdad behaupten könne. Auf dieses Hilfeersuchen hin hat Washington Robert Pelletreau erneut entsandt, der sich mit Barzani am 18. September 1996 in der Türkei getroffen hat.
In Ankara fand sich Barzani bereit, die Sicherheit der Ölpipeline und der Handelswege, die durch sein Gebiet führen, zu garantieren und zuzusichern, daß die turkmenische Minderheit unter der Regionaladministration keine Repressionen erleiden wird. „Ich verlange“, fügte er hinzu, „daß die Türkei und die Alliierten einen föderalen kurdischen Staat anerkennen.“
Zum Zeichen wiedereingekehrter Normalität trat in Erbil unterdessen erneut das Parlament zusammen. 69 Abgeordnete waren anwesend und beauftragten den früheren Vizepremierminister Roznuri Schawesch (KDP), ein neues Kabinett zu bilden, das bislang von einem Mitglied der PUK geführt wurde. Eine Delegation reiste in den Iran, um sich mit Talabani zu treffen und ihn zu überreden, nach Kurdistan zurückzukehren und auf Guerillaaktionen zu verzichten. Doch es dürfte schwerfallen, den irakischen Kurden Vertrauen und Hoffnung in ihre Zukunft zurückzugeben.
Nach dreißig Jahren Krieg und weiteren fünf Jahren permanenter Unsicherheit scheint sich die kurdische Bevölkerung über ihre in Verruf geratenen Führer und die westlichen Länder keine Illusionen mehr zu machen. Fürs erste wird sie mit jedem zufrieden sein, der ihr Brot und Frieden bringt, denn die erträumte Freiheit ist in weite Ferne gerückt. Wieder einmal ist nicht abzusehen, wann der kurdische Leidensweg ein Ende hat.
dt. Andreas Knop
1 Siehe Kendal Nezan, „Dernier quart d'heure pour l'armée turque“, und Jean-François Pérouse, „Terre brulée au Kurdistan“, im Themenheft über „Conflits fin de siècle“ von Manière de voir, Nr. 29, Februar 1996.
2 Vgl. The Washington Post, 16. September 1996.
3 Das auf Betreiben der USA am 6. März 1975 von Irak und Iran unterzeichnete Abkommen von Algier beendete die Grenzstreitigkeiten zwischen den beiden Ländern und führte dazu, daß der Iran den Kurdenaufstand im Irak nicht mehr unterstützte, der nur wenige Wochen später zusammenbrach.
4 Dr. Abd al-Rahman Ghassemlou, Generalsekretär der Kurdischen Demokratischen Partei Irans, wurde am 13. August 1989 in Wien von Agenten das iranischen Regimes ermordet.
* Vorsitzender des Pariser Kurdeninstituts.