Arbeit oder Kapital- wer bestimmt die Zukunft?
DASS die Europäische Union von Arbeitslosigkeit und sozialen Spannungen erschüttert wird, hatte den französischen Präsidentschaftskandidaten Jacques Chirac veranlaßt, die Beschäftigungspolitik in den Mittelpunkt seines Wahlkampfs zu stellen. Schon wenige Wochen später war klar, daß die Wahlkampfversprechungen nicht durch ernstzunehmende Konzepte gedeckt waren. Solche Armut an Gedanken, die auch noch durch die Orientierung auf die Parole „Alles für das Kapital“ im Keim erstickt werden, findet sich auch in den Berichten internationaler Organisationen: Hier werden Hymnen auf das Laisser-faire angestimmt und die Erwartung ausgesprochen, daß sich die Gewerkschaften gefälligst fügen sollen.
Von JACQUES DECORNOY
Im Vorwort zu einer umfangreichen Untersuchung mit dem Titel „Die Welt der Arbeit in einer Wirtschaft ohne Grenzen“ führt Weltbankpräsident James D. Wolfensohn vor, wie man alles in wenigen Worten sagen kann: „Die Auswirkungen zweier weltweit auftretender Phänomene bestätigen die Aktualität dieses Berichts: zum einen gibt es weniger staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen, zum anderen sind Handel und Kapitalbewegung, aber auch Informationsaustausch und Technologien immer stärker verknüpft. In einer Zeit tiefgreifender Veränderungen werden Entscheidungen über Beschäftigte und Arbeitsbedingungen unter weltweitem Wettbewerbsdruck gefällt. Dies ist die harte Realität des Weltmarktes: Politische Fehlentscheidungen werden durch Wechselkursschwankungen, durch den Verlust von Marktanteilen und letzten Endes durch Veränderungen der Beschäftigungszahlen und des Lohnniveaus hart bestraft.“1
So viel scharfsinniger Realismus hätte den Ehrenplatz in einer Anthologie des zeitgenössischen Zynismus verdient – der Text legt den Grundriß der globalen Kräfteverhältnisse schonungslos offen: Das weltweit herrschende Konkurrenzprinzip zwingt auch die Arbeit unter seine Gesetze. Macht eine solche Diagnose nicht jene Hilferufe obsolet, mit denen die französische Rechtsregierung an die „staatsbürgerliche Verantwortung der Unternehmen“ appelliert hat, während sich gleichzeitig überall die „harte Wirklichkeit“ durchsetzt? Hart, aber hart für wen?
In einem jüngst veröffentlichten Essay über den Klassenkampf in den Vereinigten Staaten schreibt Michael Lind: „Zwischen 1977 und 1992 hat die durchschnittliche Produktivität eines amerikanischen Arbeiters um 30 Prozent zugenommen, während sein Durchschnittsverdienst um 13 Prozent gesunken ist. Das Prinzip ist einfach und unerbittlich: Unabhängig vom Anstieg der Produktivität sinken die Löhne, wenn zu viele Arbeitskräfte um immer weniger Arbeitsplätze konkurrieren. Die weltweite Verfügbarkeit von Arbeitskräften hat einen Überfluß erzeugt, von dem die in den Vereinigten Staaten ansässigen Unternehmen profitieren.“2
Große Einkommens- und Wohlstandsgefälle erschüttern nicht nur die Gesellschaft in den Ländern des Nordens, sondern vergrößern auch das Gefälle gegenüber den Ländern des Südens. (Wobei man natürlich von den Führungsschichten absehen muß.) Nach Angaben der Weltbank betrug der durchschnittliche Einkommensunterschied zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern im Jahre 1870 11 Punkte. 1960 lag er bei 38 und 1985 bei 52 Punkten. Es ist keineswegs so, daß sich „der Abstand zwischen armen und reichen Arbeitnehmern verringert“, die „Tendenz“ geht vielmehr in die umgekehrte Richtung. Nicht nur werden die Armen immer ärmer, sie werden auch immer mehr: „Etwa 99 Prozent der einen Milliarde Menschen, die in den nächsten dreißig Jahren weltweit auf den Arbeitsmarkt drängen werden, leben in Ländern, in denen heute nur niedrige oder durchschnittliche Löhne gezahlt werden.“3
Da der economic mainstream nur knapp 10 Prozent der weltweit verfügbaren Arbeitskräfte nicht erfaßt, werden immer mehr Menschen jener „harten Wirklichkeit“ ausgesetzt. Die Zahl der Beschäftigten wird heute auf 2,5 Milliarden geschätzt, das sind doppelt so viele wie 1965. In dreißig Jahren werden es 3,7 Milliarden sein. Mit heiterer Gelassenheit meint die Weltbank dazu: „Steht allen Menschen ein neues Goldenes Zeitalter bevor? Es wird vor allem davon abhängen, wie jedes einzelne Land die neuen Chancen nutzt, die sich aus der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft ergeben.“4
Man hält sich an das bewährte Drehbuch, vielleicht mit ein paar kleinen Ergänzungen: Vor allem den Wettbewerb nicht einschränken, denn er bringt Wachstum hervor, welches wiederum das Kind des Handels, des Imports und des Exports, und die Mutter der Arbeitsplätze ist. Reglementierung des Handels und protektionistische Maßnahmen verstoßen gegen das eherne Gesetz der Marktwirtschaft, und solche Todsünden sind mit der Verteidigung von Arbeitnehmerinteressen niemals zu rechtfertigen. Natürlich ist das „kurzzeitig“ für ganze Gesellschaftsschichten schmerzhaft: für ungelernte Arbeitskräfte in hochentwickelten Ländern oder Schwellenländern, für die Bauern auf der Südhalbkugel, für die Arbeiter in einigen Industriezweigen (sogar in Südostasien) und auch für „ganze Länder, vor allem im Afrika südlich der Sahara“, einer Region, der „es an Dynamik fehlt“.
Aber das sind vorübergehende Probleme, eine schwierige Phase – vielleicht ein, zwei Generationen lang – für ein paar hundert Millionen Menschen. Es wäre verantwortungslos, ihretwegen das Wesentliche aufzugeben: Protektionismus wäre „ebenso kontraproduktiv wie eine Politik der Besteuerung multinationaler Unternehmen, um die Verlagerung von Niedriglohnarbeiten in Entwicklungsländer zu verhindern“. „In einer von Konkurrenz geprägten Welt ist die Verlagerung der Produktion ins Ausland eine wirksame Unternehmensstrategie, um größere Marktanteile zu gewinnen oder die Verluste zu reduzieren.“5
Da der Welthandel fast vollständig in der Hand multinationaler Unternehmen ist – etwa 50 Prozent entfallen auf den Handel zwischen finanziell untereinander verflochtenen Unternehmen6 –, die für eine zunehmende Integration nicht nur des Handels, sondern auch der Produktion sorgen, sollte man eigentlich erwarten, daß sie einen entscheidenden Beitrag zur Schaffung neuer Arbeitsplätze leisten.
Diese Unternehmen beschäftigen etwa 73 Millionen Menschen (ungefähr 3% aller Arbeitnehmer), wobei von jedem Arbeitsplatz ein oder zwei andere indirekt abhängen. Zwölf Millionen dieser Arbeitsplätze entfallen auf die Entwicklungsländer, und davon sind wiederum 45 Prozent in sogenannten Sonderwirtschaftszonen entstanden, bei denen sich der Nutzen für die Länder, in denen diese Zonen liegen, auf die gezahlten Niedriglöhne beschränkt. Daß Investitionen in diesen Gebieten äußerst unsicher sind, ist allgemein bekannt.7 Es sieht ganz so aus, als tue sich hier eine neue Kluft auf: zwischen der ungeheuren Finanz-, Handels-, Produktions- und Technologiemacht, die immer weiter wächst und weltweit mittlerweile mehr als 33 Prozent des Produktionsapparates umfaßt8, und den gewaltigen Ansprüchen eines ebenfalls weltumspannenden Arbeitsmarktes. In den Ländern des Südens können die multinationalen Unternehmen diesen Erwartungen gerade noch einigermaßen entsprechen (in einigen dieser Länder geht es sogar recht gut), während sich im Norden – und das wird in den Berichten der internationalen Organisationen nirgendwo ernsthaft untersucht – eine deutliche Tendenz zum Abbau von Arbeitsplätzen abzeichnet.
Das Internationale Arbeitsamt (IAA) stellt in diesem Zusammenhang fest: „Nur wenige Entwicklungsländer haben von ausländischen Direktinvestitionen profitiert. 1992 entfielen 76 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in der Dritten Welt auf nur 10 Länder, auf 47 der am wenigsten entwickelten Länder dagegen nur 0,6 Prozent. Die Entwicklungsperspektiven dieser Länder dürften auch weiterhin ziemlich düster bleiben, weil sie sich einen erbitterten Konkurrenzkampf um die ausländischen Direktinvestitionen liefern.“9
Auch die Weltbank sieht den Arbeitsmarkt als hauptsächliches, wenn nicht gar einziges Opfer der Finanzturbulenzen, der Verschuldung und der Wirtschaftskrisen. „Die Arbeitnehmer können von neu investiertem Kapital profitieren, aber sie sind auch die Hauptbetroffenen, wenn dieses Kapital wieder abgezogen wird. Sie waren es, die in den achtziger Jahren den Großteil der Lasten der Strukturanpassung zu tragen hatten. In Lateinamerika sind die Löhne in diesem Zeitraum um 25 Prozent gesunken, während der regionale Börsenindex stark anstieg.“10 Da das Kapital „beweglicher ist als die Arbeit“, ist es auch schwerer zu besteuern. In der „harten Wirklichkeit“ muß man sich also an den Arbeitnehmern schadlos halten: Steuern werden erhöht, Sozialleistungen gekürzt und öffentliche Investitionen gestrichen. Und falls der Aufschwung kommt, wird er sich langsam vollziehen, denn „das Kapital ist vorsichtig“: Wie sich an der jüngsten Krise in Mexiko gezeigt hat, bleibt die Situation selbst dort unsicher, wo man glaubt, den Silberstreif am Horizont zu sehen. Kurz gesagt, „der Weltfinanzmarkt läßt die Unterschiede zwischen Gewinnern und Verlierern noch deutlicher hervortreten“.
Ein grausames Dilemma: Es herrscht das unantastbare Gesetz des Marktes, und von der Rolle des Staates ist immer weniger zu merken – eine als positiv erachtete Entwicklung, der die Staatsmacht (oder was von ihr noch bleibt) den Weg bereiten soll. Aber gleichzeitig „ist eine ausschließlich durch den Markt bestimmte Entwicklung kaum geeignet, Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu beseitigen, oder zwischen ethnischen Gruppen oder sogar zwischen Gruppen, die sich in jeder Hinsicht ähnlich sind“. Man muß also „den Armen“ und vor allem ihren Kindern helfen, indem man in die Ausbildung und in die soziale und materielle Infrastruktur investiert.
Wie der immer schwächer werdende Staat den Weg aus solchen Widersprüchen weisen soll, können auch die Experten nicht erklären. Das Ergebnis dieser Ratlosigkeit gleicht einer Empfehlung für unerschrockene Balancekünstler: „Die Regierungen müssen den richtigen Weg zwischen behutsamer Steuerpolitik, Marktorientierung und stabilisierender Sozialpolitik bestimmen.“ Gelingt dies nicht, dann zieht das Kapital weiter, und seine Wanderungen über den Globus kann niemand kontrollieren. Die „Armen“ hingegen sollten nicht zuviel von der Gesetzgebung erwarten, auch wenn, nach Ansicht der Weltbank, die multinationalen Unternehmen nicht unbedingt von Ländern mit autoritären Herrschaftsstrukturen oder von Niedriglohnländern angezogen werden. Ein staatlich festgelegter Mindestlohn kann in den reichen Ländern durchaus nützlich sein, auf der Südhalbkugel ist er nachteilig, er verschärft die soziale Ungleichheit – und wird im allgemeinen auch nicht gezahlt. Erhellend ist der folgende Vergleich: „In Bangladesch belaufen sich bestimmte Mindestlöhne auf mehr als das Doppelte des Bruttosozialprodukts pro Einwohner, während etwa in Kanada der Mindestlohn nur einem Viertel des Bruttosozialprodukts pro Einwohner entspricht.“11
Allgemeiner gesagt, geht es darum „die Arbeit neu zu strukturieren“ und den „Reglementierungen“ überall ein Ende zu setzen: „Die Anpassungsfähigkeit der Arbeitsmärkte ist wichtig, damit die Arbeiter unverzüglich von einem Aufschwung profitieren können. Auch wenn das Wort ,Flexibilität‘ als Euphemismus verschrien ist, der für Lohnkürzungen und Entlassungen steht – eine erhöhte Flexibilität des Arbeitsmarktes ist äußerst wichtig für alle Regionen, die tiefgreifende Reformen durchführen wollen.“12
„Anpassung an die Weltwirtschaft“ – nur die hartnäckigen Kritiker wundern sich noch, daß einem dieser Slogan unablässig eingehämmert wird. So konnte es nicht ausbleiben, daß er seinen Weg bis in die Studien des Internationalen Arbeitsamtes (IAA) fand.13
Die jüngste dieser Studien betrachtet einerseits das herrschende Dogma als sakrosankt und erinnert andererseits zu Recht daran, daß die Schuldenkrise eine Folge dieses Dogmas gewesen ist: Sie wurde in den achtziger Jahren „durch den starken Zinsanstieg in den Vereinigten Staaten ausgelöst“, der „in den Entwicklungsländern ein beträchtliches Absacken der Produktion und des Lebensstandards zur Folge“ hatte. Und weiter: „Die gegenseitigen Abhängigkeiten werden wahrscheinlich mit der Globalisierung der Wirtschaft noch zunehmen.“14
Die Analysen des IAA stehen in deutlichem Gegensatz zu den allenthalben wiederholten Behauptungen über die schädlichen Auswirkungen von Mindestlöhnen, Soziallasten und anderen marktfeindlichen Vorschriften auf die Beschäftigungssituation. Solche „Ungeheuer“ bringen die Funktionäre und Sprecher der OECD und der internationalen Finanzinstitutionen um den Schlaf, obwohl doch eigentlich „die liberalen Vorstellungen vom wirtschaftlichen und sozialpolitischen Handeln in intellektuellen Kreisen unangefochten dominieren“.15 Aber auch die Analysen des IAA verstricken sich in unlösbare Widersprüche. Zunächst heißt es: „Die globale Ausdehnung der Wirtschaft bedeutet für die Staaten eine Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Autonomie. Ihr Einfluß auf Zinsen und Wechselkurse wird durch die Beweglichkeit des Kapitals beeinträchtigt, und die flexible Haltung der multinationalen Unternehmen hat die Möglichkeiten des Staates reduziert, Höhe und geographische Verteilung von Investitionen zu beeinflussen. Eine progressive Besteuerung der Einkommen und damit auch die Beibehaltung der hohen öffentlichen Ausgaben ist durch die umfassende Mobilität der Techniker und Facharbeiter schwieriger geworden.“
Vierzehn Zeilen weiter wird in der Studie behauptet: „Die Globalisierung der Wirtschaft zwingt die Staaten, der Wirtschaftspolitik Vorrang einzuräumen.“16 Es wäre unhöflich, den Verfassern zu unterstellen, daß ihnen dieser Widerspruch entgangen ist – denn gewiß haben wir es hier nur scheinbar mit einem Widerspruch zu tun. In der Tat wäre denkbar, daß die Staaten an Autonomie verloren haben und sich zugleich in der Wirtschaftspolitik aktiver zeigen ... insofern nämlich, als weltweit nur noch diejenige Politik als möglich und „wünschenswert“ gilt, die genau auf die Vorgaben der strukturellen Anpassung abgestimmt ist.
Wie die Globalisierung den Handlungsspielraum der nationalen Institutionen begrenzt, zeigt die Arbeitsgesetzgebung: Die Arbeitskraft soll ja genau so frei flottieren können wie Investitionen, Gewinne und Steuern. „Für die Regierungen wird es durch die Globalisierung schwieriger, strengere Arbeitsvorschriften in Kraft zu setzen. Solche Eingriffe bewirken fast zwangsläufig eine Erhöhung der Arbeitskosten und eine Verschiebung des Faktoreinkommens, was zu einer Verringerung der Gewinne und zu einer Erhöhung der Löhne führt. Mit erhöhter globaler Mobilität können die multinationalen Unternehmen diese Nachteile vermeiden, indem sie ihre Produktion an einen Ort mit niedrigen Arbeitskosten verlagern. (...) Bei Investitionsentscheidungen werden auch die Vorschriften der Arbeitsgesetzgebung und ihre Durchsetzung berücksichtigt – unter diesen Umständen besteht natürlich für die Regierungen die große Versuchung, die Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer entweder abzuschwächen oder Verstöße nicht zu verfolgen.“17
Der Tagesbefehl lautet unmißverständlich „Alles für das Kapital“: „Trotz einiger Vorstöße, die Frankreich und die Vereinigten Staaten zum Abschluß der Verhandlungen der Uruguay-Runde unternommen haben, werden die Rechte der Arbeiter in den Abkommen zur Gründung der Welthandelsorganisation an keiner Stelle erwähnt.“18 Ein wesentliches Element dieser Abkommen ist die Reduzierung der Macht der einzelnen Staaten und der demokratisch gewählten Volksvertretungen zugunsten der multinationalen Privatkonzerne, die den Ton angeben und immer mächtiger werden, ohne überhaupt noch Sanktionen fürchten zu müssen.
Das neue „öffentliche“ Recht, das sich auf diesem Wege herausbildet, ist tendenziell zuerst einmal privates Handelsrecht im Weltmaßstab.19 Wie jede juristische Konstruktion spiegelt es Interessen (oder einen Interessenkompromiß) wider, wenn auch natürlich nicht die Interessen der Arbeitnehmer oder der Arbeitsuchenden. Wenn es den Staaten freisteht, die von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) erarbeiteten Vereinbarungen zu ratifizieren oder nicht, und wenn sie nicht bestraft werden können, wenn sie sich – nach der Ratifizierung – nicht daran halten, dann werden im Gegenzug jene Gesetze, die von den „Märkten“ und für sie ausgearbeitet worden sind, zu einem wirklich allmächtigen und allgegenwärtigen Grundgesetz.
Hinzu kommt das immer häufigere Benutzen von Kommunikationssystemen, die jeder staatlichen Kontrolle entzogen sind: „Die zunehmende Nutzung des Internet könnte es Unternehmen und Einzelpersonen ermöglichen, sich der Besteuerung zu entziehen und ein quasi unterirdisches Wirtschaftssystem aufzubauen, das staatlichen Eingriffen und Reglementierungen mehr und mehr entzogen ist.“20
Schlankweg und ohne sich um irgendwelche Beweise zu bemühen, behauptet das IAA, daß „die Liberalisierung des Handels und die Strukturanpassungen geeignet sind, die Produktion weltweit zu optimieren und den allgemeinen Wohlstand zu erhöhen“, und betont, daß die „technologische Revolution“ die „grundlegende Ursache für die Probleme ist, die die ungelernten Arbeiter in den Industrieländern haben“. Diese „unvermeidliche und nicht zu bremsende“ Revolution vernichtet Millionen von Arbeitsplätzen, so wie es seinerzeit die Automatisierung in der Landwirtschaft getan hatte.21
Man kann dies für eine optimistische Einschätzung der Situation halten, wenn man will: Sie impliziert, daß die Arbeitsplatzverluste in der Industrie durch einen gleichzeitigen Ausbau der Dienstleistungen ausgeglichen werden. Nur baut auch der Dienstleistungssektor Arbeitsplätze ab, um der Konkurrenz standzuhalten und die Gewinne zu erhöhen, wenn sie gerade nicht damit befaßt ist, Spekulationsverluste aus den Bilanzen verschwinden zu lassen. Kann man es dann noch als Zufall bezeichnen, daß das Time Magazine in einem Dossier über Bill Gates, den neuen „Herren der Welt“, und sein Microsoft- Imperium nur zwei Zeilen über die Zahl der neuen Arbeitsplätze verliert, die durch den größten kapitalistischen Erfolg unserer Zeit geschaffen wurden? Zwei Zeilen, in denen lediglich gesagt wird, daß das Riesenunternehmen 16400 Menschen in 49 Ländern beschäftigt. Und Business Week erwähnt in einem langen Bericht über Texas Instruments die Zahl der (aktuellen und künftigen) Mitarbeiter mit keinem Wort.
Gleichzeitig zeigt man aber, wie das Unternehmen in den nächsten fünf Jahren seine Verkäufe um 160 Milliarden Dollar22 steigern will. Man beginnt zu verstehen, daß die Weltbank, ohne sich darüber größere Gedanken zu machen, die Beschäftigungsperspektiven in den Ländern des Nordens eher pessimistisch beurteilt. Aber wenn die Regierungen sich Mühe geben, wenn die Arbeitnehmer die richtigen Entscheidungen für ihre Kinder treffen und wenn die internationale Lage günstig ist, dann steht uns „ein weltweites Goldenes Zeitalter im 21. Jahrhundert bevor“. Sollte die Zukunft also doch im rosigen Licht erstrahlen?
Hingegen verliert man kein Wort über die künftige Stellung der Arbeit und der Freizeit in den reichen Gesellschaften; kein Wort über demographische Entwicklungen und das rasante Wachstumstempo der Städte (beides wird in den Anhang zu den Berichten verwiesen); kein Wort über die Beziehung zwischen Beschäftigung und den verschiedenen Möglichkeiten der Expansion; kein Wort über die politischen Bemühungen, die weltweite Spekulation in den Griff zu bekommen, denn gerade sie ist eine der Ursachen für den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Da liest man doch wenigstens gerne, daß mehrere tausend Microsoft-Mitarbeiter Dollar-Millionäre und zwei von ihnen sogar Milliardäre sind. Zumindest für sie gehört die „harte Wirklichkeit“ im Prinzip der Vergangenheit an.
dt. Christian Voigt
1 Weltbank, World Development Report 1995: Workers in an Integrating World, New York (Oxford University Press) 1995, 251 Seiten. Der französische Titel des von der Bank vertriebenen Resümees lautet: „Die Welt der Arbeit in einer Wirtschaft ohne Grenzen“. Die Bank stellt dem Text noch einen seltsamen Hinweis voran: „Die Weltbank garantiert nicht für die Exaktheit der in dieser Publikation enthaltenen Zahlen und ist nicht verantwortlich für die Konsequenzen, die sich aus ihrer Verwendung ergeben.“
2 Michael Lind, „To Have or Have Not. Notes on the Progress of the American Class War“, Harper's Magazine, New York Juni 1995. Über die neuesten offiziellen Statistiken: Keith Brasdsher, „U.S. Ranks First in Economic Inequality“, International Herald Tribune, 18. April 1995: „Das eine Prozent der reichsten amerikanischen Haushalte besitzt 40 Prozent des Nationalvermögens.“
3 Weltbank, a.a.O.
4 ebd., S. 54.
5 ebd., S. 59 u. 60 und: Jacques Decornoy, „Hors des transnationales, point de salut!“, Le Monde diplomatique, September 1993. Am 7. August 1995 begrüßte das Wall Street Journal Europe in einem Leitartikel die Entscheidung von Siemens, sich wegen der Lohnunterschiede in Newcastle und nicht in Dresden anzusiedeln, und stellte fest, daß es „keine nationalen Unternehmen mehr gibt, weil auch keine nationalen Märkte mehr existieren“.
6 Vgl. Guillermo Campos, „The New Tax Rule Threatening Multinationals“, The Wall Street Journal Europe, 22. Juni 1995.
7 Weltbank, a.a.O., S. 62, und: Internationales Arbeitsamt (IAA), „Die Beschäftigungssituation in der Welt 1995“, Genf (IAA) 1995, 223 Seiten, S. 52 ff.
8 Forschungsinstitut für die soziale Entwicklung der Vereinten Nationen, States of Disarray. The Social Effects of Globalization, Genf 1995, S. 154.
9 IAA, a.a.O., S. 8
10 Weltbank, a.a.O., S. 62 ff.
11 ebd., S. 74.
12 ebd., S. 109 u. 110.
13 IAA, a.a.O., insb. S. 182 ff.
14 ebd., S. 2.
15 ebd., S. 78.
16 ebd., S. 79.
17 ebd., S. 82. Diese Einschätzung findet man – schärfer formuliert – auch in dem Vorwort von Bill Jordan, dem Generalsekretär des Internationalen Verbandes freier Gewerkschaften (IVFG), zu: Rapport annuel sur les violations des droits syndicaux 1995, Brüssel (IVFG) 1995, 155 Seiten.
18 Vgl. Sophie Dufour, „La libéralisation des échanges mondiaux, et le respect des règles fondamentales en matière sociale: un bilan controversé“, Études internationales, Juni 1995, Universität Laval, Québec, Kanada.
19 Vgl. vor allem: Newsweek, 26. Juni 1995: „Does Government Matter? The State is Withering and Global Business is Taking Charge“.
20 Analyse der Nachrichtenagentur Reuter („On- Line Economy Leaves the State Out of the Loop“), die von der International Herald Tribune am 14. August 1995 übernommen wurde.
21 Internationales Arbeitsamt, Le Travail dans le monde 1995, Genf 1995, 133 Seiten, S. 95.
22 Time, 5. Juni 1995, Business Week, 7. August 1995.