16.10.1998

Die tägliche Rezession im russischen Tula

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Die tägliche Rezession im russischen Tula

Die russische Wirtschaftskrise, die Mitte August in Moskau ausbrach, brauchte einen guten Monat, um die Provinzstadt Tula zu erreichen. Dort reagiert man gelassen – an das tägliche Durchwursteln hat man sich in der industriell ausgebrannten Region längst gewöhnt. Löhne werden nur sporadisch ausgezahlt, und der eigene Garten sichert das Überleben.

Von AGATHE DUPARC *

ALTE Reiseprospekte nennen Tula die „russische Hauptstadt des Samowars und des Früchtebrots“. Anfang der achtziger Jahre träumte die zweihundert Kilometer südlich von Moskau gelegene Stadt noch von einem eigenen Puppentheater: Der Bau sollte imposanter, größer und schöner werden als das berühmte Obraszow-Theater in Moskau. Hinter einem Wellblechzaun steht das „Ding“ nun, einem Geisterhaus gleich. Die Stahlkonstruktion des Dachs rostet vor sich hin, und die Fensteraussparungen im Beton geben den Blick frei auf eine Kulisse, die ans Ende der Welt erinnert – der Bau wurde wegen Geldmangels nie fertiggestellt.

Die Ruine im Herzen der Stadt verkörpert für die meisten „Tuliaki“ die Mißerfolge der Marktwirtschaft. Diese sind hier um so spürbarer, als die Stadt vor der „Rüstungskonversion“ zur Hälfte von den Produktionsanlagen des einst allmächtigen militärisch-industriellen Komplexes lebte.

Wer, aus dem Moskauer Großstadtgewimmel kommend, das Gespräch auf die „Finanzkrise“ lenkt, die Mitte August über Rußland hereinbrach, erntet nur ironische Blicke, denn in der Provinz gehört die Rezession seit Jahren zum Alltag. Marode Unternehmen, Entlassungen und Rückstände von mehreren Monatslöhnen prägen das Bild, und ohne eigenen Gemüsegarten oder kleine „Geschäfte“ wüßten viele Haushalte nicht, wie sie über die Runden kommen sollen.

Im Kaufhaus „Saphir“ in der Stadtmitte sitzen einige Verkäuferinnen hinter einer Schmuckvitrine, ins Gespräch vertieft. Eine von ihnen erhebt sich träge, um eine ältere Dame zu bedienen, die einen Ring anprobieren will. Warum sind die meisten Auslagen leer? Setzten auch in Tula nach der Rubel-Abwertung die Hamsterkäufe ein, mit Horden von Kunden, die alles aufkauften, was sie bekommen konnten? Die Verkaufsleiterin Vera Nikolajewna bricht in schallendes Gelächter aus: „Wir sind hier nicht in Amerika! Als der Rubel zusammenbrach, blieb hier alles ruhig. Da hat sich nichts verändert. Die Leute in Tula kaufen praktisch nie Schmuck. Er ist einfach zu teuer, obwohl wir die Preise noch nicht heraufgesetzt haben. Die Leute geben all ihr Geld für Lebensmittel aus.“

Auf der Sowjetskaja-Straße, der Einkaufsmeile, füllen die Leute tatsächlich ihre Körbe und Plastiktüten mit Dingen des täglichen Bedarfs. Die Auslagen sind wohlbestückt mit russischen Erzeugnissen: Milchprodukte, Wurstwaren, Fleisch, Bonbons usw. Keine Spur von halbleeren Regalen und geschlossenen Kaufhausabteilungen wie in Moskau, wo vor der Krise hauptsächlich importierte Nahrungsmittel angeboten wurden.

Die Zentralbäckerei ist in einer Villa untergebracht, die mit viel Marmor aufwendig renoviert wurde. Plastiksäulen mit Brot und Croissants drehen sich um die eigene Achse. Ein etwa vierzigjähriger Mann lächelt schwach auf meine Frage, was sich in seinem Leben seit der Krise verändert hat: „Nichts. Um Dollars oder Lebensmittel zu kaufen, braucht man immer noch Rubel. Wissen Sie, wir haben ein dickes Fell. Dies ist ja nicht die erste Preiserhöhung und nicht das erste Mal, daß uns der Staat beklaut. Hart ist es schon, aber noch schlimmer kann es nicht werden.“

Ein paar Meter weiter, auf einem fast menschenleeren Platz, steht das Weiße Haus – der „Bunker“ der Regionalverwaltung und ehemalige Sitz des Parteikomitees – mit seinem unvermeidlichen Wurmfortsatz, einer klobigen Lenin-Statue. Unterhalb davon hat man linker Hand drei kleine Zelte aufgebaut, umgeben von Standtafeln zum Gedächtnis an den nationalpatriotischen General und Abgeordneten der Staatsduma, Rochlin, der im vergangenen Juli angeblich von seiner Frau umgebracht worden ist.

Ein kleiner Mann mit zerzaustem Haar und hellen Augen kommt auf mich zu: „Ich bin ein Arbeiterdichter. Ich bin aus Nordossetien hierher gekommen, um meine zwei Kinder zu besuchen und in Tula Arbeit zu finden. Aber immer noch nichts... Also wohne ich seit dem 1. August hier.“ Sergej teilt seinen Alltag mit zwei Rentnern und läßt sich vom „Generalstab der Protestaktivitäten“ versorgen, der der General-Rochlin-Bewegung nahesteht. „Beim Putschversuch im August 1991 habe ich Jelzin verteidigt, aber seine liberale Politik hat uns alle ruiniert, und das geht immer weiter so. Eigentlich wollte ich ja nach Amerika gehen. Im März 1991 habe ich meine Wohnung in Wladiwostok verkauft, aber dann hat die Inflation meine ganzen Ersparnisse aufgefressen. Bis zum Protesttag am 7. Oktober bleibe ich hier. Aber die proletarische Revolution, die sich hier anbahnt, macht mir dennoch Angst.“

Dabei scheint Tula, Verwaltungszentrum einer friedlichen, verschuldeten und industriell ausgebrannten Region, von einer sozialen Explosion ebenso weit entfernt wie von der Panik, die etwa die Moskauer Mittelschicht nach der Krise ergriffen hat – all die rund 200000 Angestellten von Moskauer Banken, Investmentfonds, Werbeagenturen und Versicherungsgesellschaften, die befürchten mußten, noch vor Jahresende auf der Straße zu stehen.

16.30 Uhr. Die Beschäftigten der berühmten Rüstungsfabrik TOZ, die Peter der Große 1712 erbauen ließ, beenden ihren Arbeitstag. Zu Zeiten der Sowjetunion waren hier 12000 Arbeiter für die militärische Schlagkraft ihres Vaterlands tätig, eine Ehre, die sie mit ihren Kollegen der Kalaschnikowfabrik von Ischewsk im Ural teilten. Aus den Werkhallen von Tula stammten die bekannten TT-Pistolen, die berüchtigten „Spezialwaffen“ der sowjetischen Spione, die geräuschlos Messer abschießen. Doch seit Beginn der neunziger Jahre, als infolge des „Rüstungskonversionsprogramms“ Staatsaufträge ausblieben, siecht das „Monster“ dahin.

Das privatisierte Unternehmen stellt heute nur noch Jagdgewehre und minderwertige Sportwaffen her. Der Absatz läuft stockend, aber das Unternehmen beschäftigt immer noch 5000 Mitarbeiter. Nach 47 Dienstjahren muß sich der 62jährige Gennadi Dmitrjewitsch, der als Handwerksmeister in der Produktionsabteilung für Jagdkarabiner arbeitet, mit einem Lohn von 500 Rubel alle vier Monate begnügen: „Die Unternehmensleitung schuldet mir 2000 Rubel. Geld, das fast nichts mehr wert ist. Das ist einfach Diebstahl, denn von Entschädigung ist keine Rede. Zum Glück kommt meine Rente ziemlich regelmäßig. Die Fabrik steht am Rand des Ruins. Vergangenen Juli mußten zwei Drittel der Belegschaft auf Kurzarbeit gehen. Mein einziger Wunsch ist, daß irgendeine Ideologie an die Macht kommt. Ob weiß, rot oder schwarz, ist mir egal. Der Sozialismus ist zerstört, der Kapitalismus aber noch nicht eingerichtet; man kann nicht ewig in der Leere hängen.“ Nur mit seinem 500 Quadratmeter großen Garten könne er sich und seine Frau ernähren.

Nach Ansicht von Anatoli Ajewew, dem Leiter des Arbeitsamts von Tula, verläßt man sich in den Chefetagen von entlassungswilligen Großunternehmen vor allem darauf, daß die Beschäftigten, entnervt durch die Lohnrückstände, von selbst kündigen.

Nur wenige Arbeitslose melden sich beim Arbeitsamt. Offiziell gibt es in der gesamten Region nur 16000 Arbeitslose, wenig mehr als 1 Prozent der Erwerbstätigen. „Alles greift ineinander. Die Unternehmen der Region zahlen keine Löhne aus und führen daher keine Sozialabgaben ab... Und wir befinden uns mit der Zahlung von Arbeitslosengeld Monate im Rückstand. Wer will, wird von uns in Naturalien ausgezahlt“, erklärt Ajewew.

Im vierten Stock eines städtischen Krankenhauses, einem Backsteinbau am Rande von Tula, arbeitet der 45jährige Fedor Konstantinowitsch als Kieferchirurg. Seit drei Monaten hat er keinen Lohn erhalten und schwankt zwischen Wut und Niedergeschlagenheit. Selbst seine „privaten“ Sprechstunden, mit denen er sich bislang über Wasser halten konnte, sind gefährdet. „Die Leute kümmern sich immer weniger um ihre Gesundheit, sie haben Lebenswichtigeres zu tun: Herr Doktor, wir müssen zuerst unsere Kartoffeln ernten, unseren Kohl pflanzen, unser Obst und Gemüse einkochen usw., dann werden wir zu Ihnen kommen.“

Fedor seufzt. „Wir fingen gerade wieder an aufzuatmen. Aber nach dem ersten Atemzug hat man uns die Sauerstoffzufuhr wieder einmal gekappt. Ich habe für Jelzin gestimmt, damit er uns aus dem Kommunismus herausführt; aber dann hat er sich wie ein Zar aufgespielt. Der einzige, der ihn ablösen könnte, ist Lebed.“

Der ehemalige Kommandant der Fallschirmjägerdivision von Tula, Alexander Lebed, genießt hohes Ansehen in der Region. Sein Name ist in aller Munde. 1995 hatten die „Tuliaki“ ihn zum Abgeordneten der Staatsduma gewählt. Im Herbst 1996 hatte er sein Mandat jedoch niedergelegt, als er für eine gewisse Zeit zum Sekretär des Sicherheitsrats ernannt wurde. Die Leute haben ihm dieses Verhalten ein wenig übelgenommen, aber sie würden ihn einstimmig wiederwählen, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten.

Mangels einer Alternative entsandten sie im März 1997 eine alte Figur der „nationalpatriotischen“ kommunistischen Opposition in die Staatsduma. Der 67jährige Wassilij Staradubzew leitete dreißig Jahre lang die Lenin-Kolchose und beteiligte sich am Putsch vom August 1991. Mit einer überwältigenden Mehrheit von 62,7 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang löste „Wassja“ den „demokratischen“ Gouverneur Nikolaj Sewriugin ab, der am Tag nach der Wahl wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder ins Gefängnis wanderte.

Achtzehn Monate nach seiner Wahl steht Staradubzew bereits im Kreuzfeuer der Kritik. Seine Kampagne letztes Jahr für die Anpflanzung von Zuckerrüben endete mit einem Desaster: 50 Prozent der Ernte erfror unter dem Schnee. Dieses Jahr droht seine „Operation Mais“ zum Skandal zu werden. Nach halbamtlichen Schätzungen soll die bereits stark verschuldete Region 60 Millionen Dollar für die Einfuhr von hochwertigem Saatgut aus Jugoslawien und die Finanzierung der Landwirtschaftsbetriebe in der Region ausgegeben haben, die angewiesen wurden, den Mais anzupflanzen.

„Die Maiskolben, die auf dem Markt von Tula verkauft werden, entsprechen keineswegs der versprochenen Qualität“, meint Alexej Drygas, Chefredakteur der einzigen oppositionellen Tageszeitung, Molodoj Kommunar (Der junge Kommunarde). „Überdies fehlt es in der Region an Silos und Maschinen zum Trocknen des Korns. Die Behörden überlegen bereits, die Ernte zur Schweine- und Hühnerfütterung zu verwenden.“

Als Mitte August die Finanzkrise ausbrach, ließ die Reaktion der örtlichen Behörden lange auf sich warten. „Auf dem Höhepunkt der Krise war Staradubzew verschwunden“, erinnert sich Drygas. „Dann wurde bekannt, daß er sich in Moskau aufhielt. Er hat mit öffentlichen Äußerungen gewartet, bis der Rubel wieder stieg und Jewgeni Primakow zum Ministerpräsidenten gewählt war.“ Ergebnis dieses langen Schweigens war der Erlaß 383 vom 11. September „über außerordentliche Maßnahmen zur sozialen Verteidigung der Bevölkerung“. Entgegen geltender Bundesgesetze wird darin den Handelsfirmen untersagt, bei Artikeln des täglichen Bedarfs eine Gewinnspanne von mehr als 15 Prozent zu erwirtschaften.

Bei den Händlern ist diese Verwaltungsmaßnahme bereits auf heftigen Widerstand gestoßen. Klavdia Dmitrjewna, fünfzig Jahre alt und Besitzerin von über zwanzig Kooperativläden für Lebensmittel in den Dörfern rund um Tula, rauft sich die Haare. „Das ist einfach absurd. Kein Unternehmen kann unter diesen Bedingungen überleben. Luschkow, der Bürgermeister von Moskau, war wenigstens so intelligent, die Höchstgrenze auf 20 Prozent festzulegen.“

Wie immer in Rußland läuft die Maschine zur Umgehung der Gesetze bereits auf Hochtouren. Die Händler haben in die Verkaufskette einfach fiktive Handelsorganisationen eingeschaltet, die einen „Gewinn“ von 15 Prozent machen, und kommen damit wieder auf ihre ursprüngliche Marge von 30 Prozent. Kleinere und mittlere Unternehmen könnten bei diesem Hindernislauf allerdings den Mut verlieren, so daß ein Teil der noch schwachen Mittelschicht von Tula möglicherweise auf der Strecke bleibt.

Zu den unmittelbaren Opfern der Finanzkrise gehört auch die kleine Minderheit jungdynamischer Bankangestellter im Umfeld des noch kaum entwickelten Finanzsektors der Region. Es ist eine soziale Schicht, deren Einkommen zwischen den ungeheuren Reichtümern der Mafiosi und den „virtuellen“ Löhnen der Normalbevölkerung liegen und die bereits die Freuden der „Finanzstabilität“ und des Konsums zu schätzen gelernt hat.

Mit niedergeschlagener Miene erklärt Jewgeni Spiriza, der 27jährige Pressechef der SBS-Agro-Filiale in Tula, die Großbank habe zwei Drittel ihrer örtlichen Belegschaft in unbezahlten Urlaub geschickt, und auch sein eigenes Bankkonto sei gesperrt. „Wir sind pleite“, meint er mit einem interessierten Seitenblick auf den Dollarkurs.

Wenige Tage zuvor hatten wir Jewgeni noch bei bester Laune angetroffen: „In Tula wird es keine Entlassungen geben wie in Moskau, denn SBS-Agro ist hier im realwirtschaftlichen Sektor tätig; wir sind an Investitionsprogrammen beteiligt und helfen den örtlichen Behörden bei der Auszahlung der Renten und Angestelltengehälter“, hatte er verkündet. Dabei stand SBS-Agro, die zweitgrößte Privatkundenbank Rußlands und führender Kreditgeber des Agrarsektors, bereits seit dem 28. August unter unternehmensfremder Verwaltung. Die Bank konnte die Einlagen ihrer Kunden nicht mehr auszahlen und sollte verstaatlicht werden. So hat es also rund einen Monat gedauert, bis die Neuigkeit von der Pleite ins zweihundert Kilometer entfernte Tula vorgedrungen ist.

dt. Bodo Schulze

* Journalistin, Moskau.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von AGATHE DUPARC