DIE SCHWARZBUCH-DEBATTE ENTZWEIT FRANKREICH
■ Schießen Sie nicht auf den Kommunisten
DAS Vorwort zum „Schwarzbuch des Kommunismus“, in welchem der französische Historiker Stéphane Courtois die „Verbrechen“, die im Namen des Kommunismus begangen wurden, bilanziert, klingt wie eine Anklagerede. Der Autor zieht einen skandalösen Vergleich zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus und bringt die Idee eines „Nürnberger Prozesses des Kommunismus“ ins Spiel, in dem die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müßten. Auch wenn die im Buch enthaltenen Zahlen manipuliert, ja nachgerade gefälscht sind und sich diverse Mitautoren von Courtois distanziert haben, loben etliche Journalisten das Buch in den höchsten Tönen, auch solche, die es noch gar nicht gelesen haben.
Von GILLES PERRAULT *
Bis zum heutigen Tag kann die Zahl der Toten, die auf das Konto französischer Kolonialrepression gehen, nur annähernd beziffert werden: Für die Niederschlagung des Aufstands im algerischen Sétif (1945) schwanken die Schätzungen zwischen 6000 und 45000 Toten. In Madagaskar (1947) soll es 80000 Opfer gegeben haben. In Indochina (1946-1954) schwanken die Zahlen je nach der Quelle zwischen 800000 und 2 Millionen, in Algerien (1954-1962) zwischen 300000 und 1 Million. Selbst wenn man Tunesien und Marokko außer acht läßt und den Anteil der Franzosen an der Verantwortung für Katastrophen der jüngeren Zeit wie beispielsweise den Völkermord in Ruanda nicht berücksichtigt, bietet diese düstere Bilanz schon ausreichend Belege dafür, daß Frankreich mit diesem Verhältnis zwischen Zahl der Opfer und durchschnittlicher Bevölkerungszahl durchaus zu den Spitzenreitern unter den metzelnden Nationen der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zählt.
Angesichts der Hartnäckigkeit und Ausdauer, mit der die Taten durchgeführt wurden, könnte der Betrachter zu dem Schluß kommen, daß derlei Verbrechen zum Wesen dieser politischen Regime zu gehören scheinen. Und um Verbrechen geht es. Denn die Unterdrückung, die über zweihundert Jahre lang sowohl in Afrika wie auch in Asien praktiziert wurde, weist die typischen Merkmale der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ auf, wie sie im neuen französischen Strafgesetzbuch definiert sind: die gehäufte, systematische Durchführung von Massenerschießungen, der Abtransport von Personen, die anschließend verschwinden, Folter, inhumane Handlungen und so weiter.
Die einzige nennenswerte politische Organisation, die dagegen Stellung bezogen hat, war die PCF, die französische kommunistische Partei. Die Veteranen der Partei erinnern sich nach wie vor schmerzlich an die Isolierung, in der sie die vielen Kämpfe durchlebten. Die Gegenseite, ganz im Gegenteil, geht unbeschwert über die eigene Geschichte hinweg; anscheinend von keiner unbequemen Erinnerung getrübt schwenkte François Bayrou (der politische Erbe der Christdemokraten, die mehr als jede andere politische Gruppierung an der Kolonialherrschaft und -unterdrückung mitwirkten) jüngst im Parlament das „Schwarzbuch des Kommunismus“ in Richtung der politischen Gegnerbänke.
Bei diesem Buch handelt es sich im Grunde um mehrere Bücher. Eine heterogene Textsammlung, welcher der Herausgeber Stéphane Courtois durch die Abfassung einer Einleitung und eines Schlußwortes Geschlossenheit zu verleihen sucht. Eigentlich, so erfährt man, habe der verstorbene François Furet das Vorwort schreiben wollen. Das wäre zumindest intelligent ausgefallen. Courtois hat sich auf etwas Neues besonnen: Er erhebt die Praktiken aus der Werbung zu geschichtswissenschaftlichem Rang. (Entsprechend bedauert er, nachdem er die Bedeutung des „Fotoschocks“ analysiert hat, lang und breit die Tatsache, daß der Band so spärlich bebildert ist.) Seine Behauptungen sind so wirkungsvoll wie Werbeslogans. Wie die Wolkenfront das Gewitter, so natürlich bringt der Kommunismus den Terror. Das war so und wird auf ewige Zeiten im genetisch-politischen Code festgeschrieben sein.
Ist nicht Thomas Morus, dem Autor von „Utopia“, der 1535 von Heinrich VIII. geköpft wurde, ein Denkmal an den Mauern des Kreml errichtet worden? Anstatt die Deportation der Wolgadeutschen im Jahre 1941 kommentarlos auf die Liste der Verbrechen zu setzen, wäre es angemessener gewesen, darauf hinzuweisen, daß zu diesem Zeitpunkt, da das Land um das Überleben kämpfte, strategische Erwägungen zumindest einen Ansatz einer Rechtfertigung liefern können. Schließlich haben die Vereinigten Staaten ohne jeglichen Prozeß für die Dauer des gesamten Krieges Tausende japanischer Einwanderer interniert, wobei diese sich zum Teil seit langer Zeit im Lande niedergelassen hatten und mit Sicherheit keine der Maßnahme entsprechende potentielle Gefahr darstellten.
Gulag und Vierte Republik
STÉPHANE Courtois verfolgt mit seiner Kampagne ein ehrgeiziges Ziel. Aus dem Wissen heraus, daß die Verbrechen der Nazideutschen, insbesondere der Versuch der Vernichtung der europäischen Juden, sich im kollektiven Gedächtnis als die absolute Schändlichkeit eingeprägt haben, versucht er, eine Analogie zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus zu kreieren. Die Zahlen von 25 Millionen Opfern auf der einen und schätzungsweise 100 Millionen Opfern auf der anderen Seite stehen als der angebliche Beweis dafür, daß letzteres viermal so verbrecherisch war wie ersteres. Gewiß, die Opfer lassen sich nicht vergleichen. Juden und Zigeuner wurden ihrer Rasse wegen umgebracht. Wenn Courtois die in ihrer Revolutionsrhetorik nicht gerade differenzierten Bolschewiken zitiert, muß er zugeben, daß die Liquidierung ihrer Feinde, der Bourgeoisie, der Kulaken und so weiter, immer „ihrer Klasse wegen“ erfolgen sollten. Also kreiert er als Gegenstück zum „Rassen-Genozid“ den „Klassen-Genozid“ – ein intellektueller Betrug, der durch seine Dreistigkeit verblüfft. In den Augen der Nazis blieb ein Jude von der Zeugung bis zum Tod durch sein Judentum definiert.
Ein seines Hab und Gutes beraubter Bourgeois ist kein Bourgeois mehr. Die französische Revolution hat die Liquidierung der Aristokratie als Klasse oder Kaste angestrebt und in gewissem Maße auch durchgesetzt. Doch die zuvor ihrer Titel und Besitztümer Beraubten waren nicht automatisch dem Schafott geweiht, das sie im übrigen seltener bestiegen als Bauern oder Arbeiter.
Stéphane Courtois schreibt: „Der Tod eines ukrainischen Kulakenkindes, das das stalinistische Regime gezielt der Hungersnot auslieferte, wiegt genauso schwer wie der Tod eines jüdischen Kindes im Warschauer Ghetto, das das Naziregime gezielt der Hungersnot auslieferte.“ Dieser Vergleich ist wertlos, denn ein ukrainisches Kind, das die Hungersnot überlebte, hatte eine mögliche Zukunft, das jüdische Kind jedoch starb, wenn es dem Hungertod entkam, in den Gaskammern von Treblinka.
In seinem Eifer der Verdrehung der Fakten bezieht sich Stéphane Courtois auf den SS-Kommandanten Rudolf Höß, der sein Konzept der Lagerhierarchie angeblich aus einer Ausbildungsbroschüre über die sowjetischen Lager bezogen haben will. Doch das Lager, das Rudolf Höß aufbaute – nämlich Auschwitz – hatte weder ein Vorbild noch seinesgleichen, und kein vernunftbegabtes Wesen könnte auf die Idee kommen, es mit dem schrecklichsten aller Gulag-Lager zu vergleichen. Man kann es drehen und wenden, wie man will, die Einzigartigkeit der Shoah ist ein unumstößlicher Fakt, an dem auch Courtois nicht vorbeikommt.
Mit Nicolas Werth, der über 250 Seiten – eigentlich ein eigenes Buch – dem Thema „Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion“ widmet, können wir den propagandistischen Teil endlich hinter uns lassen und uns wieder mit ernsthafter Geschichtsschreibung auseinandersetzen. Aber warum erscheint diese bemerkenswerte Arbeit unter so zweifelhafter Flagge? Herausgeber Courtois liefert uns in seinem Hang zum Spektakulären die folgende Prognose für das Bild, das die Geschichtsschreibung dereinst von Stalin zeichnen wird: „Ohne Zweifel wird er in den Augen der Historiker als der größte Politiker des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen, denn ihm gelang es, die kümmerliche Sowjetunion des Jahres 1922 in den Rang einer Weltsupermacht zu befördern.“
In Nicolas Werths Beitrag findet sich für diesen unbestreitbaren Aufstieg keine Erklärung. Niemand bezweifelt, daß die sowjetische Gesellschaft wirklich so gequält und gemartert war, wie er es in allen Einzelheiten beschreibt. Aber das kann nicht alles gewesen sein, denn weder die in ihrem wirtschaftlichen Ertrag kaum ergiebige Zwangsarbeit im Gulag noch die totale Unterdrückung der Intelligenzija können erklären, wie diese dynamische Entwicklung des Landes zustande kam. Die Reduzierung der Geschichte der Sowjetunion auf den Terror ist eine ebenso grobe Verkürzung, als wenn man die Geschichte der Vierten Republik Frankreichs auf die kolonialen Greueltaten reduzieren wollte, ohne darauf einzugehen, daß es diesem glücklosen Regime immerhin gelang, dem von Krieg und Okkupation ausgezehrten Frankreich zu Aufschwung und neuem Wohlstand zu verhelfen.
Eine solche selektive Darstellung trägt nicht zum Verständnis der Vergangenheit bei und läßt selbst die Gegenwart als ein Rätsel erscheinen. Der blinde Leichtsinn des Westens, allen voran der Intellektuellen, wird in diesem Buch heftig getadelt. Courtois geht sogar so weit, sich zu empören, daß heutzutage „offenkundig revolutionäre Gruppen aktiv sind, die völlig legal [Hervorhebung LMd] ihre Ansichten äußern können und jeglicher Kritik an den Verbrechen ihrer Vorgänger mißtrauen (...)“.
Die Bevölkerung im Osten sieht klarer, und ihre Erinnerung ist genauer. Wäre das Regime, unter dem sie gelebt hat, nur auf eine elende Folge blutiger Unterdrückungen zu reduzieren, so ließe sich kaum erklären, daß die kommunistische Idee dort immer noch so viele Anhänger findet. Wie kommt es, daß in Polen, dessen harte Prüfungen Andrzej Paczkowski in Erinnerung ruft, nur ein paar Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetblocks die Neokommunisten nach einer demokratisch verlaufenen Wahl den Präsidenten und die Parlamentsmehrheit stellen können?
Was schließlich soll man von einem Denken halten, das systematisch Zeit und Raum annulliert? Für den Herausgeber trägt die kommunistische Ideologie unweigerlich und unfehlbar immer und überall allein die Verantwortung für einen gleichbleibenden Terror. Jean-Louis Margolin scheint sich solchen Verallgemeinerungen zu widersetzen und weist auf die Bedeutung der konfuzianischen Tradition in den kommunistischen Ländern Asiens (mit Ausnahme Kambodschas) hin und betont dessen spezifische Rolle in der jüngeren Geschichte, insbesondere für deren tragische Aspekte. Pascal Fontaine hätte im Falle Kubas an die regionale Tradition des caudillismo erinnern können, die François Maspero am Beispiel Fidel Castros so überzeugend beschrieben hat. Und welche gedankliche Verirrung schließlich bringt einen dazu, die nicaraguanischen Sandinistas, die ihre Macht demokratisch zur Disposition stellten, und die Verrückten vom Sendero Luminoso in einem Atemzug zu nennen?
Der Große Abwesende bei alledem ist: der Gegner. Die kommunistische Erfahrung wird beschrieben, als habe sie sich in einem geschlossenen Raum, abgeschnitten von aller Welt zugetragen. Warum redet Nicolas Werth nirgends von den Interventionsversuchen des Auslands, die darauf abzielten, die junge bolschewistische Revolution zu stürzen? Das zentrale Ereignis in der Geschichte Kubas ist zweifellos der Landungsversuch 1961 in der Schweinebucht, und die Invasionsarmee war von niemandem geringeren als der mächtigsten Nation der Welt geschult und gerüstet worden. Erst dieses Ereignis erklärt die flächendeckende Kontrolle und Überwachung der gesamten Insel durch die revolutionären Verteidigungskomitees. Erwähnt wird die Schweinebucht nur ganz nebensächlich, insofern sie Castro einen Vorwand lieferte für das Verbot der Zeitschrift La Quincena.
Die amerikanische Entschlossenheit, dem sandinistischen Experiment um jeden Preis ein Ende zu bereiten – und sei es durch die Blockade und Verminung der Häfen – wird nicht ein einziges Mal erwähnt. Dabei ist bekannt, daß Furcht vor Einkesselung, Intervention und Blockade einen fruchtbaren Boden für jedwede repressive Paranoia abgeben. Indem die Autoren die äußeren Faktoren beiseite lassen, kreieren sie das Bild einer im Innersten bösen, perversen Struktur in einer Welt, die vollständig in die Rolle des passiven oder entsetzten Zuschauers gebannt ist. Doch solche Vereinfachungen annullieren die Dialektik, jenes Gerüst, ohne das die Geschichte sich in eine Geschichte verwandelt, „welche von einem Idioten erzählt wird, in welcher es kracht und wütet, ohne daß das Erzählte einen Sinn ergäbe“.
Der zweite Große Abwesende: die humanitäre Dimension. Nachdem es schon so oft gesagt worden ist, erscheint es fast müßig, noch einmal darauf hinzuweisen, daß schließlich die kämpfenden Kommunisten einem Projekt zugehörten, das universelle und befreiende Ziele hegte. Daß diese Ideale vom Wege abkamen, ändert nichts an den ursprünglichen Motiven, durch die allein sie sich schon hinreichend vom nationalsozialistischen Gegner unterscheiden. Denn deren erklärtes Programm bestand darin – sich selber als eine überlegene Rasse betrachtend –, die Unterwerfung anderer (minderer) Völker zu betreiben, und diese, sofern sie nicht der Vernichtung zugeführt werden sollten, zur Sklaverei zu verurteilen. Ein humaner Nationalsozialismus ist nicht denkbar: Es wäre ein Widerspruch in sich.
Nicht einmal die erschreckende Bilanz der Opfer, die die Perversion des Kommunismus gefordert hat, kann die Hoffnung zunichte machen, die er auf der ganzen Welt symbolisierte. Zweifellos gibt es in der Geschichte der kommunistischen Internationale dunkle Kapitel, doch sie auf das einfache Schema von Stéphane Courtois und Jean-Louis Panné anzuwenden ist eine Verzerrung. Über die „Handlungsreisenden in Sachen Revolution“ findet man bei Malraux, Koestler oder sogar Jan Valtin mehr Wahres als auf diesen Seiten, denn hier, im Schwarzbuch, werden sie zum Bestandteil einer Tötungsmaschinerie, auch wenn sie noch lange in der Vorstellung der Menschen lebendig bleiben werden.
Die Geschichte hat den Nationalsozialismus mit der endgültigen Niederlage gestraft. Die angeblichen Übermenschen wurden entwaffnet und nach Hause geschickt. Ehre und Zukunft des Kommunismus dagegen liegen bei Kämpfern nach dem Vorbild eines Artur London, der sein Leben einem großen Ziel widmete, dafür vom Feind gefoltert und deportiert wurde und der die Tragödie erfahren mußte, von denen gemartert zu werden, die er als die Seinen betrachtet hatte, der von einem gnadenlosen Apparat zerbrochen wurde und doch den Idealen seiner Jugend treu blieb.
Das „Schwarzbuch des Kapitalismus“ hingegen, das noch in keinem Verlag erschienen ist, wird täglich vor unseren Augen geschrieben. Ganze Bevölkerungen krümmen sich unter der Diktatur der Finanzmärkte, wir erleben die Katastrophe der Arbeitslosigkeit, sehen mit an, wie Stammeskriege entfesselt werden, um über Marionettenregierungen Zugriff auf Bodenschätze zu gewinnen. Das Wirtschaftsdiktat wird aufgezwungen von den internationalen Institutionen, die gleichzeitig durch die drastische Reduzierung der öffentlichen Gesundheitsbudgets die Lebenserwartung senken, die zahllose Menschen in die Emigration zwingen, damit sie einer hoffnungslosen Wirtschaftslage entkommen können. Wenn jedes System an der Zahl seiner unschuldigen Opfer gemessen wird, wie schwer wiegen dann die 40000 Kinder, die laut Unicef jeden Tag in der Dritten Welt an Unterernährung sterben?
Das Elend der Menschen verdient etwas Besseres als ein marktschreierisches Buch. Und die Hoffnung auf eine Linderung des Elends verlangt mehr als eine Propagandaoperation.
dt. Esther Kinsky
* Schriftsteller, Autor u. a. von „Doppelmord in der Avenue Victor Hugo“ (1993), „Geheimakte 51“ (1994), “Die Gärten des Observatoriums“ (1996, alle Bücher edition q, Berlin).