13.08.1999

Journalistische Flügeladjutanten

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Journalistische Flügeladjutanten

Von EDWARD SAID *

KEIN Mensch kann bezweifeln, dass die Brutalität von Slobodan Miloševic wie auch die Reaktion der Nato die Situation im Kosovo im Vergleich zu der Zeit vor den Bombardierungen deutlich verschlimmert hat. Das Leid der Menschen hat auf beiden Seiten entsetzliche Ausmaße angenommen. Und die Tragödie der Flüchtlinge ebenso wie die Zerstörung Jugoslawiens kann mindestens eine Generation lang kaum beseitigt werden. Jeder Mensch, der einmal deportiert und von seinem Besitz vertrieben wurde, kann bezeugen, dass es so etwas wie eine echte, komplikationsfreie Rückkehr nach Hause nicht gibt. Und auch eine Entschädigung kann den Verlust der Heimat, der Gesellschaft und der ursprünglichen Umwelt niemals voll kompensieren.

Aufgrund einer Kombination von Faktoren, deren exakte Gewichtung wir trotz (oder wegen) der Propaganda der Nato und der serbischen Seite nie genau kennen werden, müssen wir im Kosovo jegliche Hoffnung, dass schon bald wieder eine Koexistenz zwischen den verschiedenen Volksgruppen möglich sein könnte, für immer begraben.

Hier und da gibt es ein paar aufrichtige Journalisten, die zugeben, dass wir die Frage, wie sich die Vertreibung der ethnischen Albaner durch die Serben genau abgespielt hat, immer noch nicht eindeutig beantworten können. Denn hier lief alles gleichzeitig ab: die Bombardierung des Kosovo durch die Nato, die Aktionen der UÇK und die brutalen Handlungen, die von den Serben – individuell oder kollektiv – begangen wurden.

Es steht allerdings außer Zweifel, dass die illegalen Bombardierungen die Fluchtbewegung der Menschen aus dem Kosovo verstärkt und beschleunigt haben. Die obersten Befehlshaber der Nato haben sicher nie ernsthaft geglaubt, dass sich durch Bombardierungen die Zahl der Flüchtlinge vermindern würde. Bezeichnenderweise hat keiner der beiden Führer jemals die Schrecken eines Krieges erlebt. Weder William Clinton noch Anthony Blair haben je gekämpft, haben je direkt erfahren, was es heißt, verzweifelt um das eigene Überleben zu ringen oder eine Familie schützen und über Wasser halten zu müssen. Allein schon deshalb haben Clinton und Blair die schärfste moralische Verurteilung verdient. Clinton sollte angesichts der US-Aktionen gegen Sudan, Afghanistan und Irak genauso als Kriegsverbrecher angeklagt werden wie Miloševic. Denn Clinton hat nicht nur gegen die Verfassung der USA verstoßen, indem er mehr als zwei Monate lang einen Krieg ohne Zustimmung des Kongresses führte, sondern auch gegen die UN-Charta.

Die Idee der humanitären Intervention, die so viele westliche Liberale als Rechtfertigung für den Bombenkrieg anführen, beruft sich auf den Wunsch, menschliches Leiden oder ein erlittenes Unrecht abzumildern. Nach den Lehren der Moralphilosophie muss man dabei freilich zuallererst sicherstellen, dass die Situation durch das eigene Eingreifen nicht noch verschlimmert wird. Diese Lehre scheinen die Nato-Führer vergessen zu haben, als sie schlecht vorbereitet, unzureichend informiert und kopflos losschlugen. Damit haben sie das Schicksal von hunterttausenden Kosovo-Albanern besiegelt, die aus der Provinz fliehen mussten, weil sie entweder der Rache der Serben ausgesetzt waren oder der Intensität der Bombenangriffe entgehen wollten. Damit wurden sie zu Opfern beider gegnerischen Seiten.

Heute kehren hunderttausende Flüchtlinge in ihre Heimatorte zurück, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, wie ihre Zukunft auf längere Sicht aussehen soll. Selbstbestimmung? Autonomie innerhalb Serbiens? Eine Besetzung durch die Nato? Teilung? Geteilte Souveränität? Und nach welchem Zeitplan? Und wer wird das alles bezahlen? Diese Fragen scheinen den Horizont des Verständnisses und der politischen Sensibilität zu übersteigen, über den die aktuellen Nato-Führern einzeln oder zusammengenommen verfügen.

Als Amerikaner und als Staatsbürger beunruhigt mich die Bedeutung der Kosovokrise für die künftige Weltordnung noch viel mehr. Die Vorstellung von „sicheren“ oder „sauberen“ Kriegen, in denen die militärischen Akteure der USA und ihre Ausrüstung für feindliche Attacken oder Gegenschläge so gut wie unverwundbar bleiben, ist zutiefst beunruhigend. Solche Kriege, argumentiert der renommierte Völkerrechtler Richard Falk, ähneln in ihrer Machtstruktur der Situation der Folter: Während der verhörende Folterer über alle Mittel verfügt und deshalb jede beliebige Methoden einsetzen kann, hat das Opfer keinerlei Machtmittel und ist der Willkür seines Verfolgers ausgeliefert.

Die US-Militärausgaben liegen um 30 Prozent höher als die Militärausgaben aller übrigen Nato-Länder zusammen genommen. Mehr als die Hälfte aller Länder der Erde sind von den USA mit Wirtschafts- oder Handelssanktionen belegt oder bedroht worden. Pariastaaten wie der Irak, Nord-Korea, der Sudan, Kuba und Libyen (das Etikett „Paria“ vergibt natürlich allein die USA) bekommen den vollen Zorn der Amerikaner zu spüren.

Die Botschaft, die der Welt damit übermittelt wird, ist eine Botschaft der Einschüchterung, ohne jeden Bezug zu Interessen der nationalen Sicherheit oder zu klar definierten strategischen Zielen: eine Botschaft der Macht um der Macht willen. Und wenn sich Clinton per Fernsehen an die Serben oder an die Iraker wendet, um ihnen mitzuteilen, dass sie von dem Land, das sie zerstört hat, keine Hilfe bekommen werden, wenn sie nicht ihre Führer austauschen, dann übersteigt die Arroganz einfach alle Grenzen.

Der Internationale Strafgerichtshof, der Miloševic zum Kriegsverbrecher erklärt hat, verliert jede Glaubwürdigkeit, wenn er nicht dieselben Kriterien auf Clinton, Blair, Albright, Sandy Berger, General Clark und all die anderen anwendet, die sich über alle Schranken des menschlichen Anstands und des Kriegsvölkerrechts hinwegsetzen. Angesichts dessen, was Clinton den Irakern angetan hat, ist Miloševic fast ein Amateur. Und was die Verbrechen Clintons noch schlimmer macht, das ist die Scheinheiligkeit und die vorgespielte Betroffenheit, mit der er sie drapiert. Da ist mir jedenfalls ein ehrenhafter Konservativer weitaus lieber als ein heuchlerischer Liberaler.

Die Medien haben die ohnehin ungute Situation noch weiter verschlimmert. Sie waren nicht etwa unparteiische Berichterstatter, sondern verhielten sich wie Kombattanten: parteiische Zeugen des Wahnsinns und der Grausamkeit dieses Krieges. Während der 79 Tage dauernden Bombardierung habe ich mindestens dreißig Nato-Pressekonferenzen verfolgt. Aber es sind mir nicht mehr als fünf oder sechs Journalisten erinnerlich, die auch nur ansatzweise den Unsinn in Frage gestellt hätten, den Jamie Shea von sich gab oder Javier Solana, der Nato-Generalsekretär, der seine „sozialistische“ Seele an die globale Hegemonialmacht USA verkauft hat.

Bei den Medien war nicht die Spur einer professionellen Skepsis zu verzeichnen, keinerlei Bemühen, über die „Erhellung“ der Nato-Positionen hinauszugehen, die vornehmlich von pensionierten Soldaten (niemals jedoch von Frauen) geleistet wurde, indem sie dem Publikum die Feinheiten des Bombenterrors auseinandersetzten. Ganz ähnlich verhielten sich liberale Kolumnisten und Intellektuelle. Sie nahmen die Zerstörung der serbischen Infrastruktur einfach nicht zur Kenntnis, vor lauter Begeisterung über die Idee, dass „wir“ endlich etwas unternahmen, um die ethnischen Säuberungen zu stoppen. Schlimmer noch, dass die Medien nur halbherzig (wenn überhaupt) über die Oppositionsbewegungen gegen den Krieg in den USA, in Italien, Griechenland und Deutschland berichten. Und dass sich niemand erinnerte, was vor vier Jahren in Ruanda geschah, oder in Bosnien; oder an die Vertreibung von 350 000 Serben durch Tudjmans Truppen, oder an die andauernden türkischen Gräueltaten gegen die Kurden, an das Töten von 560 000 irakischen Zivilisten, oder, um an eine der ersten ethnischen Säuberungen der Nachkriegszeit zu erinnern, die der Israelis 1948 an den Palästinensern, die bis heute anhält.

Bleibt die Frage: Ist es unvermeidlich, dass die USA in der Ãra nach dem Kalten Krieg mit ihrer militärisch-ökonomischen Strategie, die nur auf dem eigenen Profit und Opportunismus basiert, die Welt regieren? Oder ist es denkbar, dass sich gegen diese Politik eine hinreichend starke intellektuelle und moralische Widerstandskraft herausbildet?

Diejenigen unter uns, die im Machtbereich der USA leben oder amerikanische Bürger sind, müssen sich zuallererst darum bemühen, die Sprache und die Bilder zu entmystifizieren, die das Vorgehen der USA rechtfertigen sollen. Sie müssen die Politik der USA in Ländern wie Birma, Indonesien, Iran und Israel in Bezug setzen zu der Politik, die sie heute gegenüber Europa praktizieren, um die Bedingungen für US-amerikanische Investitionen und Geschäftsinteressen abzusichern. Und sie müssen aufzeigen, dass es sich bei diesen politischen Strategien, obwohl sie uns unterschiedlich präsentiert werden, grundsätzlich um ein und dieselbe handelt.

Widerstand ist allerdings nicht möglich ohne historisches Gedächtnis und ohne universalistische Prinzipien. Wenn ethnische Säuberungen in Jugoslawien ein Übel sind – und das sind sie natürlich –, so sind sie auch in der Türkei ein Übel, oder in Palästina, in Afrika und anderswo. Eine Krise ist keineswegs zu Ende, wenn CNN nicht mehr über sie berichtet. Es kann keine doppelte Elle geben. Wenn Krieg eine grausame und viel zu kostspielige Sache ist, gilt das auch für einen Krieg, in dem die US-Piloten aus 5 000 Meter Höhe ihre Bomben ausklinken. Wenn richtig ist, dass die Diplomatie dem Einsatz militärischer Mittel stets vorzuziehen ist, dann muss die Diplomatie auch unter allen Umständen zum Zuge kommen. Und wenn jedes Menschenleben heilig ist, dann dürfen Menschenleben auch nicht dann geopfert werden, wenn die Opfer zufällig keine Weißen oder Europäer sind.

Widerstand beginnt stets zu Hause, als Opposition zu einer Macht, die wir als Bürger beeinflussen können. Wenn sich aber ein allgegenwärtiger Nationalismus als Patriotismus und moralisches Engagement kostümiert, wenn er die Loyalität zur eigenen „Nation“ als oberstes Gebot diktiert und das kritische Bewusstsein überwältigt, dann ist der Verrat der Intellektuellen, der vollständige Bankrott ihrer Moral besiegelt.

aus dem Engl. von Niels Kadritzke

* Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Columbia (USA). Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Frieden in Nahost? Essays über Israel und Palästina“, Heidelberg (Palmyra) 1997.

Le Monde diplomatique vom 13.08.1999, von EDWARD SAID