15.09.1995

Labour's Hommage an die Eiserne Lady

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Labour's Hommage an die Eiserne Lady

WÄHREND dem britischen Konservativismus zusehends die Puste ausgeht, kommt – unter dem Deckmäntelchen einer „Modernisierung“ nach amerikanischem Vorbild – die ideologische Demontage der Labour Party erst richtig in Gang. Fast ausschließlich darum besorgt, den hofierten Mittelstand in Sicherheit zu wiegen, wird die Partei von Tony Blair nicht müde zu beweisen, daß man nicht länger das Sprachrohr der Gewerkschaften und der von fünfzehn Jahren Ultraliberalismus gebeutelten Klassen sei. Als „Realismus“ kommt das Versprechen daher, man wolle die wesentlichen, von Margaret Thatcher eingeleiteten Gegenreformen nicht wieder in Frage stellen. Dieses Zugeständnis schreibt ein Wirtschaftsmodell fest, dem es Großbritannien verdankt, heute in Europa zu den Ländern mit der größten sozialen Ungleichheit zu gehören.

Von FRANÇOIS POIRIER *

Seit etwas mehr als einem Jahr hält sich in den britischen Medien beharrlich das Gerücht, die Partei der Konservativen bereite sich auf eine harte Niederlage vor, während eine wiedererstarkte und verjüngte Labour Party sich anschicke, ihre Nachfolge anzutreten. Dabei werden – wenn das Unterhaus nicht vorzeitig aufgelöst wird – vor 1997 gar keine Parlamentswahlen stattfinden; auch zeigen sich die Konservativen in Umfragen von einer geradezu aufreizenden Stabilität: zwischen 1979 und 1992 hat sie lediglich 2 Prozent der Wählerstimmen eingebüßt, das sind ganze 0,8 Prozent der Wahlberechtigten.

Nach Meinung vieler Beobachter resultierte der „Triumph“ der Konservativen vor allem daraus, daß die führende Oppositionspartei aufgrund ihrer ganzen Einstellung einfach nicht wählbar war. Diese Erklärung greift zu kurz, denn die gegenwärtigen politischen Veränderungen sind das Ergebnis einer langen Entwicklung, deren Anfänge in den späten sechziger Jahren liegen. Im Zuge einer sozialen Umstrukturierung bildeten sich damals demokratische, antistaatliche Bestrebungen heraus, die alsbald zum Ausgangspunkt für Regionalismuskonzepte und Modelle sozialistischer Selbstverwaltung wurden, zugleich aber auch Bezugspunkt für den Individualismus und Monetarismus der neuen Rechten.

Die Politik einer Margaret Thatcher bildete die passende Antwort der Rechten auf die Herausforderungen jener Zeit.1 Sie besteht aus vier wesentlichen Grundpositionen: eine nationalistische Dimension, die der kränkelnden Gesellschaft neuen Schwung verleihen will; eine „populistische“ Dimension, die sich in Attacken gegen die Privilegierten des traditionellen Establishments wie gegen die „Immunität“ der Arbeiterorganisationen ausdrückt; eine monetaristische Politik, die jeden öffentlichen Eingriff in die Wirtschaft zum verkappten Kollektivismus erklärt; und schließlich die endlose Litanei von Freiheit und Eigenverantwortung, Individualität und Privatbesitz als den tragenden Säulen der Demokratie. Dazu kommt die Überzeugung, daß jeder Mensch widersprüchliche Persönlichkeiten in sich trägt – die man nach allen Regeln der Kunst bearbeiten müsse, um die traditionelle tiefverwurzelte Solidaritätshaltung in der Arbeiterschaft aufzubrechen.

Als diese Politik in die Sackgasse geriet, wurde die Eiserne Lady 1990 durch John Major abgelöst. Dieser verkündete zunächst seinen seltsamen Traum von einer „Gesellschaft ohne Klassen“ und schlägt sich seither mit Schwierigkeiten herum, die auch nicht dadurch zu lösen waren, daß er einen „Putsch von oben“ inszenierte und von seinem Amt als Chef der Konservativen Partei zurücktrat, um sich am vergangenen 4. Juli wiederwählen zu lassen. Die Schwierigkeiten resultieren nämlich daher, daß der Neokonservativismus ziemlich am Ende ist. Man hatte seinerzeit versprochen: „gleiche Chancen für alle, ungleich zu sein“; nur wuchs die Ungleichheit in einem Maße, daß den Unterprivilegierten inzwischen fast alle Türen verschlossen sind. Man versicherte, daß die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen deren Qualität steigern werde, aber das Gegenteil ist der Fall, selbst in den konservativen Hochburgen. Es wurde erklärt, der freie Markt fördere ein größeres Verantwortungsgefühl als das Funktionärswesen, tatsächlich aber grassiert die Korruption. Jener Teil der Gesellschaft, der den Konservativen seinen Aufstieg verdankt und sie dafür unterstützt hatte, scheint gegenwärtig orientierungslos und demoralisiert.

Dies sind die Widersprüche, aus denen die „neue“ Labour Party Kapital zu schlagen sucht – um den Preis einer radikalen Veränderung ihres politischen Profils, die freilich nicht erst im Juli 1994 begonnen hat, als Tony Blair die Führung der Partei übernahm. Labour hatte seit 1979 bei allen Parlamentswahlen schwere Niederlagen hinnehmen müssen. Das Versagen der Partei hat zunächst soziologische Gründe: Ihr „natürliches“ Wählerpotential nimmt ab (die Zahl der Angestellten in Industrie und Bauwesen ist um 40 Prozent gesunken und macht nur mehr ein Viertel der berufstätigen Bevölkerung aus), womit sie als politische Kraft auch für andere gesellschaftliche Gruppen an Attraktivität verliert. Ihr gestörtes Selbstvertrauen wiederum macht sie anfällig für unterschiedlichste Einflüsterungen. Die Partei ist auch kulturell gescheitert: wenn sie den Stil einer im Aussterben befindlichen Arbeiterklasse pflegt, entfremdet sie sich gleichermaßen die „neue“ Arbeiterklasse wie den Rest der Bevölkerung; wenn sie es nicht tut, verliert sie um so schneller den alten Kern ihrer Anhängerschaft. Außerdem gibt es geographische Faktoren: Labours Wählerschaft ist auf bestimmte Regionen konzentriert, und eine leichte Verschiebung der Stimmen zu ihren Gunsten würde allenfalls ihre Hochburgen stärken, ihre „Diaspora“ bliebe dagegen nahezu unberührt, womit sich im Ergebnis an der Sitzverteilung nichts ändern würde. Zuletzt ist ihre Schwäche auch eine politische – die Partei wird es kaum allen recht machen können, und ohne eine echte politische Wachablösung hat Labour nicht die geringste Chance, die Wählerinnen und Wähler, die sie in den siebziger Jahren verloren hat, zurückzugewinnen oder neue an sich zu binden. Wenn sie jedoch zu viele Anleihen im konservativen Lager macht, riskiert sie, ihre Anhänger vor den Kopf zu stoßen. Das Bemühen, beide Bestrebungen ins Gleichgewicht zu bringen, hat größte Verwirrung darüber ausgelöst, auf welche Perspektiven, welches Programm man sich festlegen soll.

Die schwere Niederlage von 1983 zeitigt Wirkung. Die Partei schickt eine neue Führungsmannschaft unter Neil Kinnock ins Rennen, die die verschiedenen Fraktionen unter einen Hut bringen soll. In kleinen Schritten macht man sich auf einen Weg, den man noch nicht als Erneuerung zu bezeichnen wagt. Denn in der Labour Party spielen parteipolitische Rituale eine höchst bedeutsame Rolle, und Einzelheiten des Parteiprogramms werden gern mit der Aura von Grundsatzfragen umgeben, an denen Freund und Feind sich scheiden. Seit 1985 beginnt man einzusehen, daß ein wesentlicher Teil der unter Thatcher ausgesetzten gewerkschaftlichen Rechte nicht zurückzugewinnen ist. Von 1987 bis 1990 unterzieht die Partei ihr Programm in jeder Hinsicht einer eingehenden Überprüfung und sucht die Eckwerte neu zu definieren: Die Idee, alle von den Konservativen privatisierten Bereiche wieder zu verstaatlichen, wird allmählich fallengelassen. 1988 bekennt sich Labour zur europäischen Einheit.

Der Fall der Berliner Mauer ermöglicht – über Hintertreppen und ungeachtet anderslautender Anträge – ein Abrücken von der Forderung nach einseitiger Abrüstung. Doch als das Tempo des Sozialabbaus sich verschärft – was für einen nicht unbedeutenden Teil der Bevölkerung offenbar kein Problem ist – geht die oppositionelle Labour Party vom Solidaritätsdenken in der Tradition der Arbeiterbewegung allmählich zu karitativen Vorstellungen im christlichen Geist über.

1990 wird zum ersten Mal die Forderung nach einer Reform der Verbindung von Gewerkschaft und Partei laut – der schwierige Versuch, mit der eigenen Geschichte zu brechen, immerhin haben die Gewerkschaften Labour gegründet und nicht umgekehrt, und sie sind es auch, die die Partei finanziell erhalten und ihr den Rückhalt in der Arbeitswelt sichern. Dennoch betrachtet man diese Verbindung mittlerweile als doppeltes Hindernis: zum einen erweckt sie den Eindruck, die Partei sei die Erfüllungsgehilfin bestimmter Klasseninteressen, zum anderen beteiligen sich die Gewerkschaftsangehörigen direkt weder am demokratischen Alltagsgeschäft der Partei noch an politischen Kampfhandlungen. Auch lassen sich die zumeist aus der Mittelschicht stammenden Parteianhänger und -anhängerinnen von der Organisationsmacht der Gewerkschaften, die im Namen von Tausenden abwesender und kaum je konsultierter Mitglieder sprechen, leicht einschüchtern.

Der Wandlungsprozeß setzt sich fort, als im Juli 1992 John Smith Nachfolger von Neil Kinnock wird und auf dem Parteikongreß von 1993 der Beschluß gefaßt wird, das Modell der Delegiertenwahl durch persönliche Abstimmung zu ersetzen. Doch erst mit der Ernennung von Tony Blair, der im Juli 1994 an die Stelle des verstorbenen John Smith tritt, gewinnt diese Entwicklung an Tempo. Die Positionen des neuen Parteichefs sind von ganz anderer Qualität: Er fordert vollständige und vorbehaltlose Akzeptanz aller irreversiblen Veränderungen, die die Konservativen eingeführt haben.

Es geht vor allem darum, der Labour Party ein neues Image zu verleihen, um die Gunst der südenglischen Mittelschicht zu gewinnen, die der Konservativen überdrüssig zu werden beginnt. Weiter gilt es, ein politisches Profil zu entwickeln, das fundiert und verantwortungsvoll wirkt, ohne dabei „unhaltbare“ Verbindlichkeiten vorzuschreiben. Schließlich müssen alte Labour-Positionen „links“ liegenbleiben – etwa die ökonomische Definition von Sozialismus als „Kollektiveigentum der Produktions- und Tauschmittel“, wie sie seit 1918 in Art. 4 der Parteistatuten festgehalten ist; aber auch das in der politischen Kultur der Arbeiterbewegung verwurzelte Klassenbewußtsein, das sich in der Verbindung der Partei mit den Gewerkschaften ausdrückt.

Eine Befragung aller Parteianhänger wird in die Wege geleitet, und ein im April 1995 zusammengerufener außerordentlicher Parteitag verabschiedet mit großer Mehrheit eine Neufassung von Artikel 4, in dem das Ziel des Sozialismus auf ein „Streben nach sozialer Gerechtigkeit“ heruntergestuft wird. Im Eiltempo entscheidet der Exekutivrat der Partei, die Vertretung der Gewerkschaften bei Parteitagen auf 50 Prozent der Mandate einzuschränken. Keine Woche vergeht, ohne daß programmatische Zielsetzungen nach unten korrigiert werden. Mittlerweile geht selbst der gemäßigte Flügel – sonst ein unbedingter Rückhalt für Tony Blair – auf die Barrikaden2. Man ist besorgt über den Führungsstil eines Parteichefs, der seine persönliche Überzeugung über jede Diskussion setzt, der aus Furcht, das „mittelständische England“ zu verprellen, jede explizite Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit in Großbritannien unterbinden will und aus Angst vor einer Spaltung Auseinandersetzungen in der Partei unter den Teppich kehrt.

Das gewagte Spiel der Parteiführung ist nur um den Preis einer tiefgreifenden Veränderung der politischen Landschaft zu gewinnen. Den Konservativen müssen Wählerstimmen auf ureigenem Terrain streitig gemacht werden, und sei es, daß man in Demut Margaret Thatcher die Ehre erweist und verkündet, man lasse sich von ihrer Entschlossenheit inspirieren, mit den alten Privilegien aufzuräumen.

Inzwischen darf man zu Recht von einer neuen Ära der Labour Party sprechen: Zum ersten Mal seit dem Machtantritt von Margaret Thatcher scheint die Opposition in der Lage, die Widersprüche in den Griff zu bekommen, die ihr seit zehn Jahren den Weg an die Macht verbauen. Um diesen Aufstieg ins Werk zu setzen, bedient sich die neue Führung christlich-sozialer Parolen aus der populistischen Tradition der eigenen Partei.3 Nur daß sich die Parteispitze jetzt mit dem Gedanken vertraut gemacht hat, daß es in jeder menschlichen Gesellschaft Ungleichheit gibt. Die wahren Übel sind andere: die ererbte Ungleichheit, die inzestuös sich fortzeugenden Hierarchien (Hut ab vor Frau Thatcher!) und die übertriebene Ungleichheit. Wenn Ungleichheit die Gesellschaft bestimmt, ist es legitim, daß jeder einzelne für sich das Beste herauszuholen versucht. Es muß dann eben eine soziale Moral in Kraft gesetzt werden (vgl. Kasten „Gedanken...“), um das Gesetz des Dschungels nicht ungehemmt walten zu lassen.

Diese „soziale Moral“ verspricht Solidarität im Dienst des Individuums. Die staatliche Fürsorge ist nicht länger ein Wohltätigkeitsverein für die Bedürftigsten, sondern macht die vorhandenen Mittel jedem gleichermaßen zugänglich. Und dann ist da ja noch eine Pufferzone zwischen dem Individuum und dem Staat: die Gemeinschaft, in deren Schoß der einzelne mit Hilfe der anderen seine Verwirklichung findet. Als Leitbild dieser Gemeinschaft dienen zwei alte, schon von den Konservativen liebevoll gehegte Werte: Familie und Verantwortungsgefühl. Die neuen, in den sechziger und siebziger Jahren hinzugewonnenen Persönlichkeitsrechte wären einseitig, stünden ihnen nicht entsprechende Pflichten gegenüber. Der christlich-soziale Ansatz verbindet all diese Vorstellungen mit dem Willen zur Umgestaltung. Daß von den Klassen- und Besitzverhältnissen überhaupt nicht mehr die Rede ist, hat hier eine völlig andere Bedeutung als vor rund vierzig Jahren bei den „Revisionisten“4: Diese Strömung zweifelte an der Existenzberechtigung der Partei in einer Welt, die keinen grundlegenden Wandel mehr zu brauchen schien. Die jetzige Parteiführung glaubt dagegen an eine Modernisierung des Landes mit demokratischen Mitteln, an eine Veränderung in den Einstellungen und zwischenmenschlichen Beziehungen seiner Bürger. Man wird sehen, ob es ein Erfolgsrezept ist, die Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen. Und ob die Linke – die alte wie die neue – bereit ist, ihr so weit zu folgen.

dt. Christian Hansen

1 Vgl. François Poirier, „Les déboires de Mme Thatcher“, Le Monde diplomatique, Februar 1986, und Bernard Cassen, „Sortie de scène pour Mme Thatcher“, Le Monde diplomatique, Dezember 1990.

2 Vgl. hierzu die Artikel des Abgeordneten und ehemaligen Ministers der Labour Party, Roy Hattersley, in The Guardian vom 4. August und in The Independent vom 12. August 1995.

3 Vgl. François Poirier, „Travaillisme et populisme“, Ranam, XXV, 1992, und „Le Parti travailliste, grandeur et décadence?“, Marc Lazar (Hg.), „La Gauche en Europe“, Paris (PUF) im Druck.

4 Mit Blick auf die Studie von C.A.R. Crosland („The Future of Socialism“, London (Jonathan Cape), 1956, versuchte der damalige (1961–1964) Parteichef Hugh Gaitskell – vergeblich – das in Artikel 4 der Parteistatuten definierte Ziel des Sozialismus streichen zu lassen.

* Der Autor ist Professor für Zivilisationsgeschichte Großbritanniens an der Universität Paris VIII und Mitglied des Centre de recherche sur les relations interculturelles anglophones et francophones (Cridaf).

Abschied von den alten Dogmen

NACH der schweren Niederlage von 1983 zeigt Labour Wirkung: Die Partei schickt eine neue Führungsmannschaft unter Neil Kinnock ins Rennen, die die verschiedenen Fraktionen unter einen Hut bringen soll. In kleinen Schritten macht man sich auf einen Weg, den man noch nicht als Erneuerung zu bezeichnen wagt. Denn in der Labour Party spielen parteipolitische Rituale eine höchst bedeutsame Rolle, und Einzelheiten des Parteiprogramms werden gern mit der Aura von Grundsatzfragen umgeben, an denen Freund und Feind sich scheiden. Seit 1985 beginnt man einzusehen, daß ein wesentlicher Teil der unter Thatcher ausgesetzten gewerkschaftlichen Rechte nicht zurückzugewinnen ist. Von 1987 bis 1990 unterzieht die Partei ihr Programm in jeder Hinsicht einer eingehenden Überprüfung und sucht die Eckwerte neu zu definieren: Die Idee, alle von den Konservativen privatisierten Bereiche wieder zu verstaatlichen, wird allmählich fallengelassen. 1988 bekennt sich Labour zur europäischen Einheit.

Der Fall der Berliner Mauer ermöglicht – über Hintertreppen und ungeachtet anderslautender Anträge – ein Abrücken von der Forderung nach einseitiger Abrüstung. Doch als das Tempo des Sozialabbaus sich verschärft – was für einen nicht unbedeutenden Teil der Bevölkerung offenbar kein Problem ist – geht die oppositionelle Labour Party vom Solidaritätsdenken in der Tradition der Arbeiterbewegung allmählich zu karitativen Vorstellungen im christlichen Geist über. Das alles macht aber noch kein umfassendes, stimmiges und mitreißendes politisches Programm.

1990 wird zum ersten Mal die Forderung nach einer Reform der Verbindung von Gewerkschaft und Partei laut – ein heikler Versuch, mit der eigenen Geschichte zu brechen, immerhin haben die Gewerkschaften Labour gegründet und nicht umgekehrt; sie sind es, die die Partei finanziell erhalten und ihr den Rückhalt in der Arbeitswelt sichern. Dennoch betrachtet man diese Verbindung mittlerweile als doppeltes Hindernis: zum einen erweckt sie den Eindruck, die Partei sei die Erfüllungsgehilfin bestimmter Klasseninteressen, zum anderen beteiligen sich die Gewerkschaftsangehörigen direkt weder am demokratischen Alltagsgeschäft der Partei noch an politischen Kampfhandlungen. Auch lassen sich die zumeist der Mittelschicht entstammenden Parteianhänger von der Organisationsmacht der Gewerkschaften, die im Namen von Tausenden abwesender und kaum je konsultierter Mitglieder sprechen, leicht einschüchtern.

Der Wandlungsprozeß setzt sich fort, als im Juli 1992 John Smith Nachfolger von Neil Kinnock wird und auf dem Parteikongreß von 1993 der Beschluß gefaßt wird, das Modell der Delegiertenwahl durch persönliche Abstimmung zu ersetzen. Doch erst mit der Ernennung von Tony Blair, der im Juli 1994 an die Stelle des verstorbenen John Smith tritt, gewinnt diese Entwicklung an Tempo. Die Positionen des neuen Parteichefs sind von ganz anderer Qualität: Er fordert vollständige und vorbehaltlose Akzeptanz aller irreversiblen Veränderungen, die von den Konservativen eingeführt worden sind.

Es geht vor allem darum, der Labour Party ein neues Image zu verleihen, um die Gunst der südenglischen Mittelschicht zu gewinnen, die der Konservativen überdrüssig zu werden beginnt. Weiter gilt es, ein politisches Profil zu entwickeln, das fundiert und verantwortungsbewußt wirkt, ohne dabei „unhaltbare“ Verbindlichkeiten einzugehen. Schließlich müssen verstaubte Labour-Positionen „links“ liegengelassen werden – etwa die ökonomische Definition von Sozialismus als „Kollektiveigentum der Produktions- und Tauschmittel“, wie sie seit 1918 Artikel 4 der Parteistatuten verzeichnet; aber auch das in der politischen Kultur der Arbeiterbewegung verwurzelte Klassenbewußtsein, das sich in der Verbindung der Partei mit den Gewerkschaften ausdrückt.

Eine Befragung aller Parteianhänger wird in die Wege geleitet, und ein im April 1995 zusammengerufener außerordentlicher Parteitag verabschiedet mit großer Mehrheit eine Neufassung von Artikel 4, in dem das Ziel des Sozialismus auf ein „Streben nach sozialer Gerechtigkeit“ heruntergestuft wird. Im Eiltempo entscheidet der Exekutivrat der Partei, die Vertretung der Gewerkschaften bei Parteitagen auf 50 Prozent der Mandate einzuschränken. Keine Woche vergeht, ohne daß programmatische Zielsetzungen nach unten korrigiert werden. Mittlerweile geht selbst der gemäßigte Flügel – sonst ein unbedingter Rückhalt für Tony Blair – auf die Barrikaden2; man ist besorgt über einen Führungsstil, der die persönliche Überzeugung des Parteichefs über jede Diskussion zu setzen scheint, der aus Furcht, das „mittelständische England“ zu verprellen, jede deutliche Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit in Großbritannien unterbinden will und aus Angst vor einer Spaltung Auseinandersetzungen unter den Teppich kehrt.

Das gewagte Spiel der Parteiführung ist nur um den Preis einer tiefgreifenden Veränderung der politischen Landschaft zu gewinnen. Den Konservativen müssen Wählerstimmen auf ureigenem Terrain streitig gemacht werden, und sei es, daß man in Demut das Andenken Margaret Thatchers ehrt und behauptet, man lasse sich von ihrer Entschlossenheit inspirieren, mit den alten Privilegien aufzuräumen.

Inzwischen darf man zu Recht von einer neuen Ära der Labour Party sprechen: zum ersten Mal seit dem Machtantritt von Margaret Thatcher scheint die Opposition in der Lage, die Widersprüche in den Griff zu bekommen, die ihr seit zehn Jahren den Weg an die Macht verbauen. Um diesen Aufstieg ins Werk zu setzen, bedient sich die neue Führungsriege christlich-sozialer Parolen aus der populistischen Tradition der eigenen Partei.3

Nur daß sich die Parteispitze jetzt mit dem Gedanken vertraut gemacht hat, daß es in jeder menschlichen Gesellschaft Ungleichheit gibt. Die wahren Übel sind andere: die ererbte Ungleichheit, die inzestuös sich fortzeugenden Hierarchien (Hut ab vor Frau Thatcher!) und die übertriebene Ungleichheit (vom Leder gezogen gegen die Konservativen!). Wenn Ungleichheit die Gesellschaft bestimmt, ist es legitim, daß jeder einzelne für sich das Beste herauszuholen versucht. Es muß dann eben eine soziale Moral in Kraft gesetzt werden (vgl. den Kasten auf dieser Seite), um das Gesetz des Dschungels nicht ungehemmt walten zu lassen.

Diese „soziale Moral“ verspricht Solidarität im Dienst des Individuums. Die staatliche Fürsorge ist nicht länger ein Wohltätigkeitsverein für die Bedürftigsten, sondern macht die vorhandenen Mittel jedem gleichermaßen zugänglich. Und dann ist da ja noch eine Pufferzone zwischen dem Individuum und dem Staat: die Gemeinschaft, in deren Schoß der einzelne mit Hilfe der anderen seine Verwirklichung findet. Als Leitbild dieser Gemeinschaft dienen zwei alte, schon von den Konservativen liebevoll gehegte Werte: Familie und Verantwortungsgefühl. Die neuen, in den sechziger und siebziger Jahren hinzugewonnenen Persönlichkeitsrechte wären einseitig, stünden ihnen nicht entsprechende Pflichten gegenüber.

Der christlich-soziale Ansatz verbindet all diese Vorstellungen mit dem Willen zur Umgestaltung. Daß von den Klassen- und Besitzverhältnissen überhaupt nicht mehr die Rede ist, hat hier eine völlig andere Bedeutung, als vor rund vierzig Jahren bei den „Revisionisten“4: Diese Strömung zweifelte an der Existenzberechtigung der Partei in einer Welt, die keinen grundlegenden Wandel mehr zu brauchen schien. Die jetzige Parteiführung glaubt dagegen an eine Modernisierung des Landes mit demokratischen Mitteln, an eine Veränderung in den Einstellungen und zwischenmenschlichen Beziehungen seiner Bürger. Man wird sehen, ob es sie auf diesem Weg weiterbringt, daß sie die Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen nicht mehr zur Kenntnis nehmen will. Und ob die Linke – die alte wie die neue – bereit ist, ihr so weit zu folgen.

dt. Christian Hansen

Le Monde diplomatique vom 15.09.1995, von Francois Poirier