Säkulare Revolution für einen neuen Zionismus
Von ZEEV STERNHELL *
DAS Zeitalter der Aufklärung ist auch das des Zweifels. Fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung löst die einsetzende Normalisierung in der israelischen Gesellschaft einen Schock aus. Nie zuvor wurden so viele Fragen nach der eigenen Identität aufgeworfen, noch nie gab es so viele Zweifel an unseren Gründungsmythen, und nie war das Gefühl so verbreitet, ein neuer Aufbruch sei dringend geboten.
Israel ist aus dem Unglück der Juden entstanden. Weil das Land in den dreißiger und vierziger Jahren der einzige Zufluchtsort war – für die Flüchtlinge aus Deutschland und später für die Überlebenden des Genozids – genoß der Zionismus eine politische Unterstützung und moralische Rechtfertigung, ohne die sich die jüdische Gemeinschaft in Palästina sicher nicht mit Zustimmung von zwei Dritteln der UNO-Mitglieder hätte zum Staat erklären können. Dennoch ist die Entstehung Israels keineswegs nur von der Notwendigkeit bestimmt gewesen, die europäischen Juden vor der physischen Vernichtung zu retten.
Der Zionismus entstand in Europa um die Jahrhundertwende und leitete seine Kampagne zur Eroberung Palästinas bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein. Für jene, die den Pogromen, der Erniedrigung und wirtschaftlichen Benachteiligung entfliehen wollten, gab es damals allerdings bessere Lösungen, als einen fernen Landstrich in Besitz zu nehmen oder einen Staat zu gründen. Bis 1924, als die USA ihre Grenzen für die Einwanderer schlossen, hatten von den 2,4 Millionen Juden, die aus Osteuropa geflohen waren, nur 60000 den Weg nach Palästina gefunden. Viele von ihnen verließen das Land wieder, weil sie sich an die harten Lebensbedingungen nicht gewöhnen konnten.
Den Kern der Gründergeneration hingegen bildeten einige tausend junge Männer und Frauen, die sich dort festsetzten: Ihnen ist die politische, wirtschaftliche und kulturelle Organisation zu verdanken, die den Erfolg des zionistischen Vorhabens ermöglichte. Sie waren davon überzeugt, mit einer einzigartigen Mission betraut zu sein, und hegten nicht den geringsten Zweifel, die richtige Geschichtsauffassung zu besitzen. Hart gegen sich selbst wie gegen andere, übernahm diese revolutionäre und glühend nationalistische Elite die Führung bei der Eroberung des Landes. Bis Anfang der siebziger Jahre hielten diese zionistischen Vorreiter alle wichtigen Schaltstellen der Macht besetzt.
Man muß sich diesen Hintergrund vergegenwärtigen, um das heutige Israel und seine Zukunftsperspektiven zu begreifen. Das wichtigste Ereignis in unserer Geschichte ist der Krieg von 1967, auf den die Araber mit dem Krieg von 1973 antworteten. Es ist kein Zufall, daß die unbeabsichtigte Eroberung des Westjordanlands, des Golan und des Sinai – das wichtigste Resultat der arabischen Ablehnungshaltung und des Versuchs, Israel zu vernichten – unsere Gesellschaft in eine unglückliche Lage gebracht hat, aus der sie sich bis heute nicht befreien konnte.
Die Besetzung, die Anfänge der Siedlungstätigkeit und die Annexionsvorhaben, die als „Allon-Plan“ bekannt geworden sind, wurden in den ersten Tagen nach dem Sieg, im Juni 1967, eingeleitet, als die Vertreter der zionistischen Gründergeneration die Zügel der Macht noch in den Händen hielten.
Als die israelische Armee am Jordan und am Sueskanal ihren Vormarsch stoppte und mit ihrer Artillerie bereits hätte Damaskus erreichen können, war es erst vier Jahre her, seit David Ben Gurion, der 1902 aus Polen gekommen war, sein Amt als Ministerpräsident niedergelegt hatte. 1922, als er bereits an der Spitze der Histadrut stand, jener Gewerkschaft und Unternehmensgruppe, die zugleich eine Aufbauorganisation des jüdischen Staates war, hatte Ben Gurion erklärt: „Unser Handeln muß einzig bestimmt und geprägt sein von der Absicht, unser Land zu erobern und es durch eine gewaltige Zahl von Einwanderern neu erstehen zu lassen. Alles andere sind Phrasen.“ Dieser Linie sind er und seine Zeitgenossen auch später stets treu geblieben.
Levi Eschkol, Ben Gurions Nachfolger im höchsten Regierungsamt, gab sich zwar gemäßigt, war aber nicht in der Lage, einen Friedensplan vorzulegen – auch er blieb dem Eroberungsdenken verhaftet, auch für ihn war der Unabhängigkeitskrieg eigentlich erst zu diesem Zeitpunkt beendet. Es ist ein Irrglaube, Eschkol habe damals nur dem vereinten Druck der „Falken“ der jüngeren Generation nachgegeben, also Verteidigungsminister Mosche Dajan, Schimon Peres – ein weiterer Schützling Ben Gurions – oder Jigal Allon, der sich 1948 im Feldzug gegen Ägypten einen Namen gemacht hatte. In Wirklichkeit unterwarf sich der Ministerpräsident ihren Forderungen nur zu gern. Tatsächlich hing der gesamte innere Kreis der Arbeitspartei, die bis 1977 an der Macht war, treu jener Doktrin an, die seit den Anfängen der landwirtschaftlichen Siedlungsprojekte galt: Einmal errungene Vorteile und erobertes Territorium gibt man niemals auf, es sei denn, man muß einer Übermacht weichen.
Diesem Prinzip ist nicht nur die Arbeitspartei verpflichtet, sondern auch der andere Flügel der zionistischen Bewegung: jene „revisionistische“ Rechte etwa, die erstmals 1977 an die Macht kam und auf deren Konto die große Expansionswelle der achtziger Jahre und der Libanonkrieg gehen. Letztendlich läßt sich der Zionismus insgesamt als eine typische Ausformung jenes engstirnigen Nationalismus sehen, der in Europa um die Jahrhundertwende entstanden ist, als der eher weltoffene Nationalismus, der aus der Aufklärung und der Französischen Revolution hervorgegangen war, bereits den Rückzug angetreten hatte.
Der jüdische Nationalismus unterscheidet sich nur unwesentlich von den Nationalismen in Mittel- und Osteuropa: er ist „völkisch“, begründet sich kulturell und religiös, und er beschwört eine heldenhafte Vergangenheit. Er hat keinerlei Problem damit, allen anderen die elementaren Rechte zu verweigern, die er ohne die Spur eines Zweifels für sich selbst einfordert. Für den Zionismus, der es für sein gutes Recht hält, alles Land zu beanspruchen, das einst unseren Königen und Propheten eigen war, ist es undenkbar, daß im biblischen Land noch andere berechtigte Ansprüche bestehen könnten.
Die Anfänge der Kolonisierung sind also nicht aus dem Begeisterungstaumel nach dem militärischen Sieg oder aus der vorübergehenden Abkehr von humanistischen Grundsätzen zu erklären, sondern aus dem Charakter unseres Nationalismus selbst. Hätte man die Gebiete lediglich als Unterpfand behalten wollen, für den Tag, an dem sich die Araber zu Friedensverhandlungen bereit zeigen würden, dann hätte es genügt, sie unter ein strenges Besatzungsregime zu stellen, unter strikter Beachtung des internationalen Rechts.
Nicht nur Golda Meir, ebenfalls eine Vertreterin der Pioniergeneration, war blind für die Bedeutung der arabischen nationalen Bewegung. Ihre Minister, die Generäle Allon und Dajan, waren Kriegshelden und Symbolfiguren des „neuen Juden“ und hatten, obwohl in Palästina geboren, doch kaum andere Wertvorstellungen als die ältere Generation.
Sowohl den führenden Politikern der siebziger Jahre – darunter auch Jitzhak Rabin und Schimon Peres, die 1974 erstmals an die Regierung kamen – wie den national gesinnten Vordenkern der Arbeitspartei, die Anfang des Jahrhunderts eingewandert waren, erschien die Idee, daß zwei Völker ein Anrecht auf Palästina haben könnten, als Verrat an den Grundwerten des Zionismus. Als Individuen durften die Palästinenser gewisse Rechte beanspruchen, aber nicht als nationale Gemeinschaft – Unabhängigkeitsbestrebungen konnte man keinesfalls dulden.
Mit Ausnahme einiger Exzentriker war nach dem Ende des Sechstagekrieges alle Welt mit diesen Prinzipien einverstanden. Und keiner der angeblichen Pragmatiker hatte einen stichhaltigen Einwand gegen das Standardargument: Wenn wir das Recht hatten, Galiläa zu besiedeln, warum nicht auch den Golan? Wenn wir das Land der Araber enteignen durften, die 1948 geflohen oder vertrieben worden waren, warum sollte es Unrecht sein, das Land zu besetzen, das uns 1967 in die Hände gefallen ist?
Nur sehr langsam wuchs der kleine Kreis derer, die den Standpunkt vertraten, mit dem Sieg von 1949 und der Gründung Israels sei so etwas wie eine historische Scheidelinie gezogen worden: Was zuvor vertretbar gewesen sein mochte, war es nach der Staatsgründung nicht mehr.
Der Zionismus erhob einen moralischen Anspruch auf einen Teil Palästinas – nicht etwa auf das ganze Land. Das Recht darauf leitete er aus der existentiellen Notwendigkeit der Juden her, eine Zuflucht zu finden und sich einen Staat zu schaffen. Kein anderes Volk der Welt brauchte so dringend eine Heimstatt wie sie. Aber seit dieses Ziel erreicht war, hatte sich die Situation von Grund auf verändert, und die 1967 besetzten Gebiete durften in keiner Weise mit den Eroberungen von 1949 gleichgesetzt werden. Bis heute besitzen allerdings nur wenige Israelis genug Selbstsicherheit, um diese begriffliche Abgrenzung in aller Klarheit zu formulieren.
Das erklärt, warum bis zu den Verträgen von Oslo niemand die visionäre Kraft besaß, das Banner eines neuen Zionismus zu entfalten, der jenen auf Eroberung ausgerichteten Zionismus aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts hätte ablösen können. Rabin und Peres gebührt das Verdienst, der kleinlichen Debatte ein Ende gesetzt zu haben, mit der sich unsere politische Führungsschicht beschäftigte: der Streit zwischen den Ultra-Annexionisten und den Vertretern der verschiedenen „territorialen Kompromißlösungen“ (Annexion des Golan, des Jordantals und bestimmter Teile von Judäa und Samaria, zugleich Rückgabe der übrigen Teile an König Hussein von Jordanien...). Aber Rabin ist tot, und Peres hat die politische Macht verloren. Dennoch wäre dieser Wandel nicht möglich gewesen ohne die unterschwelligen Veränderungen, die sich seit einiger Zeit innerhalb der israelischen Gesellschaft vollziehen.
Es besteht durchaus ein Zusammenhang zwischen dem israelisch-arabischen Konflikt und der Entwicklung unserer Gesellschaft. Die Territorialpolitik unserer Regierungen – ob sie nun von der Arbeitspartei oder dem Likud gebildet wurden – unterlag seit jeher jener Mystifizierung der Bodenfrage, die sich immer wieder auf die entscheidende Grundannahme des Zionismus zurückbezog: die ungebrochene Kontinuität von Geschichte und Religion. Kaum etwas war in Israel so unumstritten wie dieser Mythos vom Boden, und darum waren sich alle Flügel des Zionismus, die religiösen wie die weltlichen, die rechten wie die linken, trotz aller Meinungsverschiedenheiten darin einig, daß jede Möglichkeit zur Erweiterung der Grenzen genutzt werden müsse. Jedermann ging davon aus, daß der Zionismus sich grundsätzlich über die Kultur, die Geschichte und die Religion definierte. Die Idee einer israelischen Staatsbürgerschaft wurde deshalb zumeist als eine Art rechtlicher Fiktion gesehen – die nichtjüdischen Staatsbürger gehörten de facto einfach nicht zur Familie.
Erst als die tiefen Risse im Konstrukt des historisch-religiösen Kontinuums ans Tageslicht kamen, wurden die Oslo-Verträge möglich. Allein die Tatsache, daß der Staat existierte, hat eine neue Dynamik hervorgebracht. Die Lebensumstände der Juden haben sich seither normalisiert, eine dritte und vierte Generation von Israelis ist ins Berufsleben eingetreten, wir sind moderner und weltoffener geworden – all das hat zu Erscheinungen geführt, die früher undenkbar waren. Die Gesellschaft erfährt eine Liberalisierung, die den eindimensionalen Zionismus von einst zum Scheitern verurteilt.
Erstmals zeichnet sich eine individualistische, weltliche Lebensauffassung ab, in der die Identität des einzelnen auf dem Wunsch nach Freiheit, Selbstbestimmung und freier Willensäußerung beruht und nicht mehr auf der Geschichte und ewigen steinernen Zeugnissen. Dieser neue Typus des Israeli – jüdisch, aber weltlich orientiert – bildet noch eine Minderheit, aber er ist nicht zu übersehen. Er beruft sich auf jene Werte, die vor nunmehr zwei Jahrhunderten von der Französischen Revolution durchgesetzt wurden, und hat sich im Verlauf der letzten Jahre eine unabhängige Identität aufgebaut, die mit der Religion der Vorväter und der „göttlichen Verheißung“ nichts mehr zu tun hat.
Dies ist eine Umwälzung, gegen die der Blut-und-Boden-Zionismus mobilmacht: Die Siedler im Westjordanland und ihre Vertreter in der Likud-Partei haben durchaus recht in ihrer Überzeugung, es bedeute das Ende einer Epoche, wenn den Palästinensern nationale Rechte zugestanden würden. Israel befindet sich in einem stetigen, obgleich oft allzu zögernden und langsamen Prozeß der Annäherung an die Werte der Aufklärung. Unter den Intellektuellen wächst die Zahl derer, die sich heute dem Nationalismus Michelets näher fühlen als den Vorstellungen Herders, die zu Beginn des Jahrhunderts im osteuropäischen Zionismus eine wichtige Rolle spielten. Die heutigen Künstler und Schriftsteller trennen Welten von jenen bedeutenden Persönlichkeiten der älteren Generation, die sich nach dem Sechstagekrieg an der Gründung der Bewegung für ein Groß-Israel beteiligt haben.
Immer häufiger zeigen sich also politische und soziale Einstellungen, die mit dem ursprünglichen Konzept des Zionismus nichts mehr gemein haben. Obwohl es heftigen Widerstand gibt (die Ermordung Jitzhak Rabins muß nicht der letzte Akt in diesem Drama gewesen sein) und wir einem regelrechten Kulturkampf entgegensehen, zeichnen sich die Anfänge einer zweiten zionistischen Revolution bereits ab: Sie wird humanistisch, rationalistisch und weltlich geprägt sein.
dt. Edgar Peinelt
* Professor für Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem. Von ihm erschien kürzlich “The Founding Myths of Israeli Nationalism, Socialism and the Making of the Jewish State“, Princeton University Press 1998.