Wie ein Kind zum Vielfraß wird
AUF dem Markt der amerikanischen Fernsehgesellschaften ist eine Firmenkonzentration größten Stils im Gange. Erst kürzlich wurde CBS von Westinghouse übernommen, und Walt Disney hat ABC aufgekauft. NBC gehört bereits General Electric, und Murdoch besitzt Fox: Wenn Unternehmen, die für ihre konservative Ideologie bekannt sind, die vertikale Integration im Kommunikationssektor betreiben, dann dürfte es um das „multikulturelle“ Angebot schlecht bestellt sein. In den Sendungen für die jüngsten Fernsehzuschauer herrscht bereits eine Monokultur der Markenartikel, mit denen die Kleinen vollgestopft werden sollen – bis zum Platzen.
Von PAUL MOREIRA *
In den USA hat sich die Zahl der schwer fettleibigen Kinder innerhalb von zehn Jahren verdoppelt. Aus einer im Juli 1994 veröffentlichten Studie des National Center for Health Statistics geht hervor, daß jedes fünfte Kind Gewichtsprobleme hat, ebenso ein Drittel der Eltern. William Dietz, Diät-Spezialist am New England Medical Center in Boston, sieht einen direkten Zusammenhang zwischen den Stunden, die die Kinder vor dem Fernseher verbringen, und den Pfunden, die sie an sich herumschleppen: „Das Fernsehen gibt ihnen das Gefühl, daß sie essen dürfen, soviel sie wollen.“
Um die Kids, die Kinder im Alter von vier bis zwölf Jahren, liefern sich die amerikanischen Werbeagenturen heftige Gefechte. Auf insgesamt 14,3 Milliarden Dollar wurde die Kaufkraft der Kinder 1991 geschätzt, doppelt soviel wie 1980, und ihr Einfluß auf die Kaufentscheidungen ihrer Eltern bewegte noch einmal 128 Milliarden Dollar im Jahr.1 Für die Werbung stellen sie die ideale Zielgruppe dar, da sie viel besser zu beeinflussen sind als andere Altersgruppen. Barbara Caplan, Vizedirektorin der Agentur Yankelovitch & Partners, gerät bei so viel Anfälligkeit geradezu ins Schwärmen: „Das ist vielleicht der letzte interessante Markt auf der Welt. (...) Die Erwachsenen sind mißtrauisch geworden, sie denken, die Werbung will ihnen etwas andrehen. (...) Aber Kinder sitzen vor dem Fernseher und rufen einfach: Das ist toll!...“
Caplans Firma hat durch eine aufschlußreiche Befragung festgestellt, daß 45 Prozent der amerikanischen Kinder ein Fernsehgerät in ihrem Zimmer haben. 79 Prozent von ihnen erklären, ihre Lieblingsbeschäftigung sei, beim Fernsehgucken zu naschen.2 Nach dem Magazin Consumer Report sieht ein Kind durchschnittlich vierzigtausend Werbespots im Jahr. Wenn es das College verläßt, hat es vielleicht eine halbe Million davon gesehen.3 „Sieht man vom Schlafen einmal ab, widmen die Kinder die meiste Zeit dem Fernsehen“, bestätigt Bruce Watkins, Forscher an der Universität Michigan.
Der Samstagmorgen ist den Kindersendungen vorbehalten. Schon eine Stunde Zapping durch die vier Hauptsender – ABC, NBC, CBS und Fox – vermittelt eine recht gute Vorstellung davon, wie massiv der Beschuß ist, dem die Kinder ausgesetzt sind. Im Hintergrund laufen hübsche Zeichentrickfilme mit sympathischen Figuren und abwechslungsreicher Handlung. Kurz bevor eine neue Sequenz anfängt, gibt es Werbung: da brutzelt Fleisch auf dem Grill, da hält ein pausbäckiger Riese einem gierigen Jugendlichen sadistisch einen Krapfen nach dem anderen vor die Nase, um ihn dann selber zu verschlingen, da fliegen Schoko- Flakes im Rhythmus von Maschinengewehren...
Im Februar 1992 sah sich das Center for Science in the Public Interest (CSPI) diese wöchentlichen Kindersendungen einmal genau an. Mit dem Bleistift in der Hand verfolgten fünf Beobachter 20 Stunden hintereinander alle Programme, die zwischen 8 und 12 Uhr ausgestrahlt wurden. Von 433 Werbespots waren 263 den Lebensmitteln gewidmet. Allerdings priesen nur 9 Prozent der letzteren „einigermaßen gesunde“ Produkte an: schwach zuckerhaltige Haferflocken oder Milch und Eis mit wenig Fett oder Salz. Bei allen anderen Werbebotschaften ging es um Schokoladenriegel, Fast-food-Sandwiches, Bonbons, Sirup, Chips und Kekse... Voller Fett, Salz, Zucker und chemischer Zusätze. Die Amerikaner nennen diese Nahrungsmittel Junk food.
Während der 20 Stunden, die sich die Beobachter die Programme ansahen, tauchte nur ein einziges Mal ein Public Service Announcement, eine behördlich Werbung, auf: Das war ein Ratschlag des Landwirtschaftsministeriums für eine Ernährung mit mehr Gemüse und frischen Früchten.4
Derlei, wenn auch seltene, Aufforderungen gehen auf die Arbeit der Verbraucherorganisationen zurück, die der Werbung der Fast- food-Ketten und ihren gesundheitlichen Folgeschäden den Krieg angesagt haben. An erster Stelle stehen hier die Action for Children's Television (ACT) und das Center for Science in the Public Interest. Diese beiden Organisationen kämpfen seit Mitte der achtziger Jahre um die Begrenzung der Werbung in Sendungen für Kinder unter acht Jahren und um eine gesetzliche Regelung der Programmunterbrechungen zu Werbezwecken. In den siebziger Jahren durften an Wochenenden stündlich 9,5 Minuten Werbung geschaltet werden, unter der Woche bis zu 12 Minuten. In seinem Eifer, alle Reglementierungen aufzuheben, sollte Präsident Ronald Reagan diese gesetzlichen Beschränkungen hinwegfegen: In den achtziger Jahren würde der „Markt“ über die zumutbaren Schaltzeiten für Werbung entscheiden.
Nachdem nun endlich alle einschränkenden Hindernisse verschwunden sind, wird der Bildschirm zu einem regelrechten Überlaufbecken der Werbungsflut. Militante Verbraucher vermuten, daß der außerordentliche Anstieg der Fettleibigkeit bei Kindern in den letzten zehn Jahren (plus 43 Prozent) auf diesen Dammbruch bei der Beschränkung der Werbezeiten zurückgehen könnte. 1991 forderte die American Academy of Pediatrics, in der einundvierzigtausend Kinderärzte zusammengeschlossen sind, ein generelles Verbot der Nahrungsmittelwerbung für Kinder: „Die beiden gesundheitlichen Hauptprobleme der amerikanischen Kinder sind Fettleibigkeit und ein erhöhter Cholesterinspiegel; diese beiden Krankheiten sind aufs engste mit dem Fernsehkonsum verbunden.“5 George Bush, der republikanische Nachfolger von Reagan, weigerte sich zwar, dieser Forderung nachzugeben, doch mußte er immerhin die Werbezeit noch einmal begrenzen: auf nicht mehr als 10,5 Minuten pro Stunde an den Wochenenden...
Dieser Damm wird nun freilich zu spät errichtet. Das Marketing für Kinder hat inzwischen listigere Wege gefunden, um sich in deren Phantasiewelt einzuschleichen. In Zukunft werden sich die Spielfilm-Helden selbst mit Junk food vollstopfen. Hat man sich noch nie gefragt, warum die Ninja-Schildkröten Domino-Pizzas und Burger Kings essen und Pepsi trinken?
Ihre Vorlieben haben sich wohl kaum gewandelt. Vielmehr entspringen sie den handfesten Marketing-Verträgen zwischen der Nahrungsmittel- und der Filmindustrie...
Die Schule ist kein Freiraum mehr
SO richtig hat eigentlich alles 1982 angefangen, nach dem Kassenerfolg des Films „E.T.“ von Stephen Spielberg. Darin lutschte der rührende Außerirdische ständig Bonbons der Marke Reese's Pieces. Innerhalb von drei Monaten steigerte sich daraufhin der Absatz dieser Süßigkeit um 66 Prozent. Seitdem haben die Marketing-Firmen einen Vertrag nach dem anderen mit Filmproduktionen und Fernsehserien unterzeichnet, die sich ans junge Publikum richten. So vermählte sich Burger King mit den „Gremlins“, und Pizza Hut fiel in „Back to the Future“ ein. Manche Filme sammeln geradezu Verträge. So tauchen zum Beispiel im Film „Kevin allein zu Haus“ nicht weniger als 31 Markenlebensmittel auf, von Pepsi- Cola bis hin zu Kraft Marshmallows...
Dieses Geschäft, das sich „Produktplazierung“ nennt, ist in jeder Hinsicht rentabel. Das Wall Street Journal vermutet, daß die Filmproduzenten von Hollywood 1990 etwa 50 Millionen Dollar allein durch versteckte Werbung verdienten – also dreimal mehr, als sie vier Jahre zuvor eingenommen hatten.6
Unternehmen, die sich auf eine derartige „Produktplazierung“ spezialisiert haben, schießen seit fünf Jahren wie Pilze aus dem Boden. Eines von ihnen, Silver Screen Placement Inc., preist seine Leistungen so an: „Stellen Sie sich nur mal vor, was es bei Ihren Kunden auslöst, wenn sie ihre Lieblingsstars in einem Film oder einer Fernsehsendung Ihr Produkt benutzen sehen. Ihre Marke wird dadurch zu einem wesentlichen Bestandteil des Schauspiels: Sie transportiert sowohl die unterschwellige Botschaft als auch das damit verbundene Wiedererkennen...“7
Umgekehrt haben Filmschauspieler Lizenzverträge, um in Werbespots aufzutreten. Die Flintstones sind mit Cocoa Pebbles verbunden. Die Katze Garfield verkauft Pizzas. Bart Simpson rührt die Werbetrommel für Butterfinger-Eis...
Michael Jacobson, Direktor des CSPI, erklärt, welche Strategie hinter diesem Beschuß mit Markennamen steckt: „Die Marketing-Leute haben gemerkt, daß man Kinder am besten mit dem Logo der Marke bombardiert – das erzeugt die größte Wirkung. Das muß aber intelligent gemacht sein, damit sie nicht übersättigt werden... Und dazu benutzt man eben ihre Lieblingsfiguren. Kinder mögen natürlich das, was ihnen vertraut ist und was sie wiedererkennen. Das gehört zu ihrem Sicherheitsbedürfnis. Die Marken, die sie damit in Verbindung setzen, werden Freunde, die sie gern wiedertreffen...“
Der Papst des Marketings für Kinder in den USA ist James Mac Neal, Dozent an der Texas A&M University. Er hat die Untersuchungen über den Einfluß von Markennamen am weitesten vorangetrieben. Bis zum Baby... „Aus unseren Untersuchungen geht hervor, daß es eine Form des Markenbewußtseins gibt, die möglicherweise bereits lange vor dem ersten Lebensjahr einsetzt. Ein Kind, das vielleicht 18, 20 oder 24 Monate alt ist, benutzt also die Marken bereits wie Dinge...“8
Gibt es noch einen unangetasteten Freiraum, in dem die Hexenmeister des Marketings die Kinder ein paar Stunden lang in Ruhe lassen würden? Die Schule zum Beispiel? Nein. Auch dort hat sich der Kommerz schon niedergelassen. Die Unternehmen, die auf educational marketing spezialisiert sind, bieten den Grundschullehrern „kostenlose Pädagogiksets“ an. Eines davon, Life Learning Systems, überhäuft die Lehrer mit Umschlägen zu „erzieherischen Zwecken“. „Sofort öffnen!“ steht darauf. „Diese Umschläge enthalten ein kostenloses Lehrprogramm für Mathematik, Sozialwissenschaft und künstlerischen Ausdruck.“ Und was entdeckt der arme Lehrer? Ein Programm mit dem Titel „Zähl deine Kartoffelchips“... Er erfährt, daß der Februar der „nationale Monat der Kartoffelliebhaber“ ist und somit ein hervorragender Anlaß, um den Kindern spielend das Zählen beizubringen... Erste Lektion: „Werde ein Chip- ematiker!“
Life Learning Systems, das angeblich 300 Kunden hat, erweckt das Interesse möglicher neuer Teilhaber so: „Kinder verbringen 40 Prozent ihres Tages in einem Klassenzimmer, wo die herkömmliche Werbung sie nicht erreichen kann. Ab jetzt können Sie mit unserem speziell auf Ihre Bedürfnisse zugeschnittenen pädagogischen Material Ihre Verkaufsziele an den Schulen direkt verfolgen.“9
In den letzten Jahren haben 75 Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie auf diese Weise schulischen Einrichtungen Material angeboten. Das enge Budget der Schulen bringt sie häufig dazu, diese nicht gerade selbstlose Großzügigkeit anzunehmen. Nach den Erhebungen der Consumers Union (Verbrauchergemeinschaft) benutzen zwanzig Millionen amerikanische Schüler „pädagogisches Material“, das Firmen gestellt haben. Zwei Millionen davon erhalten Muster und Rabatte an der Schule.10
Whittle Communications hat es sogar geschafft, die Fernsehwerbung in die Stundenpläne zu integrieren. Gegen die Überlassung von Video-Ausrüstungen im Wert von 50000 Dollar (Fernseher, Recorder und eine Satelliten-Antenne) verpflichten sich die Schulen, mindestens 90 Prozent ihrer Schüler täglich das Programm von Channel One sehen zu lassen: 10 Minuten Nachrichten und 2 Minuten Werbung. Durch dieses Zwangspublikum kann Whittle seinen Auftraggebern für 30 Sekunden Werbung 157000 Dollar in Rechnung stellen. Die Staaten New York und California haben die Ausstrahlung von Channel One auf ihrem Gebiet verboten. 1994 konnte Whittle dennoch in Anspruch nehmen, in 12000 Schulen präsent zu sein und damit täglich über acht Millionen Schüler zu erreichen.11
Linda Coco ist Forscherin am berühmten Center for Study of Responsive Law, das von Ralph Nader, dem Verteidiger der Verbraucherrechte, gegründet wurde. Seit zwei Jahren arbeitet sie an einem Buch über moderne Marketingmethoden gegenüber Kindern. Dafür nimmt sie an allen Kongressen der Branche teil. „Diese Industrie greift immer mehr auf Anthropologen, Psychoanalytiker und Neuropsychologen zurück, also auf Leute mit einem außerordentlichen Spezialwissen, die wahrhaft meisterlich auf der Klaviatur der Ängste und Wünsche von Kindern spielen.“ Bei einem Colloquium, das am 18. März 1994 in Atlanta stattfand, hörte sie, wie eine Expertin der Gruppe Saatchi & Saatchi eine Werbung für McDonald's geradezu brillant auseinandernahm: „Ein sechsjähriges kleines Mädchen läuft von zu Hause weg. Erst der Clown von McDonald's wird sie davon überzeugen zurückzukehren. Dieser Werbespot spielt wunderbar mit der Dialektik von Zuneigung und Trennung, in der das Kind sich bewegt. (...) Das Ziel besteht darin, daß das Kind diese Erfahrung von Zuneigung und Trennung anhand des Produkts vollzieht. (...) Von derlei gefühlsmäßigen Motivationen sind alle Kinder geleitet, ganz gleich in welcher Zeit oder Kultur sie leben.“ McDonald's hat bereits eine Analyse in China in Auftrag gegeben. Dabei untersuchen Marketing-Forscher die Konsum- und Spargewohnheiten der kleinen Chinesen und deren Einfluß auf die Eltern.12
Und wie sieht es in Frankreich aus? Für Marion Apfelbaum, Chefärztin für Stoffwechselkrankheiten am Krankenhaus Bichat, tendieren die Eßgewohnheiten der Jugendlichen bereits zum American Snack: „In den Städten essen die französischen Jugendlichen bis zu fünf- oder sechsmal am Tag, meistens Fast food. Das wird noch zunehmen. In zehn bis fünfzehn Jahren werden wir es mit einer Verbreitung von Fettleibigkeit zu tun haben, die mit der in den USA heute vergleichbar ist.“
dt. Marianne Karbe
1 Fortune, 8. Mai 1989.
2 Diese Untersuchung wurde vorgestellt beim Colloquium „Consumer Kids“ am 26./27. April 1994.
3 Children and Advertising Fact Sheet, Consumers Union.
4 Michael Jacobson und Bruce Maxwell, „What Are We Feeding Our Kids?“, New York (Worman Publishing) 1994.
5 „The Commercialization of Children's Television“, American Academy of Pediatrics, 23. Juli 1991.
6 The Wall Street Journal, 30. April 1990.
7 Michael Jacobson u. Bruce Maxwell, a.a.O.
8 Statement beim Colloquium „Consumer Kids“, a.a.O.
9 Michael Jacobson und Bruce Maxwell, a.a.O.
10 „Selling America's Kids: Commercial Pressures on Kids of the 90's“, Consumers Union, 1990.
11 Business Week, 27. Januar 1995.
12 Statement beim jährlichen Colloquium „Consumer Kids“, a.a.O.
* Journalist