Jugoslawiens Geschichte wird neu geschrieben
EIN Bericht der Vereinten Nationen bestätigt das Ausmaß der Verbrechen, welche die serbischen Milizen bei der Eroberung Srebrenicas in Bosnien begangen haben. Kroatien ist ein „ethnisch sauberer“ Staat: Die serbische Minderheit ist fast vollständig vertrieben worden. In Serbien, Bosnien und Kroatien hat unterdessen ein neuer, weniger blutiger Krieg begonnen, der auf dem Feld der Erinnerung ausgetragen wird: Geschichtsschreibung gerät dort zur propagandistischen Legendenbildung, die jegliche positive Erinnerung an das frühere Jugoslawien und das friedliche Zusammenleben der Nationen auslöschen will.
Von GORDANA IGRIC *
„Obwohl allein unser Volk gut und gerecht ist, wird der unschuldigen serbischen Nation von allen Seiten Unrecht angetan. Alle fünfzig Jahre erscheint ein Damoklesschwert über uns, und es kommt zum Völkermord.“ Diese Sätze hat eine junge Serbin in ihrem Schulaufsatz im Fach Geschichte formuliert. Dušica L. ist fünfzehn. Seit sie aus Kroatien fliehen mußte, geht sie in Belgrad aufs Gymnasium. Um ihre Behauptung zu erläutern, beschreibt sie, was ihre Familie seit Beginn des Krieges zu erdulden hatte. Die Lehrerin, Jelena H., zeigt sich ergriffen von der Lektüre: weil Dušica „die Geschichte in ihrem Herzen bewahrt“, bekommt sie eine gute Note.
Ein kroatischer Schüler im gleichen Alter stellt fest, daß es „keinen Frieden mit den Serben geben kann“, weil schon in den Geschichtsbüchern beschrieben sei, wie sie „töten, hinrichten, massakrieren, stehlen, niederbrennen und die Menschen verschleppen, um sie in Lagern gefangenzuhalten“.
Auch in den höheren Schulen Bosnien- Herzegowinas werden solche apokalyptischen Bilder beschworen. Im Vorwort zum staatlichen Lehrplan weist der Bildungsminister sogar darauf hin, daß „das Ausbildungsziel darin besteht, unsere Kinder zu lehren, wie sie in der feindlichen Welt bestehen können, die sie umgibt, und ihnen die Härte beizubringen, die man braucht, um der Vernichtung zu widerstehen“.
Überall im ehemaligen Jugoslawien haben die heutigen Lehrer in der Schule noch das Liedchen gelernt: „Tito, das sind wir, Papa, Mama, du und ich.“ Jetzt bringen sie ihren Schülern und Schülerinnen bei, daß sie „von Feinden umgeben“ seien. Einst haben sie Einheit, Brüderlichkeit, Marxismus und sozialistische Selbstverwaltung gepredigt und der jungen Generation den Eindruck vermittelt, die Geschichte habe erst mit der Oktoberrevolution, dem Zweiten Weltkrieg und der sozialistischen Revolution in Jugoslawien begonnen.
Damals folgte man Tito, der Jugoslawischen Volksarmee (JNA), der Kommunistischen Partei und der Arbeiterklasse. Die Kinder trugen rote Kopftücher und Mützen mit den Abzeichen der Partisanen und galten als „Titos Pioniere“, der Atheismus war Staatsreligion, und in den Lehrbüchern stand, daß der Zusammenhalt und die Eintracht der Völker Jugoslawiens mit Blut besiegelt seien. Auf dieser Grundlage konnte dann systematisch die Bedrohung durch äußere Feinde beschworen werden. Überall im Land kannte man die beiden Parolen: „Seid wachsam gegen die Feinde im Ausland!“ und „Hütet euch vor dem Klassenfeind!“.
In Bosnien-Herzegowina gilt der Marxismus heute als eine „philosophische Richtung, die von Illusionen und Unmöglichkeiten ausging“. Schon in der Grundschule lernen die Kinder, daß die russische Oktoberrevolution zu „einer kommunistischen Diktatur“ geführt habe, „die sich nur durch Gewalt und Unterdrückung an der Macht halten konnte... Dem Beispiel dieses ersten totalitären Staates folgten bald darauf die Faschisten und Nationalsozialisten.“
Auch in Kroatien lernten die Schüler und Schülerinnen noch vor kurzem, daß „Selbstverwaltung und Kollektiveigentum die entscheidenden Mittel der gesellschaftlichen Entwicklung“ seien. Jetzt liest man in den Schulbüchern, daß „die allmächtige Kommunistische Partei die Gesellschaft beherrschte“ und „alle verfolgt wurden, die ihrer Unzufriedenheit mit dem System Ausdruck gaben“.
In Serbien ist die Einführung neuer Lehrbücher offiziell damit begründet worden, daß man mit der alten Ideologie aufräumen müsse. Aber nach wie vor erfährt jeder elfjährige serbische Schüler, daß die neue Zeit 1917 mit der Oktoberrevolution begonnen hat: „Die Menschheit lebt überwiegend noch immer in kapitalistischen Gesellschaften; wir gehören zu den wenigen, die eine sozialistische Gesellschaft aufgebaut haben.“ Auf dem Titel dieses Schulbuchs schwingt ein Arbeiter die Sowjetfahne. Überdies wird den Kindern klargemacht, daß „in der kapitalistischen Welt die Produktion durch den Profit bestimmt wird, der aus der Ausbeutung der Arbeiterklasse und der armen Bauern stammt“.
Das historische Experiment Jugoslawien wird hier insgesamt in Frage gestellt. Ein junger serbischer Gymnasiast bekommt zu hören, Kroaten und Slowenen hätten sich ja bereits im „ersten Jugoslawien“ (dem von 1918) nicht mit den Serben vertragen: „Kroaten und Slowenen haben zu den Verlierern des Krieges gehört, aber sie haben sich als Sieger aufgeschwungen und dann Anspruch auf einen unabhängigen Nationalstaat erhoben.“ Das Jugoslawien nach 1945 war nach dieser Interpretation aber auch nicht besser: „In der Kommunistischen Partei und in den Führungsgremien des Bundesstaats hatten immer die Kroaten und Slowenen das letzte Wort – den Serben wurde die Autonomie verweigert...“
Im Gegenzug bringt man den kleinen Kroatinnen und Kroaten bei, daß „Jugoslawien ein kommunistischer Staat nach sowjetischem Vorbild wurde, in dem die Vormacht der Serben ungebrochen blieb. Den nichtserbischen Nationen war es nicht erlaubt, ihre ethnische Besonderheit zum Ausdruck zu bringen. Kroaten hatten es schwer, in führende Positionen zu gelangen, weil sie stets mit dem Vorwurf konfrontiert waren, Volksfeinde zu sein, die damals die Verbrechen der Ustascha zu verantworten hätten. Ihre Teilnahme am nationalen Befreiungskampf wurde dagegen bewußt verschwiegen.“
Eine endlose Folge von Konflikten
GANZ anders in den Gebieten Bosnien-Herzegowinas, die von der Regierung in Sarajevo kontrolliert werden. Ex-Jugoslawien und das kommunistische Regime kommen in den neuen Schulbüchern zwar nicht besonders gut weg, aber der Kampf der Partisanen und die Rolle der Kommunistischen Partei Jugoslawiens werden nach wie vor positiv dargestellt, ebenso die Person des Präsidenten Tito selbst (dem eine „bedeutende geschichtliche Rolle“ attestiert wird). Man erinnert auch daran, daß im letzten Krieg die Muslime von den Partisanen gerettet wurden.
In Kroatien hört man andere Töne. Dort lernen die Kinder, daß „Tito eine Person mit großen Schwächen war, als Staatschef wie als Mensch. Er strebte nach persönlicher Macht, brachte seine Gegner ins Gefängnis und war an der Liquidierung alter Waffenbrüder beteiligt. Er widersetzte sich der Schaffung einer kroatischen Nation und förderte den Kult um seine Person. Als Mensch hatte er einen Hang zum Luxus und zur Bequemlichkeit.“
In Serbien wird jetzt anerkannt, daß auch die Tschetniks (die nichtkommunistischen serbischen Partisanen) am Kampf gegen die Besatzungsmacht teilgenommen haben. Früher war ihnen, genau wie der kroatischen Ustascha, „Verrat an der Nation“ vorgeworfen worden. Allerdings ist auch das wieder nicht die ganze geschichtliche Wahrheit: Nun ist statt dessen nicht mehr vom Bürgerkrieg zwischen Tschetniks und kommunistischen Partisanen die Rede, der gleichzeitig mit dem Kampf gegen die Deutschen stattfand. Ohnehin nimmt der Zweite Weltkrieg in den Lehrbüchern und in der Erinnerung eine weniger bedeutende Stellung ein.
Den Schülerinnen und Schülern im ehemaligen Jugoslawien muß die Geschichte wie eine endlose Folge von bewaffneten Auseinandersetzungen und Revolutionen vorkommen. Und die Kriege, die von ihrer jeweiligen Nation geführt wurden, müssen ihnen immer als gerecht erscheinen. Ausführlich behandeln die Schulbücher das Leiden des eigenen Volkes, unter Beigabe von Bildmaterial, das Totenschädel, Massenhinrichtungen, Flüchtlingslager und nackte Leichen zeigt. Den Schülern wird der Haß auf die anderen (die Feinde, die Teufel, die Besatzer, die Fremden) eingeimpft. Opfergeist und der Wunsch nach Rache – vor allem gegen die Nachbarvölker – sollen geweckt werden. In einem Lehrbuch für die Grundschule heißt es, Serbien habe sich durch seine 1,2 Millionen Toten im Ersten Weltkrieg „Achtung erworben“.
Angesichts der zahllosen „Völkermorde“, die in diesen Büchern aufgeführt werden, ist es schon fast ein Wunder, daß auf dem Balkan noch Menschen leben. Ein achtjähriger serbischer Schüler lernt zum Beispiel, daß seine Landsleute von den Faschisten „gnadenlos umgebracht, zwangsgetauft und aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat vertrieben“ worden seien. Im gleichen Geiste erklärt Fahrudin Isaković, der Autor der Geschichtsbücher in den Schulen Bosnien-Herzegowinas, man habe in der Neuausgabe „den Völkermord, den die Tschetniks im Zweiten Weltkrieg an den Bosniaken begangen haben, besonders ausführlich behandelt, weil wir zuvor unser Wissen nicht veröffentlichen durften“.
Den Schulklassen in Kroatien werden besonders kriegslüsterne Texte verabreicht. Zehnjährige Kinder lernen zum Beispiel das folgende Gedicht auswendig: „Die schwarze Hand der Kanonen, Granatwerfer und Panzerfäuste schlägt zu, sie bricht der Stadt die Rippen und zermalmt ihren Körper ohne Erbarmen.“ Wo Gehorsam, Tapferkeit und nationale Begeisterung zu den höchsten Tugenden erklärt werden, da sind Liebe, Toleranz und Frieden nur noch nostalgische Erinnerungen an eine Vergangenheit, die endgültig abgeschlossen ist. Auch in der kroatischen Literatur ist davon immer weniger die Rede.
Im Gefolge dieser Wende zeigen sich aber noch andere Tendenzen, die noch viel mehr Anlaß zur Sorge geben: Das neueste kroatische Lehrbuch für Geschichte widmet sich ausführlich der Kritik an den Übergriffen der Partisanen, aber es findet sich kein Hinweis auf das Konzentrationslager Jasenovac, in dem während des Zweiten Weltkriegs Zehntausende Juden, Serben und Zigeuner umgekommen sind – es war vom damaligen unabhängigen Staat Kroatien eingerichtet worden.
Selbstverständlich spielt die Vorgeschichte der gegenwärtigen Ereignisse in den Schulbüchern eine wichtige Rolle. Junge Serben und Serbinnen lernen ab dem zehnten Lebensjahr, daß ihre „Mitbürger“ in Kroatien keine Erwähnung in der Verfassung gefunden hätten, daß sie zur nationalen Minderheit herabgewürdigt und ihrer Rechte beraubt worden seien. Über die „katholische Kirche und ihre fanatisierten Gläubigen“ heißt es, sie hätten „den Kampf gegen die orthodoxe Kirche und die Serben aufgenommen“. Und etwas weiter im Text erfährt man, daß „das serbische Volk bewaffnet wurde und die jugoslawische Volksarmee sich um seinen Schutz bemühte“.
Dann kommt der äußere Feind ins Spiel: „Der Kampf konnte kein Ende nehmen (...) weil die Europäische Gemeinschaft Partei ergriffen hat. Das gilt vor allem für Deutschland, das aggressivste und einflußreichste Mitglied der Gemeinschaft. Zum dritten Mal in diesem zwanzigsten Jahrhundert haben Deutschland und Österreich ihren ,Drang nach Osten‘ bewiesen, diesmal mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln, indem sie die sezessionistischen Kräfte in den jugoslawischen Teilrepubliken unterstützen.“ Serbien und Montenegro mußten sich also wehren und kämpfen daher Seite an Seite für Jugoslawien. „Damit haben sie den Zorn und die Rachegelüste der Verfechter einer neuen Weltordnung auf sich gezogen, und nun sollen sie bestraft werden.“
Im Geographieunterricht lernen die serbischen Teenager ab dem vierzehnten Lebensjahr nicht nur, wie es in der „Serbischen Republik Krajina“ und der „Serbischen Republik Bosnien“ aussieht, auch den Zerfall Jugoslawiens sollen sie richtig interpretieren: „Die Serbische Republik Krajina entstand während des Religionskriegs in Kroatien, der 1991 begann und noch immer andauert (...). Um den nationalen und religiösen Konflikt zu beenden, haben die Vereinten Nationen beschlossen, die Krajina unter den Schutz ihrer Streitkräfte zu stellen.“
In den kroatischen Schulbüchern herrscht ein anderer Ton: „Die Serben begannen ganz offen ihre Vorstellungen von einem Groß-Serbien zu vertreten, das ganz Bosnien-Herzegowina und große Teile Kroatiens bis zu einer Linie von Virovitica über Karlovac bis Karlobag umfassen sollte. In ihrem aggressiven Expansionsdenken verfielen die Verfechter Groß-Serbiens in Völkermordphantasien: Sie kamen auf die Idee, alle Gebiete, die sie erobern wollten, anschließend von den Nichtserben zu säubern, um sie ethnisch homogen zu machen. Die treibende Kraft dieser Politik war die Sozialistische Partei Serbiens (SDS). Sie hat die Serben angestiftet, sich gegen die neugewählte kroatische Regierung zu erheben. Seit August 1990 hat Serbien zur Unterstützung dieses Aufstands Tschetnik-Terrorkommandos entsandt.“ Anschließend wird die Ankunft der „Blauhelme“, die internationale Anerkennung Kroatiens und seine Aufnahme in die Vereinten Nationen beschrieben. Links neben dem Text wurde ein Foto von Hans-Dietrich Genscher, dem damaligen deutschen Außenminister, plaziert. Die Bildunterschrift lautet: „Ein wahrer Freund des unabhängigen und souveränen Staates Kroatien.“
Der Autor dieses kroatischen Lesebuches für die Mittelstufe hat sich allerdings den Stil noch nicht abgewöhnen können, der unter dem Tito-Regime geschätzt wurde. Er hätte sonst auf den Abdruck des Gedichtes verzichtet, das die Ordensschwester Anka Petricević zu Ehren des Präsidenten Franjo Tudjman geschrieben hat: „Sein ganzes Leben hat er dem freien und unabhängigen Kroatien gewidmet. So viel hat er getan für sein Land und noch mehr erlitten. Als Mann von großer Gelehrsamkeit und als starke Persönlichkeit hielt er das Ruder mit fester Hand und erlaubte weder Verirrungen noch Extremismus. Franjo Tudjman genießt großes Ansehen. Man achtet ihn in Kroatien und respektiert ihn im Ausland.“
In Serbien ist zwar die politische Betätigung an den Schulen verboten, doch sorgen die Medien und die patriotisch gesinnten Lehrer dafür, daß auch das vermittelt wird, was nicht ausführlich genug in den Lehrbüchern steht. So hat zum Beispiel in der Kleinstadt Dragas ein Lehrer der Mittelstufe seiner Klasse erklärt, wie sie Patrioten und Feinde der Nation auseinanderhalten können. Aus seiner Sicht ist die Kundgebung am 8. März 1991 in Belgrad (die größte Demonstration von Studenten gegen die nationalistische Machtpolitik des Präsidenten Slobodan Milošević) das Werk einer Bande von „Staatsfeinden“ gewesen, „die sich mit dem Feind im Ausland verschworen haben, um Serbien zu vernichten“. Die Stunde wurde mit einer praktischen Pflichtübung beendet: Einige Schüler der Klasse sammelten Flugblätter ein, die von der Bewegung für die Erneuerung Serbiens (SPO), einer Partei der parlamentarischen Opposition, verteilt worden waren, und vernichteten sie. Andernorts gehen die Schüler gelegentlich „spontan zu den Parteiversammlungen von Milošević“. Und wenn ein Gymnasiast in Belgrad einen Aufsatz zum Thema „Ungerechte Sanktionen gegen Serbien“ schreiben muß, dann wird seine Note zweifellos davon abhängen, welche flammenden Worte er findet, um seine Abneigung gegen die anderen Völker des ehemaligen Jugoslawien auszudrücken.
dt. Edgar Peinelt
* arbeitet für AIM in Belgrad. AIM ist ein Verband unabhängiger Journalistinnen und Journalisten, die aus allen Ländern des ehemaligen Jugoslawien berichten. AIM unterhält Redaktionen in Sarajevo (Bosnien), Zagreb (Kroatien), Belgrad (Serbien), Podgorica (Montenegro), Priština (Kosovo), Skopje (Mazedonien) und Ljubljana (Slowenien).
Der vorliegende Artikel ist unter Mitarbeit von Alem Anić (AIM-Zagreb) und Strajo Krsmanović (AIM-Sarajevo) entstanden.