16.10.1998

MAI – das Mittel Amerikanischer Interessen

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MAI – das Mittel Amerikanischer Interessen

Von J.-C. LEFORT und J.-P. PAGE *

DER eine heißt Anthony Blair und ist Premierminister des Landes, das im ersten Halbjahr 1998 den Vorsitz im Ministerrat der EU innehatte. Der andere, ein Landsmann von Blair und ehemaliger Minister von Margaret Thatcher, heißt Leon Brittan und ist Mitglied der Europäischen Kommission für Außenhandelsbeziehungen. In dieser Funktion interessiert er sich in Brüssel vor allem für das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) und die Welthandelsorganisation (WTO). Keiner von beiden verhehlt seine transatlantischen Sympathien, die viel ausgeprägter sind als ihre „europäischen“ Überzeugungen.

Den Beweis dafür haben sie beim transatlantischen Gipfeltreffen, das am 18. Mai in London am Rande des G-7-Treffens stattfand, wieder einmal erbracht. Unter britischer Schirmherrschaft wurde dort mit den Vertretern der amerikanischen Regierung ein bilaterales Abkommen zwischen der Europäischen Kommission und den Vereinigten Staaten unterzeichnet, das einer bedingungslosen Kapitulation gegenüber den Forderungen Washingtons gleichkommt und nur dazu dienen soll, den Weg zur Unterzeichnung des MAI-Vertragsentwurfes zu ebnen. Der Text des Abkommens, dem die Beteiligten, trotz des immer wieder betonten Willens zur Transparenz, nicht die gebührende Publizität angedeihen ließen, bringt die französische Regierung in eine schwierige Lage. Sie hat mehrere Richtigstellungen vornehmen müssen, um zu verdeutlichen, welcher Stellenwert diesem Abkommen eigentlich zukommen soll.

Der Grund dafür ist, daß Blair und Brittan in dem Londoner Abkommen versuchen, nicht nur das MAI in einer anderen Verpackung, sondern auch einen großen Teil der Inhalte des Neuen Transatlantischen Marktes (NTM) durchzusetzen, gegen den Frankreich im vergangenen Frühjahr sein Veto eingelegt hatte und der in seiner neuesten Fassung unter dem Namen TWP (Transatlantische Wirtschaftspartnerschaft) am 16. September von der Europäischen Kommission angenommen wurde. Beim MAI besteht die Methode darin, Hindernisse schon im Vorfeld aus dem Weg zu räumen, etwa indem man vorgibt, eine der wichtigsten Vorbedingungen, die zahlreiche Regierungen, allen voran die der EU, für eine Unterzeichnung des Vertrages gestellt hatten, sei bereits erfüllt: keine Verpflichtung auf nationale Gesetze mit extraterritorialer Wirkung. Hintergrund dieser Auseinandersetzung waren sowohl die amerikanischen Helms-Burton-Gesetze, die Investitionen in kubanische Unternehmen untersagen, die nach der kubanischen Revolution verstaatlicht worden sind, als auch das D'Amato-Gilman-Gesetz, das Investitionen von mehr als 20 Millionen Dollar im Bereich der Erdölproduktion und –verarbeitung in Libyen und im Iran verbietet.

Der Londoner Vertragstext enthält ein „Abkommen über die Verfahrensregeln zur Verstärkung des Investorenschutzes“, mit Bezug auf ein anderes transatlantisches Abkommen vom 11. April 1997, in dem festgehalten wird, daß „die Vereinigten Staaten und die Europäische Union darin übereinstimmen, ihre Anstrengungen zu intensivieren, um auf bilateralem Wege und im Rahmen des MAI gemeinsame Verfahrensregeln und Prinzipien für einen verstärkten Investorenschutz zu entwickeln“ – dort ging es um Fälle, in denen ein Staat „Enteignungen oder Verstaatlichungen vorgenommen und dabei gegen internationales Recht verstoßen hat“. In London haben die Vertragsparteien ihre Absicht bekräftigt, „in den MAI-Verhandlungen gemeinsam die Verfahrensregeln vorzuschlagen, die im ersten Teil dieses Abkommens enthalten sind (...) und sie anzuwenden, bevor das MAI in Kraft getreten ist“. Um die bittere Pille zu versüßen, haben sich die amerikanischen Unterhändler gnädigerweise zu dem Zugeständnis bereitgefunden, daß diese Verfahrensregeln erst nach dem 18. Mai 1998 für Investitionen gelten sollen, die einer der Unterzeichnerstaaten in einem Staat getätigt hat, der Enteignungen vorgenommen hat.

Als Gegenleistung für dieses lächerliche Entgegenkommen sieht sich die Europäische Union, vermittelt über die Europäische Kommission, nun dazu gedrängt, in der Sache selbst nachzugeben: Gesetze mit extraterritorialem Geltungsanspruch, deren Grundidee sie bisher, zumindest offiziell, immer abgelehnt hatte, sollen nun von ihr als rechtsgültig und für alle Mitgliedstaaten verbindlich anerkannt werden. Noch am Tag des Londoner Gipfels richtete Leon Brittan ein unterwürfiges Schreiben an die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright: „Ich habe die Informationen zur Kenntnis genommen, die die Vereinigten Staaten bezüglich der Enteignung US-amerikanischer Bürger in Kuba nach der kubanischen Revolution von 1959 vorgelegt haben. (...) Im Verlauf unserer Gespräche haben wir zahlreiche Fälle feststellen können, in denen der Verdacht besteht, daß diese Enteignungen im Hinblick auf die diskriminierenden Bestimmungen des kubanischen Gesetzes Nr. 851 gegen internationales Recht verstoßen haben.“

Washington erzielt Erfolge, geht aber selbst keine Verpflichtungen ein. Und dies aus gutem Grund: Nicht die Regierung, sondern nur der Kongreß kann durch ein neues Gesetz die Sanktionen des Helms-Burton- und des D'Amato-Gilman-Gesetzes für europäische Unternehmen aufheben. Die amerikanischen Unterhändler haben sich darauf beschränkt, „Konsultationen“ mit dem amerikanischen Kongreß ins Auge zu fassen, „um dessen Haltung zu erkunden“. Noch weniger haben sie zu den „sekundären Embargos“ gesagt. Hierbei geht es um etwa 25 von den Bundesstaaten verabschiedete Gesetze, die sich gegen verschiedene Staaten wie Birma, China, Sudan und Nigeria richten. Allein die Europäische Union hat diese Embargos verurteilt – in einer einseitigen Erklärung, was darauf hinausläuft, daß sie toleriert beziehungsweise faktisch akzeptiert werden.

Das Abkommen zwischen der Europäischen Kommission und den Vereinigten Staaten läuft nicht nur den Interessen Europas zuwider, sondern es stellt auch die Grundprinzipien des Multilateralismus in Frage: Ein bilaterales Gesetz (oder, genauer gesagt, amerikanisches Recht, das für allgemeingültig erklärt wird) soll nun überall angewendet werden. Dies hat außerordentlich schwerwiegende Auswirkungen: Da das Londoner Abkommen rückwirkend gilt und für alle Enteignungen gilt, kann man es gegen alle Länder ins Feld führen, die in der Vergangenheit Verstaatlichungen vorgenommen haben. Dies gilt insbesondere für Staaten, die sich nach ihrer Unabhängigkeit die Verfügungsgewalt über ihre Rohstoffquellen gesichert haben.

Die Herren Blair und Brittan haben ihre Partner aus der Europäischen Union vor vollendete Tatsachen gestellt. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Regierungen, und besonders die französische Regierung, dazu verhalten werden, vor allem bei der Wiederaufnahme der MAI- Verhandlungen. Staatspräsident Jacques Chirac hat betont, daß das Londoner Abkommen, das er manchmal als „Kompromiß“ und manchmal als „Arrangement“ bezeichnet, „die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu nichts verpflichtet. Sie allein bleiben zuständig für die Umsetzung der Verfahrensregeln im Bereich der Investitionen.“ Lionel Jospin erinnert seinerseits daran, daß dieser Text, „den die Europäische Kommission ausgehandelt hat, vom EU-Ministerrat nicht gebilligt, sondern nur zur Kenntnis genommen worden ist“. Es ist aber stark zu befürchten, daß für Washington ebenso wie für Brüssel „zur Kenntnis nehmen“ eine diplomatische Umschreibung für „akzeptieren“ ist.

dt. Christian Voigt

* Vizepräsident der Delegation für die Europäische Union bei der französischen Nationalversammlung bzw. responsable syndical der Gewerkschaft CGT.

Le Monde diplomatique vom 16.10.1998, von J.-C.LEFORT und J.-P.PAGE