Vom Ende der Vermischung
EBENSO wie sein erstes Prosawerk, das vor sieben Jahren erschien, wird Salman Rushdies fünfter Roman, der Anfang September in London herauskam, für Aufsehen sorgen – diesmal allerdings aus rein literarischen Gründen. Es ist das Meisterwerk eines Erzählers auf dem Höhepunkt seines Schaffens. In den Erlebnissen des Erzählers/Helden, der aufgrund einer angeborenen Krankheit frühzeitig altert, im Exil lebt und den Tod erwartet, spiegelt sich deutlich das Schicksal des Autors selbst wider. Doch jenseits von Rushdies ganz persönlicher Tragödie verleiht seine Ratlosigkeit angesichts der jüngsten gesellschaftlichen Entwicklung in Indien, wo ein Großteil der Handlung spielt, diesem Roman seine Dichte. „The Moor's last sigh“1 – so heißt das Werk – versetzt uns in eine fast apokalyptische Stimmung. Es ist geprägt vom Zusammenbruch der Ideale des Laizismus, der Toleranz und des Pluralismus: „Es ist denn also Zeit, die Totenklage anzustimmen für das, was einmal war und beinahe nicht mehr ist; für das, was gut war in alledem, und das, was weniger gut war.“
Ein Gefühl der Dringlichkeit durchzieht diesen Roman, passend zum heutigen Indien, wo die Ereignisse sich seit mehreren Jahren im Zeitraffer abzuspielen scheinen. Kaum hat man begonnen, die Grundsteine einer offenen, säkularen Gesellschaft zu legen, so kündigt sich bereits das Ende an. Dies ist sicherlich die Bedeutung, die man dem Leiden des Erzählers geben muß. Seine Tage sind gezählt, genauso wie die Werte, für die er einsteht.
Einer dieser Werte ist die Vermischung. Als Sohn einer katholischen Mutter und eines jüdisch-arabischen Vaters ist Moraes da Gama-Zogoiby in mehr als einer Hinsicht ein Mischling. Er ist das Produkt einer biologischen Mischung, aber auch einer kulturellen. Denn die Familie da Gama-Zogoiby, deren Leidensweg dieser Roman nachzeichnet, ist zwar fremder Herkunft. Sie hat sich jedoch voll und ganz ins Leben ihres Gastlandes eingefügt und lebt genau wie die Inder. Aurora, die Mutter des Erzählers, war zu Zeiten der englischen Herrschaft sogar im Gefängnis, weil sie mit der Unabhängigkeitsbewegung sympathisierte. Doch für das hinduistische Indien der neunziger Jahre, das sich in Wahnvorstellungen von ethnischer Reinheit und Monolithismus verirrt, sind die da Gama-Zogoibys Symbole, die vernichtet werden müssen.
Im letzten Teil der Erzählung wird der Leser in eine Gewaltspirale gerissen, deren Höhepunkt mit der Explosion der Türme von Bombay aufgrund terroristischer Bomben erreicht wird. Die Wirklichkeit wird hier zur Metapher für den frühzeitigen Tod dieser multikulturellen Gesellschaft, die die Gründerväter des modernen Indien gerade geschaffen hatten.
Moraes flüchtet nach Spanien. Seine Rückkehr bekommt ihren Sinn erst im Kontext eines zyklischen Geschichtsverständnisses. Was sich derzeit in Indien ereignet, hat sich in Spanien abgespielt, als nach dem Fall von Granada Juden und Araber massenhaft das Land verließen. Die Geschichte der Vermischung ist die Geschichte eines ewigen Neubeginns.
TIRTHANKAR CHANDA
dt. Sophie Mondésir
1 „The Moor's last sigh“, von Salman Rushdie, London (Jonathan Cape) 1995, 477 Seiten.
Von Salman Rushdie sind in deutscher Sprache erhältlich: „Harun und das Meer der Geschichten“, Kindler/München 1991; „Heimatländer der Phantasie“, Kindler 1992; „Mitternachtskinder“, Knaur/München 1995; „Die Satanischen Verse“, Artikel-19-Verlag 1991; „Scham und Schande“, Piper/München 1990; „Osten, Westen“, Kindler/München 1995.