15.09.1995

Tatarstan als Modell?

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Tatarstan als Modell?

TROTZ einer Vereinbarung zwischen der russischen Regierung und den Rebellen bleibt die Lage in Tschetschenien unsicher, und es kommt weiterhin zu Kampfhandlungen. Dagegen ist die Lage in Tatarstan, lange Zeit ebenfalls eine aufständische Republik, seit der Unterzeichnung eines Abkommens mit Moskau am 15. Februar 1994 ruhig. Dieser Vertrag setzt einen Schlußpunkt unter alle Unabhängigkeitsbestrebungen, weshalb er von der nationalistischen Opposition abgelehnt wird, doch sichert er Tatarstan ein hohes Maß an politischer und ökonomischer Autonomie. Warum wurde in Tatarstan möglich, was in Tschetschenien offenbar unmöglich war?

Von unserem Sonderkorrespondenten VICKEN CHETERIAN *

Die grünweißrote Flagge Tatarstans weht über dem Kasaner Kreml, eine im 16. Jahrhundert von den siegreichen Russen gebaute Festung in Kasan, die seither als Verwaltungszentrum dient und heute die Büros des Präsidenten Mintimer Schajmijew beherbergt. Sein Sprecher, Anas Chasanow, erinnert an die verschiedenen Etappen im Kampf um die Souveränität: „1990 kämpfte Präsident Schajmijew darum, daß Tatarstan seinen Status einer Autonomen Republik gegen den einer Unionsrepublik eintauschen konnte. Im selben Jahr kam Jelzin nach Kasan und forderte uns auf, uns so viel Souveränität zu nehmen, wie wir kriegen könnten. Das löste neue nationale Bestrebungen aus, insbesondere zur Verteidigung unserer kulturellen und sprachlichen Identität.“

Es kam zur offenen Konfrontation zwischen Moskau und Kasan, die sich mit der Auflösung der Sowjetunion und der Radikalisierung des politischen Lebens in Tatarstan zuspitzte. Chasanow erläutert: „Die politisch Verantwortlichen in Rußland drohten uns und setzten uns mit allen Mitteln unter Druck, während uns die Moskauer Medien als ,Separatisten‘ und ,Chauvinisten‘ betitelten. Dabei wollten wir uns gar nicht von Rußland lösen oder uns einem anderen Staat angliedern. Wir wollten nur unsere Beziehungen mit Moskau klären und sie auf eine rechtliche Grundlage stellen.“ Der Präsidentensprecher ist der Meinung, daß Tatarstan durch die Unterzeichnung des Vertrages mit Rußland im Februar 1994 „dem Schicksal entgangen ist, das Berg-Karabach, Abchasien und Tschetschenien erlitten haben“.

Das Abkommen wird Geschichte machen. Es hat den Kontroversen und dem Konflikt zwischen den beiden Hauptstädten ein Ende gesetzt. Überdies hat es die beiden Pole im politischen Spektrum Tatarstans deutlich gemacht: hier die alte Nomenklatura, die den Vertrag gutheißt, dort die Nationalbewegung, die ihn verwirft. Für Tatarstan markiert dieses Papier ein Ende des Weges in die staatliche Souveränität, für Rußland einen Wendepunkt in einem fortschreitenden Zerfallsprozeß.

Zwischen 1990 und 1994 war Tatarstan gleich nach Tschetschenien die rebellischste der russischen Republiken. Beide Gebiete weisen im übrigen eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten auf. In beiden Fällen handelt es sich um nichtslawische und muslimische Völker, und in beiden Republiken gibt es reiche Erdölvorkommen. Tschetschenien liegt im Zentrum des nördlichen Kaukasus inmitten eines Mosaiks ethnischer Minderheiten. Tatarstan, am mittleren Lauf der Wolga, ist von einer Vielzahl Autonomer Republiken umgeben: im Osten Baschkirien, wo eine turksprachige Bevölkerung1 lebt, im Norden die Udmurtische und die Marijische Republik, im Westen die Tschuwaschische und die Mordwinische.2 Jahrhunderte hindurch übten die Tataren in dieser Region einen großen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Einfluß aus.

Warum war eine Verhandlungslösung wie in Tatarstan in Tschetschenien nicht möglich? Jenseits der Tatsache, daß es der Regierung Jelzin in Tschetschenien darum ging, Macht zu demonstrieren3, erklären doch deutliche Unterschiede die beiden voneinander abweichenden Entwicklungen. In Tatarstan hatte die alte Nomenklatura ihren Kampf gegen Moskau bereits vor der Entstehung einer militanten nationalistischen Bewegung aufgenommen, und es gelang Mintimer Schajmijew, der Opposition den Rang abzulaufen und sich als der wahre Hüter der nationalen Interessen darzustellen. Im August 1991 beging er den Fehler, die Putschisten in Moskau zu unterstützen, und stand kurz vor der Verhaftung. Doch nationalistische Kreise mobilisierten Tausende von Menschen: Sie befürchteten, die Verhaftung des Präsidenten würde ihnen den Weg in die Selbstbestimmung versperren.

Auch in Tschetschenien hatte Doku Sawgajew, Vorsitzender des Obersten Sowjets, den versuchten Staatsstreich gutgeheißen, doch hier löste der ehemalige General Dschochar Dudajew eine Art Revolution aus, in deren Folge die alte Bürokratie ihre Macht einbüßte; der Graben zwischen Moskau und Grosny vertiefte sich. Dudajew proklamierte die Unabhängigkeit und lehnte alle Verhandlungen ab, in denen nicht von vornherein die Souveränität seines Landes anerkannt wurde.

Tatarstan dagegen hat sich zu keinem Zeitpunkt für unabhängig erklärt. Man bezog eine doppeldeutige Position, die sehr gut in der Formulierung einer Volksabstimmung von 1992 zum Ausdruck kommt: Der Text, über den die Bevölkerung abstimmen sollte, bezeichnet ihr Land als „einen souveränen Staat, der internationalem Recht unterliegt und der Russischen Föderation assoziiert ist“. Und bereits 1991, zu einer Zeit, als die UdSSR noch existierte, hatten Verhandlungen mit Moskau begonnen. Nach vier Verhandlungsrunden wurde am 15. Februar 1994 das „Abkommen über die Abgrenzung der Machtbefugnisse und Kompetenzbereiche“ unterzeichnet. Tatarstan unterliegt seither drei unterschiedlichen Gesetzen: der Verfassung der Russischen Föderation, seiner eigenen Verfassung und dem Abkommen (den sogenannten „Sondervereinbarungen“). Dieses Abkommen tritt in Kraft, wenn die beiden Grundgesetze einander widersprechen.

Die politischen Kräfte in Kasan meinen, dieses Abkommen könne über die Grenzen ihres Landes hinaus als Grundlage für die Neubildung der Russischen Föderation dienen. Tatsächlich hat inzwischen eine Reihe von Republiken und Gebieten vergleichbaren Papieren zugestimmt. Im Falle Tatarstans werden die „Sondervereinbarungen“ von einer Kommission überwacht, die von Oleg Soskowez geleitet wird, dem Ersten Stellvertretenden Präsidenten der russischen Regierung, sowie von Muhammat Sabirow, dem tatarischen Premierminister. Soskowez ist eine der zentralen Figuren in der Industrie – die großes Interesse an Tatarstan hat –, und er unterstützt, wie Schajmijew auch, den russischen Premierminister Viktor Tschernomyrdin. Inzwischen sind bereits dreizehn Vereinbarungen unterzeichnet, die insbesondere Fragen der Sicherheit und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit betreffen. In einem dieser Papiere verzichtet Tatarstan auf eine eigene Armee; als Gegenleistung erhielt es die Zusicherung, daß seine Wehrpflichtigen ihren Militärdienst künftig im Militärbezirk der Wolga leisten und daß auf seinem Territorium keine schweren Vernichtungswaffen aufgestellt werden.

Die Kasaner Politiker weisen stolz darauf hin, daß dank dieses Abkommens „Tatarstan an internationalen Angelegenheiten beteiligt ist, Vereinbarungen mit dem Ausland unterzeichnet, an den Arbeiten internationaler Organisationen, Agenturen und Konferenzen mitwirkt und auf ökonomischem Gebiet im Ausland eigene Aktivitäten entfaltet“4. Ein Diplomat, Nikolaj Chalitow, erklärt, daß „zu Zeiten der Sowjetunion die ökonomische Bedeutung Tatarstans so groß war wie die der drei baltischen Republiken“. Und wirklich handelt es sich um ein hochindustrialisiertes Gebiet: hier werden Flugzeuge gebaut (Tupolew und Iljuschin) wie auch MiGs für die Luftwaffe, hier laufen die Lastwagen Marke KamAS vom Band und werden petrochemische Produkte hergestellt. In den Jahren 1992/93 nutzte Moskau den tatarischen Standort dieser Firmen, um den Schritt des Landes in die Unabhängigkeit zu verhindern: der Finanzierungsstopp im militärischen Bereich ließ die industrielle Produktion um 50 Prozent sinken; mit der Schließung der Ölpipeline 1993 standen fünfhundert Fördertürme still.

Seit 1994 hat sich die Situation verändert. Dank einer Vereinbarung mit Moskau hat die örtliche Erdölgesellschaft Tatneft das Recht, jährlich 8 Millionen der geförderten 23 Millionen Barrel auf eigene Rechnung zu exportieren. Das bringt ausländische Investitionen ins Land: 500 Millionen Dollar waren es 1994, und im selben Jahr stieg die Exportbilanz auf 1,7 Milliarden Dollar.

Spannungen gibt es dennoch. So müßte Tatarstan 30 Prozent seiner Steuereinnahmen an das Budget der Russischen Föderation abführen, doch kürzlich gab ein Sprecher bekannt, man habe diese Gelder eingefroren, da „Moskau die Rechnung für seine Militäreinkäufe nicht beglichen“ habe.5 Das „tatarische Modell“ stößt auch keineswegs überall auf Zustimmung. „Zwei Monate nachdem Schajmijew sich geweigert hat, die Volksabstimmung über die russische Verfassung und den Föderationsvertrag in die Wege zu leiten, hat er sich um 180 Grad gedreht und dieses Abkommen vom Februar 1994 unterzeichnet“, bemerkt Jelena Schernobrowkina, Journalistin bei Wetschernaja Kasan. Moskau halte zudem seine Zusicherungen nicht ein: Entgegen der militärischen Vereinbarungen wurden junge Tataren nach Tschetschenien geschickt, dreißig von ihnen sind dort gestorben. Wie die meisten in Tatarstan lebenden Russinnen und Russen ist sie für eine wirtschaftliche Unabhängigkeit, lehnt aber die politische ab.

Unweit der Universität von Kasan befindet sich der Sitz des Allgemeinen Pantatarischen Zentrums (ATPC), einer politischen Bewegung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, alle Tataren der ehemaligen Sowjetunion zusammenzuschließen: Bei der Volkszählung von 1989 waren es 6,6 Millionen (von denen 1,8 Millionen auf dem Gebiet Tatarstans leben). Marad Mulikow, ehemals Lehrer für Geschichte und jetzt Leiter des Zentrums, sitzt einer rotschwarzen Fahne gegenüber, in deren Mitte das Symbol des Islam, Halbmond und Stern, prangt. Es handelt sich um die Fahne der Idelisch-Uralischen Republik, welche, nach einem Projekt aus der Zeit nach der Oktoberrevolution, Tatarstan und Baschkirien umfassen und ein eigenständiger Staat werden sollte. „Tatarstan wird keinen Nutzen ziehen aus dem Abkommen von 1994“, meint Mulikow. „Es ist ein schwerer Rückschlag für die nationale Befreiungsbewegung. Hätte Tatarstan dieses Papier nicht unterzeichnet, wäre es in Tschetschenien nicht zum Krieg gekommen.“ Aber was kann Unabhängigkeit bedeuten für ein Land, das als Enklave in Rußland gelegen ist? „Als Rußland im Jahre 1552 das Khanat Kasan besetzte, war es noch von keinem Stück russischer Erde umgeben.“

Doch die Opposition ist gespalten. Ittifak, eine Partei radikaler Ausrichtung, beklagt die Nachgiebigkeit des ATPC gegenüber der Staatsmacht. Bei den Parlamentswahlen vom März 1995 erhielten die Anhänger des Präsidenten die absolute Mehrheit — weder Mulikow noch Fawsija Bajramowa (Vorsitzende der Ittifak) wurden wiedergewählt. Es gab Wahlbetrug, doch die Opposition konnte die Annullierung der Wahlen nicht durchsetzen.

Kasan ist ruhig (tagsüber), und seine 1,1 Millionen Einwohner – zu gleichen Teilen Russen und Tataren, darunter viele gemischte Familien – gehen ihren Beschäftigungen nach. Nachts kontrolliert die Polizei die Straßen: seit Jahren ist Kasan eine gefährliche Stadt.

Nabereshnyje Tschelny, mit 540000 Einwohnern zweitgrößte Stadt des Landes, könnte auch in KamAS-Stadt umgetauft werden – nach der Lastwagenfabrik, in der 130000 Menschen beschäftigt sind. Es ist eine typisch sowjetische Stadt, wo noch das Zentrum wie ein Vorort aussieht. Vor dem Rathaus verteilen verschleierte Frauen Schriften der Ittifak und versuchen, mit den Passanten ins Gespräch zu kommen. „Die Stadt ist jung“, erklärt eine der Aktivistinnen. „Die meisten der Bewohner kommen aus den Dörfern, deshalb sprechen sie auch überwiegend Tatarisch und haben ihre eigene Identität besser bewahrt als die Kasaner.“

Fawsija Bajramowa, Schriftstellerin und Spezialistin für tatarische Literatur, ist nicht nur Vorsitzende der Ittifak, sondern auch einer Weltorganisation der Turkvölker, die über zahlreiche Kontakte überall in der ehemaligen Sowjetunion verfügt. Ihre Partei will die Unabhängigkeit und zielt auf die „Tatarisierung“ der Gesellschaft. Sie fördert die Rückkehr der Diaspora auf nationales Territorium und verlangt von der Regierung, den Rückkehrwilligen Unterkunft und Arbeit zuzusichern. Vor nicht langer Zeit gab es kaum zehn Moscheen, in denen praktiziert wurde, jetzt sind es siebenhundert. Der Islam ist das Symbol des langen Widerstands gegen die Russifizierung.

Um sich gegen die Assimilierung zur Wehr zu setzen, fordert Fawsija Bajramowa die Tataren auf, keine gemischten Ehen zu schließen. Sie fügt hinzu: „Seit dem Abkommen von 1994 werden den zentralasiatischen Tataren, die hierher emigrieren möchten, Zuzugsgenehmigungen verweigert. Die Eltern nehmen ihre Kinder aus den tatarischen Schulen, weil es keine Universität gibt, die in dieser Sprache lehrt. Das Tatarische ist keine Amtssprache, sogar die Parlamentssitzungen werden auf russisch abgehalten. Die Wahlen im März 1995 waren für uns ein Schock. Wir müssen unsere Taktik überdenken, denn 90 Prozent der Bevölkerung sind nicht reif für die Unabhängigkeit.“

Der Versuch, das Projekt eines Idelisch-Uralischen Staates wiederzubeleben, hat die Machthaber im benachbarten Baschkirien in Alarmzustand versetzt, denn dort sind die Baschkiren in der Minderheit.6 Am 3. August 1994 hat die Führung des Landes ein Abkommen mit Moskau unterzeichnet. Woraufhin der baschkirische Präsident Murtasa Rachimow erklärte: „Wir haben Moskau mehr Macht entrissen, als Tatarstan es getan hat.“7

Kasans Unabhängigkeitsträume sind auf lange Zeit begraben. Ein entschiedeneres Eintreten für ihre Verwirklichung hätte den wirtschaftlichen Zusammenbruch und die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung bedeutet. Statt dessen hat sich die örtliche Nomenklatura für den Kampf um die Kontrolle der lokalen Wirtschaft und Ressourcen entschieden, wovon sie als erste profitiert.

dt. Eveline Passet

1 Tatarisch und Baschkirisch sind nah verwandte turksprachliche Dialekte, deren Sprecher einander verstehen können.

2 Die Sprachen der Udmurten, Mari und Mordwinen gehören zur finno-ugrischen Sprachgruppe, während das Tschuwaschische eine altajische Turksprache ist. Udmurten und Mordwinen sind russisch-orthodoxen Glaubens, die Mari hängen teilweise den orthodoxen, teilweise schamanistischen Glaubensvorstellungen an, unter den Tschuwaschen gibt es gleichermaßen Muslime wie Orthodoxe, die Baschkiren schließlich sind wie die Tataren sunnitische Muslime.

3 Siehe Karel Bartak, „Sanglants paris de M. Boris Eltsine en Tchétchénie“, Le Monde diplomatique, Januar 1995.

4 Brief von Präsident Schajmijew, veröffentlicht in International Affairs, Moskau, 1995.

5 OMRI Daily Digest, Open Media Research Institute, Prag, 13. Juli 1995.

6 Nach der Volkszählung von 1989 leben in der Baschkirischen Republik 3043133 Menschen, davon sind 39% Russen, 28% Tataren und 22% Baschkiren.

7 Segodnja, Moskau, 4. August 1994.

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 15.09.1995, von Vicken Cheterian