15.09.1995

Von der Geopolitik zur Geoökonomie

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Von der Geopolitik zur Geoökonomie

Weil die westlichen Regierungen sich mit Scheinlösungen zufriedengeben, sehen sie zu, wie die Welt wirtschaftlich und militärisch auf ein Desaster zusteuert. Das Primat des Ökonomischen kennt kein politisches Gedächtnis und gibt die Politiker immer öfter der Lächerlichkeit preis. Dennoch beansprucht die liberale Marktwirtschaft die Alleinherrschaft überall. Der allgegenwärtige Wettbewerb zerstört die internationale Solidarität, durch die vielleicht das Unheil aufgehalten werden könnte.  ■ Von CLAUDE JLIEN

SIND die Regierungen zum Irrtum und zum Scheitern verurteilt? In Europa, den USA und Japan steht man ihrer Politik zunehmend skeptisch gegenüber... Jede ihrer Entscheidungen stützt sich auf ein unschätzbares Reservoir an Erfahrung, Sachkenntnis, Fachkompetenz und Begabung. Dennoch fällt die Welt – die nie ein Muster an Harmonie und Stabilität war – unter ihrer Ägide allmählich auseinander und steuert täglich mehr auf ein Desaster zu, das wahrscheinlich – wie seine heutigen Keime – wirtschaftlich und militärisch sein wird.

Aus Furcht, die Destabilisierung könne übergreifen, brachten Washington und der IWF vor einem Jahr einige Dutzend Milliarden Dollar auf, um die Währungskrise in Mexiko einzudämmen, die der Abfluß von Kapital ausgelöst hatte. Ein echtes Problem und eine prompte Lösung. Der Kontrast liegt auf dem Balkan, wo sich die westlichen Regierungen mit Scheinlösungen zufriedengaben, obwohl sie genau wußten, daß diese den Flächenbrand nicht eindämmen würden, den die von den Machthabern in Belgrad bewaffneten und finanzierten Milizen entfacht hatten.

Ein anderes Beispiel des Scheiterns: Rußland hat vielleicht keine große Lust, sein Militärpotential abzubauen; auf alle Fälle aber hat es – trotz der Unterstützung von außen – dazu einfach nicht die finanziellen Mittel. Hochentwickelte Waffensysteme zu zerstören ist ebenso teuer, wie sie zu bauen. Im Westen hofft also niemand mehr darauf, daß Moskau noch in diesem Jahr den Start-II-Vertrag (zur nuklearen Abrüstung) ratifizieren und seiner Verpflichtung nachkommen wird, Mitte November einen Großteil seiner konventionellen Waffen zu verschrotten, die in den letzten Monaten in Tschetschenien nützlich waren und es vielleicht morgen woanders sein werden.

Im Prinzip müßte sich Jelzin, der viel umstrittener ist als gemeinhin angenommen, schon im nächsten Jahr einer erneuten Präsidentschaftswahl stellen. Er wird dann mit einer auftrumpfenden ultranationalistischen Rechten rechnen müssen. Obwohl der Westen den von Jelzin in Tschetschenien geführten Krieg als innenpolitisches Problem betrachtet, ist er beunruhigt und befürchtet noch Schlimmeres. „Er hätte eher angreifen und stärker zuschlagen müssen“, erklärt Wladimir Schirinowski, die Galionsfigur jener extremen Rechten. „Wenn ich den Oberbefehl gehabt hätte, wäre von Grosny nicht mehr übriggeblieben als ein riesiger Bombenkrater. Jelzin und Gratschow haben einen Fehler gemacht. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man da unten keinen einzigen Journalisten gesehen.“1 Aufgrund derartiger Äußerungen erscheint Jelzin daher etlichen als das kleinere Übel. Und doch...

Ein amerikanischer Korrespondent spricht es offen aus: „Diejenigen unter uns, die [1991] die Präsidentschaft Boris Jelzins unterstützt haben, müssen ihre damalige Meinung heute überdenken.“2 Europa und Amerika träumten davon, daß auf sowjetischem Boden eine Demokratie entstehen und eine fruchtbare wirtschaftliche Zusammenarbeit möglich würde. Vier Jahre später haben sie es mit einem Regime zu tun, das um so autoritärer wird, je schwächer es sich fühlt, und das am seidenen Faden seiner ausgepowerten, zerrütteten und mafiosen Wirtschaft hängt. Der Traum ist geplatzt. Dabei ist das nur die natürliche Folge eines kapitalen Fehlers von Mitte Juli 1991: Gorbatschow hatte sich selbst auf den Gipfel der G7-Staaten in London eingeladen. Er erhielt dort zwar reichlich Zuspruch; doch von ihren eigenen wirtschaftlichen Sorgen geplagt, ließen ihn die sieben reichsten Industrienationen ohne einen Pfennig wieder abreisen. Zwei Wochen später unterzeichnete er dennoch mit Präsident Bush den Start-II-Vertrag, der eine Verringerung der strategischen Nuklearwaffen der beiden Großmächte um 25 bis 30 Prozent vorsieht.

Trotz Experten keine Voraussicht

VON diesem Augenblick an war der wesentliche Fortschritt gefährdet, den man in den Abrüstungsverhandlungen erzielt hatte: Daß die G7 Gorbatschow mit leeren Händen ziehen ließ, war ein Signal, das von den „Konservativen“ in Moskau richtig gedeutet wurde: Sie sahen, daß Gorbatschow vom Westen im Stich gelassen worden war, und glaubten nun „grünes Licht“ zum Putsch zu haben. Das Bild von Jelzin auf einem Panzer ging um die ganze Welt und verschaffte ihm eine geradezu absurde Popularität, wo man doch in allen Hauptstädten und Redaktionen genau wußte, zu welch unberechenbarem, zusammenhanglosem, ja brutalem Handeln dieser Mann fähig war.3 Doch dieses Bild sollte sich im buchstäblichen Sinne bezahlt machen: Mitte Oktober erhielt Jelzin von Europa, den USA und Japan das, was man Gorbatschow drei Monate zuvor verweigert hatte: eine finanzielle Nothilfe von 7,5 Milliarden Dollar.

Heute ist der Westen besorgt über die grausame Unterdrückung, die Jelzin in Tschetschenien durchsetzt, durch den Schwarzhandel mit Plutonium, durch die Beziehungen Moskaus zum Iran etc. Zu spät. Noch unter dem Einfluß der Folgen des Fehlers, den sie 1991 begangen hatte, glaubte die G7 im vergangenen Juni Jelzin in Halifax den herzlichen Empfang bereiten zu müssen, den sie Gorbatschow vier Jahre zuvor in London vorenthalten hatten.4 Glaubt man denn, Jelzin würde, wenn man ihn hofiert, dem Westen in Ex-Jugoslawien gute Dienste leisten? Damit hätte man die starken historischen Verbindungen zwischen Rußland und Serbien ebenso unterschätzt wie die nationalistische Herausforderung durch Wladimir Schirinowski und seine Anhänger. Der ist erst vor achtzehn Monaten nach Ex-Jugoslawien gereist, um die bosnischen Serben seiner Unterstützung zu versichern. „Macht euch keine Sorgen, Brüder!“ rief er. „Wenn auch nur eine einzige Bombe auf serbischen Boden fällt, betrachten wir das als Angriff auf Rußland!“5 Der Westen jagt einer Schimäre nach, wenn er hofft, Jelzin würde die restliche ihm noch verbliebene Popularität aufs Spiel setzen, nur um dem Westen aus der Klemme zu helfen, in die er sich auf dem Balkan hineinmanövriert hat.

Doch müssen wir dieses Kapitel noch einmal aufrollen?6 Durch Beobachtungssatelliten, Aufklärungsflugzeuge und elektronische Abhörgeräte sind die Regierungen heute genauer und schneller denn je über die Situation auf dem Balkan informiert. Der geballten Kompetenz ihrer Experten, denen nichts und niemand vor Ort entgeht, verdanken sie Ansichten und Ratschläge, die an Klarheit nichts zu wünschen übriglassen. Durch in Echtzeit arbeitende Kommunikationsmedien können sie sich jederzeit von einer Hauptstadt zur anderen verzögerungsfrei miteinander abstimmen. Durch den Einsatz „intelligenter“ Waffensysteme sind sie in der Lage, fast unfehlbar empfindliche Ziele des Gegners zu treffen. Wie konnten sie unter solchen Bedingungen ein derartiges Desaster zulassen?

Sie haben das Drama, das sich abspielte, nicht rechtzeitig begriffen und seine Konsequenzen nicht vorherzusehen vermocht, die mit Sicherheit über die gegenwärtigen Kriegsschauplätze hinausgehen werden. Zu Recht warf ihnen der UNO-Sonderbeauftragte Tadeusz Mazowiecki „Heuchelei“ vor, als er am 27. Juli von diesem Amt zurücktrat. Über einen Zeitraum von drei Jahren hat der frühere polnische Premierminister zahlreiche akribisch dokumentierte Berichte über die stattfindende Barbarei vorgelegt: Massaker, Folterungen, Vergewaltigungen... Er kann nicht hinnehmen, daß „die Vereinten Nationen den Fall von Srebrenica und Zepa zugelassen“ und damit weiteren Verrat vorgezeichnet haben.

Sollte diese allseits hochgeachtete Persönlichkeit nur einem altmodischen Moralismus gefrönt haben, der in unserer „modernen“, den „Realisten“ überlassenen Welt keinen Platz mehr hat? Nein, Mazowiecki ist ein hellsichtiger Politiker, wie aus dem Kernsatz seines Rücktrittsgesuchs hervorgeht: „Die Stabilität der internationalen Ordnung und das Prinzip der Zivilisation stehen auf dem Spiel“ in dieser blutrünstigen Komödie, bei der die Pseudodiplomatie der demokratischen Länder die Entfesselung mörderischer Leidenschaften eher begünstigt und ermutigt hat, als ihr, wie man behauptete, Einhalt zu gebieten.

Vor drei Jahren bezeichnete der amerikanische Staatssekretär in Genf Slobodan Milosevic, Radovan Karadzic und Ratko Mladic öffentlich als „Kriegsverbrecher“, was westliche Diplomaten durchaus nicht hinderte, ihnen weiterhin die Hand zu schütteln. Am 25. Juli beschuldigte das Tribunal von Den Haag Karadzic und Mladic des Völkermordes, sparte den Belgrader Regierungschef aber aus, ohne den es doch zu dem Gemetzel erst gar nicht gekommen wäre. „Seit 1992“, erklärt das Tribunal, betreiben die beiden Angeklagten „Völkermord“ und machen sich „eines Verbrechens an der Menschheit schuldig, indem sie bosnische muslimische Zivilisten und bosnische Kroaten aus religiösen und politischen Gründen verfolgen“. Wen interessiert das: Unverdrossen bekräftigt die UNO ihre Absicht, „mit allen beteiligten Parteien zu verhandeln...“7.

Die endlose Liste verletzter Abkommen und gebrochener Versprechungen hat eine Bedeutung: Die westlichen Regierungen haben nicht nur in aller Öffentlichkeit ihre vermeintliche „Ohnmacht“ bewiesen, die „ethnische Säuberung“ zu verhindern – sie haben diese geradezu geduldet. Dabei war ihnen klar, daß sie eine Kettenreaktion auslösten, durch die sich der Konflikt auf bisher verschonte Gebiete ausdehnen würde. Aber nein! An ihren Händen klebt kein Blut!... Voller Eleganz, Würde und Distinktion sind sie zu Komplizen derer geworden, die sie als „Kriegsverbrecher“ verurteilt haben.

Ein überzogenes und verletzend ungerechtes Urteil. Denn schließlich ist nur einer befähigt, zu sagen, was Recht ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, ist nur einer allein der letzte Rückhalt der Regierungen im Augenblick der Entscheidung, und dieser höchste Schiedsrichter hat das Verhalten der Regierungen in Ex-Jugoslawien nicht beanstandet: Der „Markt“ hat sich nicht gerührt...

Mazowiecki spricht von der „internationalen Ordnung“ und einem „Prinzip der Zivilisation“. Was geht ihn das an? Europa und Amerika wissen doch aufgrund des Marktverhaltens mit Sicherheit, daß es sich bei der „Ordnung“ und der „Zivilisation“, auf die sich schon Präsident Bush vor fünf Jahren während der Invasion in Kuwait berief, allein ums Wirtschaftliche dreht, darum, daß die Geschäfte „ordentlich“ laufen.

Washington hat wiederholt bekräftigt, in Ex-Jugoslawien keine „vitalen Interessen“ zu verfolgen. Die USA sind allerdings höchst interessiert daran, ihr übergroßes Handelsdefizit mit Japan auszugleichen. Im krassen Gegensatz zu ihrer zögerlichen Politik auf dem Balkan verhalten sie sich gegenüber Japan als Draufgänger, stehen gleichsam mit gezogenem Säbel da – wobei „Säbel“ hier ein Euphemismus ist: „Wir werden die Bombe auf sie abwerfen“, ließ der amerikanische Unterhändler Mickey Kantor im vergangenen Mai gegenüber dem Generaldirektor von General Motors verlauten.8 Ein schlechter Scherz, fünfzig Jahre nach Hiroshima... Doch der Versuch, gegen die japanische Automobilindustrie in die Offensive zu gehen, zeitigte keinerlei Wirkung: Tokio gab nicht nach, und das Handelsdefizit wird weiter wachsen.

Vom Mythos der Geoökonomie

DENNOCH meinte man in Washington, über eine absolute Waffe zu verfügen, die gezündet würde wie eine zweistufige Rakete:

– Zunächst erhöhte die Kommission der bundesstaatlichen Währungsreserve innerhalb von achtzehn Monaten siebenmal die Zinsen, auf die Gefahr hin, das Wirtschaftswachstum zu bremsen. Offizielle Begründung: Man wolle einer drohenden Inflation vorbeugen, für die es freilich keinerlei Anzeichen gibt. Wirklicher Grund: Man versucht, ausländisches Kapital anzulocken und damit einen stetig wachsenden Teil der Weltwährungsreserven in das eigene Land umzuleiten – ein seit dem Beginn der Reagan-Ära konstant verfolgtes Ziel. Dann ließ man den Dollar floaten, was theoretisch zum Rückgang der Nachfrage nach nun teureren Importprodukten und gleichzeitig zur Steigerung der Exporte hätte führen müssen, die für Käufer mit Mark, Francs oder Yen billiger würden: „Ein [gegenüber dem Dollar] aufgewerteter Yen würde Japan zur Erhöhung seiner Importe zwingen und damit seine enormen Handelsüberschüsse reduzieren.“9

Tatsächlich konnte diese Strategie nicht die Früchte tragen, die sich die USA davon erhofften, denn beide Rivalen gingen von radikal unterschiedlichen Konzeptionen aus.

Jede Gesellschaft entwickelt aus ihrer Tradition, vor allem aber auch aus ihrer konkreten Situation und Zukunftsvision heraus ein spezifisches Verhältnis zur Wirtschaft. Der „kapitalistische Liberalismus“ propagiert hingegen ein für alle Länder gültiges Einheitsmodell, das er mittels des freien Warenaustauschs allen Ländern überstülpen will, ungeachtet ihrer Geschichte, ihrer Sozialstruktur und ihrer Kultur. „Ich brauche mich nicht zu entschuldigen, wenn ich bei unseren außenpolitischen Zielsetzungen die Wirtschaft in den Vordergrund stelle“, betont Warren Christopher.10 Das ist sein gutes Recht, doch haben andere Länder ihrerseits das Recht, eigene Entscheidungen zu fällen und sich dieser ökonomistischen Auffassung nicht zu unterwerfen. Mit derlei Äußerungen sagt der amerikanische Staatssekretär uns nichts Neues, sondern befindet sich in bester Gesellschaft: „The business of America is business“, erklärte schon Präsident Calvin Coolidge (1923-29) in einer Zeit überströmenden Wohlstands, auf die die Weltwirtschaftskrise folgen sollte. Der absolute Vorrang, den die USA der Wirtschaft und dem Handel einräumen, drückt ihrer gesamten Außenpolitik und Diplomatie gegenüber Rußland, Japan, Europa und der Dritten Welt seinen Stempel auf. Das zeigt zum Beispiel ein vertrauliches Dokument über ihre „audiovisuelle Strategie“. Der Text empfiehlt, „das Gerede über kulturelle Ziele zu vermeiden“, sämtliche Anstrengungen vielmehr auf den Abbau von „Handelsbeschränkungen“ und „bestehenden Reglementierungen“ zu konzentrieren11. Es folgen unzweideutige Ratschläge zur Umsetzung: Man solle Druck auf Bonn (das umgehend Paris informierte) ausüben, damit es die Privatisierung des Telefonnetzes vorantreibe, um AT&T Zugang zum europäischen Markt zu verschaffen12, und versuchen, mit wohlgesinnten Journalisten und Firmen in Kontakt zu treten, um die Aufhebung der gesetzlichen Regelungen für audiovisuelle Medien zu erlangen.

Auf beiden Seiten des Atlantiks kommt für manche erst die Wirtschaft und dann die Kultur, während andere durchaus bereit sind, für ihre kulturelle Entfaltung einen Preis zu bezahlen. Washington steht es frei, sich mit Unterstützung der amerikanischen privaten Kabelsender in die erste Kategorie einzuordnen: Um in den USA wie im Ausland immer größere Märkte zu erobern und immer größere Profite zu erzielen, dreht man sich weiter in der Spirale zunehmender Gewalt und Banalität. Ebenso frei steht es anderen Ländern, für ein Konzept zu kämpfen, in dem Kultur nicht bloß eine Ware ist.

Die Konzentration auf wirtschaftliche Probleme hat natürlich auch in den USA zu theoretischen Auseinandersetzungen geführt. So beklagt Edward N. Luttwak: „In einer Zeit, da der Marxismus ausgedient hat, weil (...) sich die Unterordnung von Kultur und Gesellschaft unter das Politische als inhuman erwies, triumphiert die Ideologie des freien Markts wie nie zuvor, obwohl auch sie Kultur und Gesellschaft der wirtschaftlichen Effizienz unterordnet.“13

Jede Warnung kommt zu spät: Nachdem vierzig Jahre lang der Kalte Krieg zu Analysen geführt hat, die von der „Geopolitik“ ausgingen, verschwindet dieser Begriff nun allmählich aus den offiziellen Reden und wird von der „Geoökonomie“ abgelöst, der bei den „Experten“ um so mehr Anklang findet, desto schwammiger er bleibt. In Ermangelung eines Konzepts, das die Komplexität der globalen Probleme zusammenfassen könnte, wird auf einfache Worte zurückgegriffen, die Illusionen erzeugen...

Die Begriffe „Geopolitik“ und „-ökonomie“ bringen eine fixe Idee zum Ausdruck, eine vermeintliche Werthierarchie – und erschüttern gleichermaßen das innenpolitische Gefüge, die Grundprinzipien diplomatischen Handelns und selbstverständlich die individuellen Verhaltensweisen.

Wie viele Einzelpersonen auch verfolgen Firmen zunächst ihr Eigeninteresse. In Washington glaubt man anscheinend, die Summe dieser Einzelinteressen würde das Nationalinteresse ausmachen (“Was für General Motors gut ist,...“). In Anwendung dieser grob vereinfachenden Philosophie wurde systematisch die Körperschaftssteuer reduziert: Ende der fünfziger Jahre stellte sie 23 Prozent der Staatseinnahmen dar, gegenwärtig nur noch 9,2 Prozent.14 Das Resultat war vorauszusehen: die sozialen

Ungleichheiten sind in gleichem Maße angewachsen wie die Haushalts- und Außenhandelsdefizite. Schlimmer noch: Durch die Spirale des internationalen Wettbewerbs werden andere Länder in dieselbe Richtung gedrängt.

Nicht weniger eklatant erscheint das Scheitern in den Verhandlungen mit einem ganz anderen Land: China. Seit seinem Einzug ins Weiße Haus ist Präsident Clinton gegenüber dem Regime in Peking immer wieder ausgewichen. Zunächst hatte er noch gedroht: Achtet die Menschenrechte, wenn euch die Meistbegünstigungsklausel zugute kommen soll. Doch haben zu viele amerikanische Unternehmen Interesse an China, wo besonders billige Arbeitskräfte auf sie warten, so daß starke Pressure- groups Clinton dazu trieben, diese Klausel zeitlich zu begrenzen. Folge: Fünf Jahre nach der moralischen Entrüstung, die dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz folgte, wächst das Handelsdefizit der USA gegenüber China immer noch und hat schließlich 29 Milliarden Dollar erreicht. Demokratie und Menschenrechte haben in der „Geoökonomie“ keinen Platz.

Von keinerlei politischem Erinnerungsvermögen getrübt, hat der Wirtschaftswahn eine völlig unnötige Krise heraufbeschworen: Als die USA 1978 die Regierung in Peking anerkannten, hatten sie ihre diplomatischen Beziehungen mit Taiwan abbrechen müssen. Unter dem Druck der republikanischen Mehrheit im Kongreß und gegen die Meinung seiner Berater gestattete Präsident Clinton dem taiwanischen Präsidenten Lee Teng-hui, den USA einen Privatbesuch abzustatten. In einer heftigen Protestnote verlangte daraufhin Peking die Bestätigung, daß „Tawain ein Teil von China“15 sei. Washington verlor das Gesicht und parierte. Indessen forderte der Präsident des Repräsentantenhauses, Newton Gingrich, die USA sollten die Republik China (i.e. Taiwan, d. Red.) als unabhängigen Staat anerkennen. Die chinesisch-amerikanischen Beziehungen befänden sich im „freien Fall“, kommentierte lakonisch Henry Kissinger.

Doch es folgen weitere Demütigungen. Wenige Tage später wird Harry Wu, amerikanischer Staatsbürger und gebürtiger Chinese, in China festgenommen und inhaftiert, weil er Dokumente über die Menschenrechtsverletzungen in China verbreitet hat. Die Verwirrung in Washington steigert sich noch, als Taiwan und China im selben Seegebiet Marinemanöver beziehungsweise Raketentests durchführen.

Spannender wurde es noch, als China in einer Verbindung von Handelsinteressen und strategischen Zielen Raketenteile an den Iran und Pakistan verkaufte, was im Prinzip harte Sanktionen seitens der USA hätte nach sich ziehen müssen.16 Doch wird es keine Sanktionen geben – dafür stehen zu viele private amerikanische Interessen auf dem Spiel. Es kam noch besser: Ungeachtet der chinesischen Raketenlieferung an Pakistan wollte Clinton seinerseits Rüstungsgüter im Wert von 370 Million Dollar nach China verkaufen und bat dafür um die Genehmigung des Kongresses. Er schloß jedoch 28 Kampfflieger des Typs F-16, die bereits bezahlt waren (658 Millionen Dollar), vom Vertrag aus, so daß er nun gezwungen ist, sich nach einem anderen Interessenten umzusehen...17 So gleitet eine Diplomatie ab, die den Handel „bei ihren Zielsetzungen in den Vordergrund“ stellt.

Der absolute Vorrang, der wirtschaftlichen Gesichtspunkten eingeräumt wird, führt zur Häufung von Widersprüchen, zur Verstimmung von „natürlichen Verbündeten“ wie Europa und Japan, zu Reibungen und zur Verletzung der schwächsten Länder in der Dritten Welt, und er reizt politisch feindlich gesinnte Regime wie China zur Herausforderung. Er führt oft ins Lächerliche und ist gegen das Scheitern nicht gefeit:

– Das Lächerliche: Im vergangenen Jahr verhängte Präsident Clinton Handelssanktionen gegenüber ... Taiwan. Gerade hat er sie wieder aufgehoben. Warum eigentlich? Dieses Land habe „sich die weltweite Sorge um den Schutz gefährdeter Tierarten wie Tiger und Rhinozeros zu Herzen genommen“18. Gewisse „Menschenarten“ wie Bosnier, Burundier und Chinesen muß man sich offensichtlich weniger zu Herzen nehmen.

– Das Scheitern: Während Peking die Angebote von Chrysler, Ford und anderen großen amerikanischen Unternehmen ausschlug, hat es mit Deutschland gerade acht Verträge abgeschlossen, bei denen es insgesamt um etwa 5 Milliarden Mark geht. Als hätte man sich vorher abgesprochen, wird die „Solidarität“ zwischen verbündeten demokratischen Ländern, die so häufig, zumal in Ex-Jugoslawien, gefehlt hat, jedenfalls immer dann aufgekündigt, wenn es um ökonomische Interessen geht. Bei der Unterzeichnung der Verträge erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl, Deutschland wünsche „einen offenen Dialog, der von der gegenseitigen Anerkennung der Prinzipien der allgemeinen Menschenrechte getragen sei“19. Zynisch wurde hier ein verschämter diplomatischer Schleier über eine fruchtbare Handelstransaktion gebreitet. Doch die Chinesen verlangten noch mehr und erhielten es auch: Kanzler Kohl mußte außerdem zugestehen, daß es angesichts der „unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung und Kulturtraditionen ... verschiedene Formen und Auffassungen der Menschenrechte“ gebe.

Vom Gläubiger zum Schuldner

DENN offenbar haben die USA nicht das Monopol auf jene „Realpolitik“, die alles den wirtschaftlichen Interessen opfert. Das Ronald Reagan so am Herzen liegende „Reich des Bösen“ würde wirtschaftliche Rivalitäten unter Verbündeten zwar nicht ausschließen, seine Existenz würde sie jedoch abschwächen. Die „Geoökonomie“ wirft die Menschheit gewissermaßen auf eine Art „Merkantilismus“ des 16. und 17. Jahrhunderts zurück, dessen Wirtschaftsexperten es vorrangig darum zu tun war, dem Staat die nötigen Machtmittel in Form von – damals – Gold und Silber zu verschaffen. Der heutige Merkantilismus gibt sich bewußt „modern“ und setzt nicht mehr auf Minen mit wertvollen Metallen, sondern auf Zinssätze, Wechselkurse und auf Investitionen in reichen Ländern, wo sich ihm ausgedehnte Absatzmärkte eröffnen, oder in unterentwickelten Ländern mit ihrem ungeheuren Reservoir an billigen und wehrlosen Arbeitskräften. Von nationalen Begrenzungen befreit, kam, sah und siegte die Spekulation weltweit.

In diesem Krieg, der keine Gnade und kein anderes Gesetz als das Recht des Stärkeren kennt, spielen die USA aufgrund ihrer Macht eine einflußreiche Rolle, auch wenn sie sich in Zukunft so ernstzunehmenden Konkurrenten wie Deutschland und Japan stellen müssen. Bei jeder Gelegenheit versuchen sie, die Entstehung eines noch mächtigeren Konkurrenten zu verzögern und, wenn möglich, zu vereiteln: die eines politisch, wirtschaftlich und militärisch vereinten Europas. Ihr Verhalten wird nicht zuletzt durch die gefährliche Situation bestimmt, in die sie sich freiwillig hineinbegeben haben.

Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlten die USA jedes Jahr beträchtliche Zinssummen an europäische Kapitaleigner, die den Bau ihrer Fabriken, Eisenbahnlinien und Kanäle finanziert hatten. Der Erste Weltkrieg sollte alles ändern, denn da verkauften die Europäer ihren Besitz in Übersee, um mit dem Geld Krieg führen zu können. New York City verschwand förmlich hinter der Wall Street, und die USA wurden zu Gläubigern der übrigen Welt und kassierten deren Zinsen. So funktionierte es fast achtzig Jahre lang. Im Rekordjahr 1981 erreichte der Nettosaldo zugunsten der USA 33 Milliarden Dollar, ein willkommener Beitrag des Auslands zum amerikanischen Wohlstand.

Dann aber betritt Ronald Reagan die Bühne. Aus reiner Demagogie führt er Steuererleichterungen ein – natürlich für die Reichen, die noch reicher werden, während die Armen, wie es ihrer Bestimmung im Kapitalismus entspricht, immer ärmer werden.20 Nun konsumieren die Begüterten mehr, auch Importgüter, und zwar um so ungezwungener, je höher der Kurs des Dollars steigt (im Verhältnis zum Franc war er damals etwa doppelt soviel wert wie heute). So ergänzen sich auf gefährliche Weise Haushalts- und Handelsdefizite.

Die Folge ist, daß sich die Verschuldung drastisch erhöht: 1993 erhalten die USA gerade noch 4 Milliarden Dollar Zinsen aus dem Ausland, achtmal weniger als beim Regierungsantritt Reagans. Im ersten Halbjahr 1994 kippt dann der positive Nettosaldo ins Minus: – 3 Milliarden Dollar.

Die Rutschpartie geht weiter. Finanzminister Robert Rubin würde den Dollar gern als „Leitwährung der Weltwährungsreserve“ erhalten, weil Washington daraus enorme Vorteile zieht. Doch dieses Ziel wird immer schwerer erreichbar sein, denn mit einer Schuld von 600 Milliarden Dollar in den Händen ausländischer Gläubiger ist die Position der USA kaum zu beneiden: Sie sind der größte Schuldner der Welt. Daher erscheint die Einschätzung von Felix Rohatyn von der Lazard Brothers Bank in New York sehr realistisch: „Wir verlieren allmählich die Kontrolle über unser Schicksal.“21 Der Handels- und Währungskrieg erklärt sich nicht aus den Marotten eines Herrn Greenspan, des Präsidenten der Bundesreserve, oder eines Herrn Kantor. Es ist ein Krieg ums Überleben: logisch, unvermeidbar und notwendig.

Die Märkte entspannen sich...

ER fordert seine Opfer: in den USA unter den einkommensschwachen Schichten, aber durch die Globalisierung aller Auswirkungen auch andernorts. Für den Multilateralismus hat die amerikanische Regierung wenig übrig, es sei denn, dieser nützte den nationalen Interessen. Überdies hat sie, knausrig wie nur ein Notleidender, ihre Beitragsrückstände bei den Vereinten Nationen vergrößert, beansprucht jedoch weiterhin, auf deren Entscheidungen maßgeblichen Einfluß auszuüben. Um den kostspieligen Krieg zu finanzieren, den sie unter der UNO-Fahne gegen den Irak führten, haben Bush und Baker bei Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Deutschland und Japan einige Dutzend Milliarden Dollar erbettelt... Der Kongreß weigert sich, die „Friedensmission“ der UNO in Ex-Jugoslawien zu finanzieren, und beschließt im Juni, sein Budget für Auslandshilfe um 23 Milliarden Dollar (innerhalb von sieben Jahren) zu verringern. Auf der Liste der Länder, die Truppen für UNO-Maßnahmen stellen, stehen die USA an 20. Stelle. Mit 0,15 Prozent ihres Bruttosozialprodukts sind sie die letzten unter den Industrieländern, was Hilfe für die Dritte Welt angeht.22

Längst sind die demokratischen Länder zugleich Verbündete und Konkurrenten. Ein Schreckgespenst Sowjetunion steht nicht mehr zur Verfügung, um das durch wirtschaftliche Konkurrenz bedrohte Bündnis zusammenzuschweißen. Amerika betreibt eine äußerst inkonsequente, je nach Situation ausfallende außenpolitische Verhandlungstaktik, die ein Regierungssprecher aus Neuseeland zutreffend „eine gefährliche Dreiecks-Diplomatie“ nennt23: Während der schwierigen Gatt-Verhandlungen (Landwirtschaft, „kulturelle Ausnahmen“ etc.) versucht Präsident Clinton zunächst die Europäer zu beeindrucken, indem er in Seattle eine Zusammenkunft mit Vertretern aus den Ländern Asiens und des Pazifiks organisiert. Als er dann Schwierigkeiten mit Japan und anderen asiatischen Ländern bekommt, hofft er diese wiederum einzuschüchtern, indem er den Europäern eine ausgedehnte transatlantische Freihandelszone24 vorschlägt, die wie ein „Club der Reichen“25 ausgesehen hätte. Sein Verhalten gegenüber Verhandlungspartnern läßt „Amerika im ungünstigsten Licht erscheinen: brutal, prahlerisch, kleinlich und selbstgerecht“26. Mitte Juni spricht sich das Repräsentantenhaus mit einer Mehrheit von 273 gegen 156 Stimmen für eine Verringerung der in Europa stationierten Truppen (von 100000 auf 25000 Mann) aus, es sei denn, die Europäer erhöhten ihre Zahlungen.

Seit dem Verschwinden der Sowjetunion müssen die USA trotz ihrer absoluten militärischen Überlegenheit zusehen, wie sie ihre Rolle als dominierende Weltmacht allmählich verlieren. Sie sind nicht mehr in der Lage, gegenüber so unterschiedlichen Ländern wie Japan, Deutschland oder China ihren Willen durchzusetzen. Strenggenommen sind sie keine „Supermacht“ mehr, ein Begriff, der unauflösbar an die bedrohliche Existenz einer anderen Großmacht gebunden ist. Im Nahen Osten schalten sie zwar scheinbar immer noch ganz nach Belieben und erhalten problemlos vom Sicherheitsrat die Genehmigung, die Sanktionen gegen den Irak fortzusetzen27: eine wichtige Maßnahme, da eine Rückkehr dieses Landes auf den Ölmarkt einen Verfall des Rohölpreises mit sich brächte und die Schwierigkeiten Saudi-Arabiens weiter verschärfen würde. Dagegen gelingt es den USA nicht, auch Japan und Frankreich zum geplanten Boykott gegen den Iran zu bewegen. Sie geben sich heute als die Herren über Saudi-Arabien, eines reichen (Öl-)Lieferanten und treuen (Waffen-)Kunden, wie sie es seinerzeit im Iran waren – bis zum Sturz des Schah, den sie nicht zu verhindern vermochten.28 Wie damals verzögern sie auch heute einen Umsturz des saudischen Regimes, ohne ihn doch verhindern zu können, so daß sie eines Tages in Riad genauso scheitern werden wie 1979 in Teheran.

Die Lehre der „Kirchenväter“ des Kapitalismus ordnet die Diplomatie einem engen Wirtschaftsdenken unter.29 Infolge dieser Logik ist Frankreich zum ersten Waffenlieferanten der Dritten Welt geworden: Das mag wirtschaftlich ein glänzender Erfolg sein, politisch aber sicher nicht... Die ganze Welt unterliegt einem erbarmungslosen Wettbewerb, der die internationale Solidarität zerstört, die allein die voraussehbare wirtschaftliche Katastrophe vielleicht noch verhindern könnte.30

In Zusammenhang mit diesem verbissenen Wettbewerb ist viel von „Globalisierung“31 die Rede – ein Begriff, der sich bei genauerem Hinsehen als leer erweist. Seit mehr als dreißig Jahren verwechseln im Westen wie in der Dritten Welt Staaten und überregionale Organisationen Entwicklung mit wirtschaftlichem Wachstum, wobei sie natürlich die Entwicklung, die langfristige Ziele verfolgt, dem Wachstum opfern, da sie sich davon einen sofortigen Nutzen versprechen. Manche ahnen allerdings allmählich, daß in den industrialisierten Ländern, wie es der Generalsekretär der OECD, Jean-Claude Paye, ausdrückt, „der soziale Abstieg das Wirtschaftswachstum in Frage zu stellen droht“32. So entdeckt die Weltbank fünfzig Jahre nach ihrer Gründung plötzlich, daß starke Gewerkschaften in den Ländern der Dritten Welt einen wertvollen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und Demokratisierung leisten könnten.33 Es war höchste Zeit: Im Jahre 1994 wurden weltweit über fünfhundert Gewerkschafter ermordet.34

Auf Kosten einer ständigen Instabilität konnten manche Spekulanten durch die Deregulierung der Finanzmärkte kolossale Vermögen anhäufen, zum Beispiel Georges Soros35, der 1992 innerhalb einer Woche durch Spekulationen mit dem englischen Pfund Gewinne von einer Milliarde Dollar erzielte. Das Auf und Ab an den internationalen Börsen verhindert Projekte, die auch nur ein wenig genauer kalkuliert wären. Alle Länder der südlichen Hemisphäre leiden darunter, denn ihre Probleme „erfordern Zeit, d.h. eine beständige und langfristige Finanzierung“, während die Kursschwankungen an den internationalen Börsen „unbeständige und kurzfristige Kapitalbewegungen“36 begünstigen. Mexiko hat das gerade erfahren, und es wird nicht das letzte Land sein.

Doch auch die Länder des Nordens brauchen stabile Währungen, um aus der Krise herauszukommen. „Die Zinssätze für ein Jahr, für zwei, fünf oder zehn Jahre lassen sich nicht im voraus bestimmen“, stellt Jean- Claude Trichet, der Präsident der Banque de France, fest.37 Zu Recht: Eine Wahrsagerin würde mit einem Blick in ihre Kristallkugel diesen gelehrten Satz mühelos bestätigen. Doch zum Abschluß seiner Ausführungen läßt sich der Präsident zu einer unbedachten Äußerung hinreißen: „Sämtliche Bedingungen sind erfüllt, um am 1. Januar 1999 eine gemeinsame [europäische] Währung mit Frankreich einzuführen.“ Was weiß er darüber? Absolut nichts! Denn bis dahin wird es zu Ereignissen kommen, die niemand, auch kein Herr Trichet, mit Gewißheit vorhersagen kann, selbst wenn sie zum Teil aus wirtschaftlichen und monetären Entscheidungen resultieren, an denen er federführend beteiligt ist: Ereignisse, die sich jedenfalls seiner Kontrolle entziehen werden. Der Präsident der Banque de France überschreitet seinen Kompetenzbereich. Er fällt aus seiner Rolle als „Experte“. „Experten“ sind nie unfehlbar – selbst wenn sie nicht aus der Rolle fallen.

Vor 1950 erklärten Washingtoner „Experten“ wiederholt, Korea gehöre nicht zum „Sicherheitsbereich“ der USA. Sie schufen dadurch günstige Ausgangsbedingungen für einen Angriff. Ein paar Jahre später redeten „Experten“ sich ein, daß die USA den Vietnamkrieg gewinnen könnten. Als dann einer von ihnen, Robert McNamara, daran zu zweifeln begann, bewahrte er Stillschweigen darüber. Deshalb konnte er dreißig Jahre später schreiben: „Wir hatten unrecht, wir hatten fürchterlich unrecht.“38

An dem Tag, an dem Srebrenica fällt, ist man in Washington vor Freude aus dem Häuschen, da man bekanntgeben kann, daß das Preisniveau im Juni nur um 0,1 Prozent gestiegen und somit die Gefahr einer Inflation gebannt sei; der Umsatz des Einzelhandels sei sogar um 0,7 Prozent und die Industrieproduktion um 0,1 Prozent gestiegen. Minimale Veränderungen, aber der Finanzminister fühlt sich berechtigt, triumphierend „die Rückkehr zu einem soliden Wachstum“ zu begrüßen. Er weiß darüber nichts. Doch die „Märkte“ entspannen sich. Welch eine Farce!

Es wird spannend sein, eines Tages das umfangreiche Werk zu lesen, in dem die „Spezialisten“ der slawischen Welt, der Balkanländer, des Islam im allgemeinen und des Maghreb im besonderen, die „Experten“ für asiatische Volkswirtschaften, Wechselkurse, Derivatenhandel, Handelsströme, Marktdereglementierung, Freihandel etc. ihre Fehler eingestehen. Der brave Bürger wird ihnen ein „Recht auf Irrtum“ zugestehen, als Frucht ihres verbohrten Ökonomismus. Aber er wird ihnen nie verzeihen, daß sie sich selbst ein Recht zur Überheblichkeit herausgenommen haben in dieser Welt, die untergeht. Wenn die europäischen Hauptstädte weiterhin mit bewundernswerter Gelassenheit den Übergang zur europäischen Währungsunion vorbereiten und gleichzeitig die unerträglichen Zustände in Ex-Jugoslawien billigen, sollte man vielleicht lieber auf eine Europäische Union verzichten, die sich im Rausch des Ökonomiewahns nach den Worten Mazowieckis gegenüber dem „internationalen Recht“ und dem „Prinzip der Zivilisation“ gleichgültig zeigt.

dt. Marianne Karbe

1 Gespräch mit Wladimir Schirinowski in Der Spiegel, Januar 1995.

2 Jim Hoagland, „So Much for that Russian-American Honeymoon“, International Herald Tribune, 1./2. Juli 1995.

3 Ähnlich haben grauenhafte Bilder von der Hungersnot in Somalia die Intervention der amerikanischen Streitkräfte provoziert. Und auch das Bild eines toten „Matrosen“, der durch die Straßen von Mogadischu geschleift wird, hat zum Einsatz von Truppen geführt.

4 „M. Eltsine remporte un succès à Halifax“, Le Monde, 20. Juni 1995.

5 Newsweek, 14. Februar 1994.

6 Vgl. Claude Julien, „Wie man der Unvernunft in Bosnien zum Siege verhilft“, Le Monde diplomatique, taz/WoZ, August 1995.

7 Le Monde, 27. Juli 1995.

8 Time, 3. Juli 1995.

9 Time, 20. März 1995.

10 Newsweek, 6. März 1995.

11 Le Monde, 16. Juni 1995.

12 Lettre A, 15. Juni 1995.

13 Edward N. Luttwak, „Endangered American Dream. How to Stop the United States from Becoming a Third World Country & How to Win the Geo-Economic Struggle for Industrial Supremacy“, Touch Stone Books 1993. „Weltwirtschaftskrieg. Export als Waffe – aus Partnern werden Gegner“, Reinbek (Rowohlt) 1994.

14 Richard J. Barnet u. John Cavanagh, „Global Dreams: Imperial Corporations and the New World Order“, New York (Simon & Schuster) 1995.

15 International Herald Tribune, 14. Juli 1995.

16 Time, 24. Juli 1995.

17 International Herald Tribune, 27. Juli 1995.

18 Erklärung im Weißen Haus, International Herald Tribune, 1./2. Juli 1995.

19 International Herald Tribune, 14. Juli 1995

20 Vgl. die genauen Zahlen bei Claude Julien, „Kleine Diagnose eines sozialen Bruchs“, Le Monde diplomatique, taz/WoZ, Mai 1995.

21 Time, 20. März 1995. Die Gesamtverschuldung aller Bundesstaaten ist achtmal höher.

22 Zitiert nach dem Historiker des New Deal, Arthur Schlesinger jr., aus „What Prize Will Americans Pay for a Better World?“, International Herald Tribune, 13. Juni 1995.

23 Bryce Harland, „Dangerously Triangular Diplomacy“, International Herald Tribune, 5. Juni 1995.

24 Le Monde, 4./5. Juni 1995.

25 The Washington Post, 2. Juni 1995.

26 International Herald Tribune, 6. Juni 1995.

27 Vgl. Monique Chemillier-Gendreau, „Internationales Recht im Nachkriegs-Irak“, Le Monde diplomatique, taz/WoZ, Juni 1995.

28 Vgl. Alain Gresh, „Saudi-Arabien: Eine Herrschaft geht zu Ende“, Le Monde diplomatique, taz/WoZ, August 1995.

29 Jules Vallès, „Die Abtrünnigen. Erzählungen aus dem Leben der Bohème“, Hamburg (Edition Nautilus) 1980.

30 Vgl. Susan George, „Nach dem Scheitern des Liberalismus: Für eine radikale Veränderung der internationalen Wirtschaftsordnung“ und Michel Chossudovsky, „Die nachhaltige Plünderung des Staates“, Le Monde diplomatique, taz/WoZ, Juli 1995.

31 Maurice Bertrand, „Les défis conceptuels de la mondialisation“. Antrittsvorlesung am Universitätsinstitut für Entwicklungsforschung in Genf, veröffentlicht von den Cercles Condorcet, 3, rue Récamier, 75007 Paris.

32 Jean-Claude Paye, „Economic Growth Will Fail Us Unless Our Societies Grow, Too“, International Herald Tribune, 15. Juni 1995.

33 Weltbank: Workers in an Integrating World. World Development Report 1995, New York (Oxford University Press).

34 Le Monde, 4. Juli 1995.

35 Vgl. das „Portrait“ in Time, 10. Juli 1995.

36 Vgl. Jean-Marc Fontaine, „Les tiers-mondes“, Cahiers français, Nr. 270, Paris (La Documentation française) 1975.

37 Interview mit Le Monde, 4. Juli 1995.

38 Robert McNamara, „In Retrospect: The Tragedy of Vietnam“, New York (Times Books) 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.09.1995, von Claude Julien