13.08.1999

Ein Ethnologe auf Landhaussuche

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Ein Ethnologe auf Landhaussuche

Von MARC AUGÉ *

MIT begrenzten finanziellen Mitteln ein Landhaus zu kaufen, das nicht allzu weit von Paris weg liegt, ist alles andere als einfach. Man muss eine Art Marathon auf sich nehmen, der darin besteht, tage-, ja wochenlang den Tricks der Immobilienmakler auf die Schliche zu kommen, auf kleinen Landstraßen herumzufahren und enttäuschende Häuser zu besichtigen ... Doch diese Belastungsprobe ist auch interessant und sogar lehrreich: Man hat Gelegenheit, die ganze Pracht der französischen Landschaft wiederzuentdecen, und kommt auf sehr menschliche Art und Weise mit Durchschnittsfranzosen in Berührung, deren Leben im Zeichen der Krise steht.

Alle sind sich einig, dass Mai oder Juni die ideale Jahreszeit für den Hausverkauf ist: In diesen Monaten genießen die ersten Touristen aus Paris oder den europäischen Nachbarländern die Reize des Frühsommers. Blätter rauschen im Wind, Geranien schmücken die Fenster, der Flieder ist bereits verblüht, aber es gibt immer noch Rosen und auch Hortensien in voller Blüte.

Selbst die bescheidensten Häuschen am Straßenrand strahlen Festtagsstimmung aus und scheinen trotz ihrer neumodischen Fabrikziegel, trotz der von Landschaftsplanern angelegten Gärten und künstlich bepflanzten Parks die typische Ländlichkeit der Gegend zu verkörpern. Aufgrund des wechselhaften Wetters – verspätete Aprilschauer, dann Windstille, dann wieder kurze Gewitter – steht dem Reisenden in Sachen Haupt- oder Zweitwohnsitz der Sinn abwechselnd nach frischer Luft, um den Duft frisch gemähten Grases zu schnuppern, und nach einem gemütlichen Wohnzimmer („vierzig Quadratmeter mit Balkendecke“). Oder vielleicht nach jenem „hervorragend erhaltenen, ausbaufähigen Dachboden“, wo man dem Regen lauschen kann, der auf die Ziegel niederprasselt. Doch all das bleibt Illusion, denn man setzt keinen Fuß aus dem Auto, während man von Dorf zu Dorf und von einer Kreuzung zur nächsten fährt. Man sucht nach dem von den Maklern angegebenen Treffpunkt, nach dem Schild mit der Aufschrift „Zu verkaufen“, das den Beginn (oder das Ende) der eigenen Träume markiert. Oder nach den drei hundertjährigen Eichen, von denen ein Feldweg zum „renovierten Wochenendhäuschen“ führen soll – zumindest nach den Angaben dieses Gesprächspartners am Telefon, der vor lauter Hoffnung auf das bevorstehende Geschäft schon heiser war und in wirren Sätzen redete.

In den letzten beiden Monaten war ich selbst in der gleichzeitig anregenden und frustrierenden Rolle dieses Besuchers auf der Pirsch. Anregend war sie deshalb, weil der knappe Text der Annoncen oder die gewandten Worte der Makler bzw. Notare Bilder heraufbeschwören, die neue Wünsche und Illusionen wecken. Und frustrierend, weil die Wirklichkeit niemals den Erwartungen entspricht und man mit jeder dieser kleinen Enttäuschungen noch begieriger wird. Denn statt des ersehnten Objekts bekommt man nur einen armseligen Abglanz davon zu Gesicht. Im Grunde entschwindet es genau in dem Moment, in dem es Gestalt annimmt.

Mein Begehr war einfach, nur allzu einfach: Ich wollte eine Bleibe finden, die nahe genug bei Paris gelegen war, um ab und zu dorthin zur Arbeit fahren zu können, und weit genug weg, um mir das Gefühl eines Ortswechsels, eines ruhigen Lebens im Grünen zu vermitteln. „Kein Problem“, meinten ein paar Freunde. „Die Touraine ist ideal für dich!“ Tatsächlich ist Tours mit dem TGV von Paris aus in nur einer Stunde zu erreichen. Die Loire, das ist die Wiege Frankreichs und seiner Literatur. Hier zeigt sich die steingewordene Geschichte in den Chateaus, das Klima ist äußerst mild, das Französisch rein geblieben, der Himmel beinahe niederländisch. Mit ein paar Adressen im Gepäck machte ich mich also in die Touraine auf. Doch ich musste schnell klein beigeben, denn auch Immobilienmaklern, Notaren und anderen Verkäufern waren die Vorzüge der Touraine nicht verborgen geblieben. „Mit Ihrem finanziellen Rahmen können Sie in dieser Gegend keine großen Ansprüche stellen“, sagte mir mit leicht herablassendem Unterton eine Notargehilfin im strengen Schneiderkostüm. „Du musst südlich von Loches suchen!“ meinte daraufhin ein anderer Freund. „Im Bas-Lochois ist es erstens viel schöner und zweitens wesentlich billiger“.

Schön war es in der Tat, doch der Optimismus meines Dichters erwies sich dann doch als etwas übertrieben („Mit 200 000 Franc kannst du dort ganze Schlösser kaufen“, hatte er gesagt). Ich fuhr also noch weiter südwärts, bis ich an der Départementgrenze von Indre-et-Loire und Creuse landete und mir auffiel, dass ich mich zwei oder drei Autostunden südlich von Tours befand, also eigentlich nicht mehr in der Nähe von Paris.

Ich wechselte also sowohl die Richtung als auch die Strategie. Nachdem ich eine auf private Immobiliengeschäfte spezialisierte Zeitschrift studiert hatte, machte ich mich in die Normandie auf. Einige Annoncen, die eine allzu deutliche Sprache sprachen, schloss ich von vornherein aus, etwa solche wie „Charmanter Bungalow, zehn Kilometer von Center Parcs entfernt“ – oder andere, die ganz offensichtlich meine Möglichkeiten überstiegen: „Normannischer Herrensitz 18. Jhdt., 20 Zimmer, 1 ha, 3 Wohneinheiten“. Ich musste auch meine Wahrnehmung in Bezug auf Annoncen schärfen und lernte so beispielsweise verstehen, dass mit der Bezeichnung „traditionelles Haus“ ein Neubau gemeint ist und der Ausdruck „Rohbau in perfektem Zustand“ ein Gebäude bezeichnet, das in seinem Inneren eine Ruine ist. Doch auch in der Normandie machte sich das Touraine-Syndrom bemerkbar: Wegen der Nähe zu Paris war alles entweder zu teuer oder zu klein.

Über Land- und Bundesstraßen driftete ich unmerklich in Richtung Ärmelkanal, Mont-Saint-Michel und Bretagne. Ab Chartres, Evreux, Dreux, L'Aigle, Rouen befindet man sich im ausgedehnten Reich des Reihenhauses, endlos zieht es sich an Flüssen und Straßen entlang. Einkaufszentren und Großmärkte sind da nicht weit, und ihre Erreichbarkeit dient sogar als Verkaufsargument, genauso wie die Nähe der Nachbarn, die zusätzlich zum Einkaufskomfort auch noch Sicherheit verspricht. Natur wird hier in erster Linie als eine Reihe schädlicher Einflüsse gedacht, gegen die man sich durch offene Kamine mit Einsatz, Doppelscheiben und Glaswolle schützen muss. Ich suchte Einsamkeit, und mir wurde Isolierung geboten.

Die Gesetze der Immobilienschwerkraft

EINMAL habe ich mehrere Minuten lang an das Wunder geglaubt. Alles hatte ganz wunderbar, ja geradezu romantisch begonnen. Wir hatten einen Treffpunkt auf dem Rathausplatz in einem kleinen Dorf ausgemacht, das ich ohne allzu große Schwierigkeiten fand, nachdem ich von der Bundesstraße abgebogen und etwa zwanzig Minuten lang in sanften Kurven durch den Bocage gefahren war. Die Hausbesitzerin war pünktlich und empfahl mir, ihr in Sichtweite zu folgen, der Anfahrtsweg sei etwas kompliziert. In der Tat kurvten wir eine gute Viertelstunde lang durch eine traumhafte Landschaft, die geradezu einem Tourismusplakat entsprungen zu sein schien: Fachwerkhäuschen, Hecken, Wiesen und Wäldchen, fette Kühe und edle Pferde, blühender Mohn am Wegesrand. Schließlich erreichten wir ein Parkgrundstück stattlichen Ausmaßes, in dessen hinterem Teil eine prachtvolle Villa aus Ziegelstein stand. Vergeblich kramte ich in meinem Gedächtnis nach ein paar Versen von Nerval. Ich hatte mich von der ersten Überraschung noch nicht erholt, als die Besitzerin mich schon ins Hausinnere drängte und mir neben der komplett ausgestatteten Küche die prachtvollen alten Bodenfliesen anpries, den offenen Kamin und die Eichentreppe. Jenseits der sauber geputzen Fenster wiegten sich die Pappeln im Wind. Ich begann schon zu rechnen, auf wie viel ich mit meinem Sparbuch, dem Bausparvertrag und einem Kredit zu 4,25 Prozent wohl kommen könnte. „Der Park ist knapp einen Hektar groß“, fügte sie mit verführerischer Stimme hinzu, während sie mit schüchterner Geste die Glastür nach draußen öffnete. Geblendet trat ich auf die Terrasse, die leicht erhöht war im Verhältnis zum Rasen mit seinen Büschen und Baumgruppen. Ein paar Wolken zogen durch den blauen Himmel. In der Ferne hörte man – oder besser, in der Nähe ... was hörte man da eigentlich? Ein Geräusch, ja sogar mehr als ein Geräusch: richtigen Lärm, Dauerkrach geradezu, dessen Herkunft mir leider nicht lange verborgen blieb. Er kam von den Lastwagen, die ununterbrochen die Bundesstraße entlangdonnerten, von der ich vorhin abgebogen war – und in deren unmittelbare Nähe mich meine liebenswürdige Gastgeberin mit argloser List auf verführerischen Umwegen zurückgebracht hatte. „Es ist vielleicht ein bisschen laut“, sagte sie gekünstelt, „aber man gewöhnt sich daran, das versichere ich Ihnen. Vielleicht wenn man noch ein paar Bäume pflanzt ... Es heißt, in zwei, drei Jahren würde eine Autobahn gebaut, dafür wird der Verkehr dann sicher umgeleitet ...“ Ein Augenblick des Schweigens. Dann lächelten wir uns ohne Groll an.

Als ich in der Bretagne ankam, musste ich feststellen, dass hier die Gesetze der Immobilienschwerkraft und die regionale Geometrie noch komplizierter waren. Die Entfernung zu Paris galt immer noch als wichtiges Kriterium (was den zentralistischen Jakobiner in mir durchaus beruhigte), doch als zeitliches Maß dafür galt die mehr oder weniger große Entfernung zum TGV (drei Stunden, dreieinhalb oder vier Stunden). Andererseits wirkte sich auch die Entfernung zum Meer unmittelbar auf das Preisniveau aus. So sah ich mich bald vor die Aufgabe gestellt, irgendwo auf halber Strecke zwischen Meer und TGV ein renovierungsbedürftiges Haus aufzuspüren – folglich in einem Gebiet, das von der modernen Entwicklung von Landwirtschaft und Viehzucht sehr gezeichnet war.

Über den öden Weiten der flurbereinigten Bretagne roch die Luft nach Gülle. Allenthalben hoben sich die langgestreckten Umrisse von Schweinemastbetrieben oder Legebatterien von der Landschaft ab, sie kauerten in der geringsten Bodensenkung wie U-Boote im Wellental. Schließlich gelangte ich auf eine jener vierspurigen Bundesstraßen, von denen die ganze Bretagne durchzogen ist, erreichte die Autobahn und fuhr zurück nach Paris.

Doch bald werde ich mich wieder auf den Weg machen. Denn das Paradoxe an all diesen immobilienbedingten Irrfahrten ist, dass ich mich trotz der Aufregung und der Enttäuschungen nach der Rückkehr gern an sie erinnere. Sprechen wir es ruhig aus: Ich fand sie immer interessant, und sie haben sogar eine Art Fröhlichkeit, eine bestimmte Form des Glücks in mir ausgelöst.

Zunächst einmal, weil Frankreich in seiner Vielfalt schön ist und man die deutlichen Unterschiede und subtilen Zwischentöne erst richtig erkennen und erspüren kann, wenn man ein paar Tage lang gemächlich durch die Dörfer der Touraine, der Normandie und der Bretagne gegondelt ist: Noch widerstehen Kalktuff, Fachwerk und Granit, Kirchtürme aus Schiefer- oder Naturstein, Schieferplatten und alte Ziegel, Gemeindewälder und Staatsforste der Einschnürung durch Umgehungsstraßen und Gewerbegebiete, noch halten sie dem einheitlichen Billigdesign der Fußgängerzonen und Parkbänke, der herausgeputzten Kreisverkehre und Einkaufszentren stand.

Zweitens (und hier spricht jetzt der Ethnologe), weil man an den Begegnungen, die durch Kleinanzeigen oder Immobilienmakler in die Wege geleitet werden, das unermessliche Kommunikationsbedürfnis dieser Eintagsbekanntschaften ablesen kann. In nur wenigen Gesprächen habe ich ausreichend Stoff für mehrere Romane sammeln können. Man muss bedenken, dass Häuser in der Regel nach einschneidenden oder auch tragischen Ereignissen verkauft werden. Meistens haben die Betroffenen das Bedürfnis, darüber zu sprechen, als könnten sie dadurch den Ausnahmezustand und seine schlimmen Auswirkungen wieder abwenden.

Einmal, in der Bretagne, sprach eine etwa sechzigjährige Dame ausführlich mit mir über ihre Hemmungen, das Haus abzustoßen, in dem ihre Mutter gerade verstorben war – und auch über das schlechte Benehmen ihres Bruders, der begonnen hatte, die Möbel zu verkaufen. Es waren schöne Möbel, muss ich sagen, so vollgestellt mit Kram, Familienfotos und Erinnerungsstücken, dass ich mich dazwischen indiskret und ein bisschen voyeuristisch fühlte – obwohl sie andererseits auch etwas seltsam Vertrautes hatten, wie diese alten Postkarten, die man manchmal beim Trödler findet und deren banale und doch intime Botschaften man mit einer gewissen Rührung liest („Schöne Feriengrüße“, „Das Meer ist schön warm“, „Bis in zwei Wochen“), als wäre man tatsächlich ihr letzter Adressat.

Ein andermal war es ein Mann um die achtzig, der mir zuerst die Ruhe und den Charme der zehn Meter Uferböschung anpries, zu denen hin sein kleiner Garten abfiel, um mir dann all die Dienste aufzuzählen, die er für seinen Sohn erbracht hatte, den ehemaligen Besitzer des Nachbarhauses, der jetzt verkauft hatte und weggezogen war. Mit einer müden Geste beschwor er sein vergangenes Glück und rief mich schließlich gegen sein eigenes Verkaufsinteresse als Zeugen an: „Was soll ich jetzt bloß tun, so ganz alleine mit meiner Frau? Soll ich vielleicht den lieben langen Tag wie ein Idiot zusehen, wie die Seine vorbeifließt?“

Nach vielen Kilometern und Gesprächen begann ich allmählich ein Bild von der sogenannten tiefsten Provinz zu gewinnen, und ich sagte mir, dass man schon durch die Auswertung der privaten Kleinanzeigen einer einzigen Immobilienzeitschrift einen aufschlussreichen Querschnitt unserer Gesellschaft, ihrer Probleme und Nöte erhalten könnte. Nach nur wenigen Tagen zog an meinem inneren Auge eine sonderbare Prozession vorbei: Die alte bretonische Witwe mit ihren zehn Hektar nutzlosen Brachlands. Die junge Frau, die mit ihrem vierten oder fünften Kind schwanger war und der es nie gelingen würde, ihre direkt an der Bundesstraße gelegene Hütte loszuschlagen. Immerzu brüllte sie ihrer Ältesten hinterher, die – in Anlehnung an die Fernsehserie „Melrose Place“ – Kimberley hieß. Ehepaare, die nur durch die Aufnahme von ein paar Pflegekindern der völligen Verarmung entgangen waren. Grundschullehrer, die längst den Ruhestand herbeisehnten, aber in diesen prekären Verhältnissen geradezu wohlhabend wirkten. Ein studierter Arbeitsloser, dem sein sozialwissenschaftlicher Hochschulabschluss und seine ökologischen Überzeugungen keinen Job eingebracht hatten und der nun seiner Frau folgen musste, die in eine andere Filiale ihres Unternehmens versetzt worden war.

Die relative Bescheidenheit meines „finanziellen Dispositionsrahmens“, wie es in der Maklersprache so schamhaft heißt, hat mich ganz offensichtlich mit Leuten in Berührung gebracht, die, um eine gute Figur zu machen, dazu verdammt sind, ihre Lebensumstände schönzureden und verborgene Nachteile zu verschweigen, kurz, zu Dichtern zu werden. Ich werde wieder losfahren, das steht bereits fest. Einerseits natürlich um ein Haus zu finden. Aber auch, um noch einmal und genauer diese vielfältigen Stimmen zu hören, in denen ein Anflug von Verzweiflung und Anwandlungen passiven Widerstands (wie das Lob der Heimwerkerei oder der Schwarzarbeit) zusammenfließen mit einer zähen und unzerstörbaren Lebenslust – oder Überlebenslust.

dt. Miriam Lang

* Anthropologe. Forschungsdirektor an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Auf Deutsch sind von ihm lieferbar „Der Geist des Heidentums“, dt. von Michael Killisch-Horn, München (Klaus Boer) 1995, und „Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit“, dt. von Michael Bischoff, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1994. In „Le Monde diplomatique“ erschienen von Marc Augé zuletzt „Ein Ethnologe in Center Parcs“ (August 1996), „Ein Ethnologe bei der Tour de France (August 1997) und „Ein Ethnologe bei der Fußball-WM“ (August 1998).

Le Monde diplomatique vom 13.08.1999, von MARC AUGÉ