13.08.1999

Schönschrift

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Schönschrift

John Cage erzählt in seinem Buch „A Year From Monday“ über Ryoanji, einen Steingarten in Kyoto: „Von Zeit zu Zeit finde ich einen Artikel über diesen Steingarten in Japan, in dem es nichts als eine Sandfläche mit ein paar Steinen darauf gibt. Der jeweilige Schreiber schlägt dann entweder vor, dass die Position der Steine im Raum irgendeinem geometrischen Plan folgt, der die Schönheit, die man da sieht, produziert, oder er gibt sich nicht mit einfachen Vorschlägen zufrieden, sondern fertigt auch noch detaillierte Diagramme und Analysen dazu an. Als ich eines Tages Ashihara, den japanischen Musik- und Tanzkritiker (sein Vorname fällt mir gerade nicht ein), traf, sagte ich deshalb zu ihm, dass sich in meinen Augen diese Steinblöcke überall, gleich wo, auf dieser Fläche befinden könnten und dass ich stark daran zweifele, dass ihre Beziehungen berechnet seien, und dass folglich die Leere des Sandes diesen Steinen überall und nirgends als Hintergrund dienen könnte. Ashihara hatte mir schon einmal ein Geschenk gemacht – Tafelsets –, doch dieses Mal bat er mich, zu warten, da er etwas in seinem Hotel vergessen hätte. Als er zurückkam, schenkte er mir die Krawatte, die ich gerade trage.“

In dieser Ausgabe von Le Monde diplomatique möchten wir unseren Leserinnen und Lesern eine Auswahl zeitgenössischer japanischer Schönschrift präsentieren. Wo Ausdruck in ostasiatischer, hier japanischer, Schönschrift beginnt, vermag ein Abendländer wohl bestenfalls vermuten. Vielleicht beginnt er dort, wo der Schönschreiber die strengen Regeln der japanischen Kalligraphie bezüglich Strichfolge oder Strichrichtung, das Verbot des Nachbesserns eines bereits gemachten Strichs, die Vorschriften für das Heben und Senken seines Werkzeugs über den Haufen wirft, damit, und wohl gerade in Japan, Kopf und Kragen riskiert und beherzt den Pinsel auf das Papier setzt, das Weiß einzuschwärzen. R.N.‚/B‘

Le Monde diplomatique vom 13.08.1999, von R.N.