Wenn niedrige Löhne der Wettbewerbsfähigkeit schaden
Von
JONATHAN
MICHIE *
DIE britische Regierung hat das Fehlen von Arbeitsplätzen stets damit erklärt, daß auf dem Arbeitsmarkt die „unsichtbare Hand“ des Wettbewerbs nicht ungehindert walten könne. Bestärkt durch einen Rückgang der offiziellen Arbeitslosenzahlen (8,4 Prozent der aktiven Bevölkerung), behaupten die konservativen Minister insbesondere, daß durch „künstlich“ geschaffene Hindernisse die Löhne nicht auf das Niveau sinken konnten, das der veränderten Weltwirtschaftslage angemessen wäre. Durch ihr Festhalten an Lohnforderungen, die den tatsächlichen Wert ihrer Arbeit überstiegen, seien ganze Berufsgruppen in Gefahr, sich selbst zur beruflichen Untätigkeit zu verurteilen.
Um diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen, hat die Regierung mit einer Reihe von Maßnahmen versucht, eine Absenkung des Lohnniveaus zu erleichtern und „eine größere Beweglichkeit des Arbeitsmarktes“ zu bewirken. So wurden die Bestimmungen zum Kündigungsschutz und die Vergünstigungen beim Mutterschaftsurlaub in restriktiverer Form neu festgelegt bzw. eingeschränkt. In einigen Bereichen der öffentlichen Dienstleistungen wurden Aufträge an private Unternehmen vergeben, die ihre Angestellten schlechter bezahlen als die öffentlichen Arbeitgeber. Andere Bereiche sind ganz privatisiert worden, wodurch den untersten Lohngruppen die beamtenrechtlichen Vergünstigungen entzogen wurden. Auch der gesetzliche Mindestlohn wurde abgeschafft. Parallel dazu erschwerten eine Reihe von gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen die Organisierung des Widerstands gegen die Offensiven der Arbeitgeberseite.
Zweifellos ist das Einkommen eines Teils der Bevölkerung in den achtziger Jahren deutlich gestiegen, jedoch um den Preis einer beachtlichen Verstärkung der allgemeinen Ungleichheit. Die Zahl der Armen hat sich verdreifacht.1 Inzwischen ist die durchschnittliche Lebenserwartung in wirtschaftlich verelendeten Stadtteilen um acht Jahre geringer als in einem reichen Viertel. Männliche Arbeiter im untersten Zehntel der Einkommensskala haben zwischen 1975 und 1992 kontinuierliche Reallohnsenkungen hinnehmen müssen, während die Einkommen der Spitzenverdiener im oberen Zehntel um 53 Prozent gestiegen sind.2 Daß sich der Abbau der Verstaatlichung bezahlt gemacht hat, beweisen die Jahresgehälter der fünfzehn höchstbezahlten Direktoren privatisierter Gesellschaften: sie lagen im vergangenen Jahr zwischen 215000 und 663000 £ (1 £ = 2,27 DM).
Neben den negativen Auswirkungen ihrer Arbeitsmarktpolitik haben die konservativen Regierungen der vergangenen Jahre auch die Folgen ihrer Steuer- und Sozialpolitik zu verantworten. Die Abschaffung der höchsten Steuerklasse, der wachsende Anteil indirekter Steuern an den Staatseinnahmen und die neuerliche Anhebung der Sozialabgaben haben die Reichsten begünstigt. Dagegen waren die Ärmsten von der Vereinheitlichung der Arbeitslosenhilfe – auf niedrigstem Niveau – betroffen, deren Höhe vordem an die Zahl der Unterhaltsberechtigten und an den Lebenshaltungsindex gekoppelt war; außerdem wurde es Arbeitslosen zu Auflage gemacht, auch schlechtbezahlte Arbeit anzunehmen. Alle diese Maßnahmen haben dazu geführt, daß 1989 die üblichen Sozialleistungen einen geringeren Anteil des Volkseinkommens ausmachten als noch 1979, und das obwohl die Zahl der Rentenempfänger und Arbeitslosen in diesem Zeitraum um jeweils eine Million und die der Empfänger von Kindergeld um 250000 gestiegen war. Die wachsende Zahl von Arbeitsuchenden, die sich vertiefenden Lohnunterschiede, der zunehmende Anteil der Teilzeitarbeit und die Steuer- und Sozialpolitik der Konservativen waren gleichermaßen dafür verantwortlich, daß der Anteil der schlechter gestellten Hälfte der Bevölkerung am nationalen Einkommen von 33 Prozent auf 27 Prozent gesunken ist.
Von der Überzeugung ausgehend, daß die Tariflöhne und die von Staat und Gewerkschaften durchgesetzten sozialrechtlichen Schutzbestimmungen an der Stagnierung des Arbeitsmarkts schuld waren, hatte man die konservative Politik der „Deregulierung“ eingeleitet, um der Beschäftigungssituation durch ein freieres Spiel von Angebot und Nachfrage aufzuhelfen. Doch auch nach fünfzehn Jahren der Reformen bestimmt Instabilität den Arbeitsmarkt – wobei die hohe Arbeitslosigkeit kaschiert wird, weil sich in dieser Situation viele genötigt sehen, an unbefriedigenden Beschäftigungsverhältnissen festzuhalten. So entfallen fast 40 Prozent der Stellenangebote auf die schlechtbezahlten Bereiche der Instandsetzungsfirmen, der Zulieferbetriebe und des Hotel- und Gaststättengewerbes; Bereiche, die gerade 20 Prozent des gesamten Beschäftigungsvolumens ausmachen.
Für diese Dienstleistungen im Niedriglohnbereich besteht tatsächlich ein beachtliches Angebot, das jedoch aufgrund der mäßigen Bezahlung ungenutzt bleibt. Im Hinblick auf die schlechtbezahlten Arbeitsplätze trägt die Rezession zu einem ausgeglicheneren Verhältnis von Angebot und Nachfrage bei, doch nur dadurch, daß sie attraktivere Stellen in großem Umfang verschwinden läßt. Niedrige Löhne sind also nicht, wie dies von den britischen Konservativen und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD)3 behauptet wird, ein Mittel gegen die Arbeitslosigkeit, sondern die Beschäftigten werden durch die hohe Zahl der Arbeitslosen lediglich dazu gebracht, unsichere und schlechtbezahlte Stellen anzunehmen, die sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wieder verlassen.
Erst kürzlich hat es der Burton-Konzern verstanden, aus dieser Situation Kapital zu schlagen, indem er mehr als tausend Angestellte aus regulären Arbeitsverträgen entlassen hat, um sie sogleich durch dreitausend Teilzeitarbeitskräfte zu ersetzen, mit denen er ganz anders umspringen konnte.4
Es sind gemeinhin die wirtschaftlich schwachen Unternehmen, die ihre Angestellten schlecht bezahlen: Durch Billigarbeit versuchen sie, die Nachteile veralteter Produktionsanlagen oder die Unfähigkeit von Geschäftsleitung und Management zu kompensieren. Sie können es sich daher kaum leisten, ihre Angestellten auszubilden. Berufliche Qualifikation und technologischer Standard sind aber in nicht geringem Maße von sozialen Faktoren abhängig. Schlechtbezahlte Berufe genießen geringes Ansehen, ganz gleich wie hoch das für sie erforderliche technische Know-how sein mag. Und da der berufliche Status zum Teil über die Bereitschaft entscheidet, eine entsprechende Ausbildung anzustreben, mindert die Tatsache, daß solche Arbeitsplätze mit unteren Gesellschaftsschichten in Verbindung gebracht werden, nicht nur das Interesse an diesen Berufen,
sondern auch den Status der für sie erforderlichen Ausbildung. Eine Politik der niedrigen Löhne gefährdet also nicht nur das soziale Gefüge eines Landes, sondern läßt auch das Interesse sinken, sich für neue Berufszweige zu qualifizieren.
Hatte der Niedergang der britischen Industrie zunächst eine Absenkung des Lohnniveaus in den von der Krise unmittelbar betroffenen Bereichen ausgelöst, so wiederholte sich dieser Effekt anschließend auch in jenen Industriezweigen, wo die ehemaligen Angestellten geschlossener Firmen unterzukommen versuchten. Vor allem aber wurde der Abbau qualifizierter Arbeitsplätze weiter beschleunigt. In erster Linie, weil die geschwächten und ihrer Möglichkeiten zur Durchführung berufsqualifizierender Maßnahmen beraubten Gewerkschaften den Attacken der Arbeitgeber nichts mehr entgegenzusetzen hatten, um den Ausbildungsstand ihrer Mitglieder zu wahren. Die Unternehmen reagierten auf wirtschaftliche Schwierigkeiten häufig mit der Reduzierung ihrer Ausbildungskosten und beschränkten sich darauf, ihre Angestellten gerade so weit anzulernen, daß sie ihre unmittelbaren Aufgaben erfüllen konnten. Zusätzlich zu den sinkenden Löhnen und einer zunehmend pessimistischen Einschätzung der Perspektiven in der Industrie haben diese Qualifikationseinbußen vollends zur Entmutigung auch der motiviertesten Arbeitsuchenden beigetragen. Die Vernachlässigung der Berufsanfänger hat den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und den Niedergang der Industrie weiter beschleunigt.
Um den eng verknüpften Problemen von Arbeitslosigkeit und mangelnder Qualifizierung zu begegnen, haben die konservativen Regierungen Aus- und Weiterbildungsprogramme auf den Weg gebracht. Aber diese neuen Maßnahmen – die durchaus sinnvoll waren – gerieten schon bald in den Ruf, nur zu verdeckter Arbeitslosigkeit und Niedriglohntätigkeit zu führen. Ein erneuter Prestigeverlust war die Folge: die Qualifikationen, die man dort erwerben konnte, galten nicht viel. Es fanden sich immer weniger Interessenten für diese Förderprogramme, weil die Meinung vorherrschte, der ganze Aufwand werde sich nicht lohnen; und wer auf diesem Wege eine Qualifikation erworben und eine Anstellung gefunden hatte, war bestrebt, so schnell wie möglich anderswo unterzukommen.
Es wäre jedenfalls eine Verschwendung von Ressourcen, wenn man sich in der Fortbildung auf die Arbeitslosen konzentrierte, um sie auf schlechtbezahlte Tätigkeiten in Betrieben vorzubereiten, die wegen ihrer veralteten Produktionsanlagen und einem unzeitgemäßen Produktangebot auf billige Arbeitskräfte angewiesen sind. Denn die Qualifikationen, die hier verlangt werden, sind an überholte Technologien gebunden, solche Arbeitsplätze haben keine Zukunft. Nimmt man alles zusammen, die indiskutablen Löhne und Arbeitsbedingungen, die Folgen der staatlichen Politik und der arbeitgeberischen Entscheidungen, so ergibt sich, daß die Mittel für die Ausbildungsförderung auf denkbar schlechte Weise eingesetzt werden: das Resultat ist Dequalifizierung und Demotivierung.
Auf die Handelsbilanz hatte der schwindelerregende Anstieg von Armut und Ungleichheit negative Auswirkungen, denn die Schichten, denen es heute besser geht, haben eher eine Vorliebe für ausländische Produkte. Zugleich ist die Schuldenspirale weiter in die Höhe getrieben worden, Staat und Kommunen sind durch zusätzliche soziale Ausgaben belastet. Die Armen können, selbst wenn sie Arbeit haben, von ihrem Verdienst kaum das Lebensnotwendigste bezahlen: Ein wachsender Teil ihres Lebensunterhalts wird also nicht mehr durch den Arbeitgeber sichergestellt, sondern muß letztlich vom Steuerzahler aufgebracht werden.5 Sofern sich aber die Belastung der öffentlichen Haushalte in den vom Maastrichter Vertrag fixierten Grenzen halten soll (eine Maximalverschuldung von 3 Prozent, gemessen am Bruttosozialprodukt), würde eine weitere Zunahme der Unterstützungsberechtigten zwangsläufig geringere Sozialleistungen zur Folge haben. Oder aber die staatlichen Investitionen müßten beschnitten werden, was wiederum die Beschäftigungssituation insgesamt verschlechtern würde.
Im Mai 1995 hat sich die in der Dritte-Welt-Hilfe engagierte Wohlfahrtsorganisation Oxfam entschieden, ein Programm zur Bekämpfung der Armut in Großbritannien vorzulegen. Zur Rechtfertigung dieser Entscheidung erklärte der Leiter der Organisation, daß ein Land, in dem 14 Millionen Menschen über weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens verfügten und eine von vier Familien auf Sozialhilfe angewiesen sei, von den Ländern des Südens noch eine Menge lernen könne.
Einer Anfang des Jahres veröffentlichten Untersuchung zufolge nimmt die Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt weiter zu. Während sich zwischen 1977 und 1987 noch fast dreiviertel der Arbeitnehmer zuversichtlich über ihre beruflichen Aussichten äußerten, teilt heute kaum mehr die Hälfte dieses Gefühl. Diejenigen Briten, denen der Einstieg ins Berufsleben noch bevorsteht, erwartet ein schlechtbezahlter und nicht einmal sicherer Arbeitsplatz, immer häufiger handelt es sich um Zeit- oder Teilzeitarbeit.
Obwohl sich mehrere aufeinanderfolgende konservative Regierungen für eine Senkung der Steuern und der Staatsausgaben stark gemacht haben, sind der Staatshaushalt und die Kommunen heute durch die Folgen von Armut, Arbeitslosigkeit und Niedriglöhnen mehr denn je gefordert. Gleichzeitig schlug die unsichere Beschäftigungssituation negativ bei der Arbeitsproduktivität zu Buche. So hat sich ein Teufelskreis geschlossen, der – zusätzlich zu den sozialen Folgen – auch der Wettbewerbsfähigkeit geschadet hat.
1 Nach den Kriterien der Europäischen Gemeinschaft gilt als arm, wer weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens zum Leben besitzt.
2 Die britische Regierung hatte sich angeschickt, British Rail stückweise zu privatisieren. Die Entscheidung drohte den Steuerzahler fast 1,7 Milliarden zu kosten (vgl. Le Nouvel Économiste, 18. August 1995); so wurde beschlossen, die Operation rückgängig zu machen.
3 Eine Analyse des Berichts der OECD zur Arbeitssituation bietet der Artikel von Serge Halimi, „Les chantiers de la démolition sociale“, Le Monde diplomatique, Juli 1994. Erst im letzten Monat hat die Organisation erneut eine Studie über die „spektakulären Erfolge“ der britischen Wirtschaft vorgelegt: „Großbritannien. 1995“, OECD, Paris 1995, 152 Seiten.
4 Die Praxis des „Nullstunden“-Vertrages erlaubt es dem Unternehmen, einige seiner Angestellten – ohne ihnen eine einzige Arbeitsstunde garantieren zu müssen und ohne, daß man sie dafür bezahlte – zu verpflichten, zu Hause darauf zu warten, daß man sie bei Bedarf in die Produktion ruft.
5 Diese Verlagerung wird noch verschärft durch das, was die Konservativen die „Armutsfalle“ nennen: Weil sich ihre Zuwendungen entsprechend verringern, sobald sie ein Gehalt beziehen, sind Sozialhilfeempfänger oft nicht bereit, jede beliebige Arbeit anzunehmen. Es empfiehlt sich daher, die Arbeitslosenhilfe zu kürzen, um die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu erleichtern...
6 In Großbritannien ist ein Viertel der Angestellten teilzeitbeschäftigt (der Anteil ist doppelt so hoch wie etwa in Frankreich); und die Zahl derer, die (zumeist aus finanzieller Notwendigkeit) zwei Berufe gleichzeitig ausüben, ist in den letzten zehn Jahren von 700000 auf 1200000 gestiegen.
* Professor für Wirtschaft am Robinson College (Universität Cambridge), zusammen mit John Grieve Smith Autor von „Managing the Global Economy“, Oxford University Press, 1995.