15.09.1995

Die heimlichen Handelsbilanzen

zurück

Die heimlichen Handelsbilanzen

Von

JEAN

LEMPÉRIÈRE *

EINE neue Untersuchung der Weltbank zeigt, daß die Gesamtumsätze der ausländischen Tochtergesellschaften multinationaler Unternehmen den Gesamtwert der weltweiten Exporte übersteigen.1 Vor allem für die entwickelten Länder sind die von ausländischen Tochtergesellschaften der eigenen Unternehmen produzierten Industriegüter das beste Mittel zur Eroberung neuer Märkte. So übersteigen in den großen europäischen Ländern die Inlandsverkäufe der Tochtergesellschaften amerikanischer Industrieunternehmen die direkten Exporte der USA beträchtlich: 1992 betrugen sie in Deutschland das Dreifache, in Frankreich das Doppelte und in Großbritannien das 2,7fache der amerikanischen Exporte in diese Länder2 (siehe Graphik).

Auch wegen der Löhne, die ins Ausland überwiesen werden, ist die Auslandsproduktion mit den eigentlichen Exporten nicht direkt vergleichbar. Bei der Bewertung von Handelsbilanzen und bei Rückschlüssen über das Schrumpfen des transatlantischen Handels sollte man also bedenken, daß die Begriffe Import und Export nur einen bestimmten Teil des Handels zwischen in- und ausländischen Unternehmen erfassen. In unserem Zusammenhang werden nur die Tochtergesellschaften berücksichtigt, die Industrieprodukte herstellen, Handelsgesellschaften für lokale oder amerikanische Produkte, die bereits in der Zollstatistik erscheinen, taugen nicht für einen Vergleich mit den direkten Exporten.

Zu den Inlandsverkäufen der amerikanischen Tochtergesellschaften kommen ihre umfangreichen Lieferungen an Drittländer hinzu. (Bei den amerikanischen Tochtergesellschaften in den drei größten europäischen Ländern macht dies 37% der Gesamtverkäufe aus.) Die Verkäufe an Drittländer tauchen dann in den Handelsbilanzen als Exporte der Länder auf, in denen besagte Tochtergesellschaften registriert sind. 1992 haben amerikanische Tochtergesellschaften auf diese Weise 7% der französischen, 9,5% der deutschen und 14% der englischen Exporte getätigt.

Zwar sind im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung 60% davon Lieferungen zwischen den Tochtergesellschaften der jeweiligen amerikanischen Unternehmen.3 Aber um ein realistisches Bild der Handelsbeziehungen zu bekommen und politische Konsequenzen zu ziehen, muß man bei den Exporten der führenden Länder stets den Anteil ausländischer Produktion berücksichtigen.

Außerhalb Europas herrscht eine andere Situation. Das Ausmaß der amerikanischen Produktion in Kanada und vor allem in Japan ist zwar beträchtlich, bleibt aber unter dem der Direktimporte, und die Lieferungen der Tochtergesellschaften an Drittländer erreichen nur einen geringen Umfang.

Für viele europäische Firmen, die eine ähnliche Strategie verfolgen wie die Multis in den USA, ist der Aufbau einer eigenen Produktion in den Vereinigten Staaten die bevorzugte Methode zur Eroberung des Marktes. So übertrifft der Absatz der Tochtergesellschaften von Industrieunternehmen aus den großen europäischen Ländern in den USA bei weitem die Direktimporte aus den jeweiligen Ländern. 1992 waren die Verkäufe der dort sehr stark vertretenen britischen Unternehmen viermal höher als die Lieferungen aus Großbritannien. Für die französischen Unternehmen machten sie das 2,8fache und für die deutschen das 1,7fache der Importe aus Frankreich bzw. Deutschland aus.4

Trotz der Aktivitäten der japanischen und kanadischen Tochtergesellschaften in den Vereinigten Staaten (wo sie an zweiter und dritter Stelle stehen) bleiben ihre Verkäufe hinter den amerikanischen Importen aus Japan und Kanada zurück. Diese beiden Warenströme sind bei weitem die größten: Sie übertreffen die Importe aus den bestplazierten europäischen Ländern jeweils um mehr als das Dreifache.5

Ein Blick auf die Entwicklung der Umsätze zwischen 1987 und 1992 zeigt, daß in den USA die Tochtergesellschaften aus den Partnerländern jenseits des Atlantiks innerhalb von fünf Jahren einen spektakulären Durchbruch erzielt haben – eine Folge des Zuflusses von Direktinvestitionen in die Vereinigten Staaten am Ende der achtziger Jahre. In diesen fünf Jahren haben die japanischen Tochtergesellschaften ihre Verkäufe fast verfünffacht, während die französischen um 250%, die britischen um 83% und die deutschen um 61% zugelegt haben. Die Relationen zwischen der Produktion im Ausland und den Direktimporten aus den jeweiligen Ländern haben sich dadurch stark verschoben.

1992 übertrafen die Umsätze der Tochtergesellschaften aus den großen Partnerländern der USA die der amerikanischen Tochtergesellschaften in den jeweiligen Ländern: in Großbritannien um 54% und in Frankreich um 35%. Die Umsätze der japanischen Tochtergesellschaften waren dreimal so hoch. Die wichtigste Ausnahme ist Deutschland, wo der Absatz der amerikanischen Tochtergesellschaften, die mit 62,7 Milliarden Dollar weltweit die größten sind, den Absatz der deutschen Unternehmen in den Vereinigten Staaten um 20% übertroffen hat.

Natürlich umfaßt die Geschäftstätigkeit der ausländischen Tochtergesellschaften – vor allem in den entwickelten Ländern – auch Käufe bei einheimischen Firmen (Halbfabrikate, Einzelteile, Dienstleistungen). Diese Lieferungen an ausländische Tochtergesellschaften lassen sich nur annähernd schätzen, haben jedoch einen beträchtlichen Umfang gewonnen.6 Käufe bei einheimischen Firmen machen etwa 57% der Umsätze der ausländischen Tochtergesellschaften in den USA aus – bei den amerikanischen Tochtergesellschaften in Europa sind es zwischen 40% und 50%. Natürlich sind das nur Schätzungen, aber man sollte diesen Aspekt nicht übersehen: Die Lieferungen einheimischer Firmen an ausländische Tochtergesellschaften sind eine typische Begleiterscheinung der multinationalen Geschäftspolitik, die darauf zielen, ein spezialisiertes Netz zur Versorgung der großen Tochterunternehmen mit Produktionskomponenten zu schaffen. Der Anteil der Lieferungen seitens anderer ausländischer Unternehmen vor Ort bleibt dagegen in den USA relativ gering, zu den wenigen Ausnahmen gehören etwa die japanischen Automobilhersteller. Amerikanische Tochtergesellschaften wiederum tätigen deutlich weniger als 10% ihrer lokalen Käufe bei anderen amerikanischen Unternehmen.

Zwischen in- und ausländischen Unternehmen gibt es also drei eigenständige Arten des Handels – von jeweils beträchtlichem Umfang –, die man gesondert betrachten muß: die Ein- und Ausfuhren, die Verkäufe der Tochtergesellschaften im Ausland und, im jeweiligen Land, die Lieferungen inländischer Firmen an ausländische Tochtergesellschaften. Entscheidend ist also nicht, was in den Handelsbilanzen der einzelnen Länder auftaucht (erst recht, wenn man dabei den Handel zwischen den verschiedenen Tochtergesellschaften eines Unternehmens außer acht läßt), der größte Teil des Handels zwischen inländischen und ausländischen Firmen findet vielmehr auf dem Inlandsmarkt statt. Die enge Verflechtung der Volkswirtschaften ist unübersehbar, woraus klar hervorgeht, wie überholt die traditionellen Vorstellungen vom internationalen Handel sind.

Um ihre Bedeutung ermessen zu können, sollten die Käufe und Verkäufe der Tochtergesellschaften systematisch dokumentiert werden, was eine regelmäßige Datenerhebung voraussetzt. Die Veröffentlichung der Ergebnisse einer Erhebung, die von einigen französischen Dienststellen durchgeführt worden ist, wird daher mit großem Interesse erwartet.

dt. Christian Voigt

* Handelsberater

1 Weltbank, Global Economic Prospects and the Developing Countries, Washington D.C., April 1995; französische Ausgabe: „Les Perspectives économiques mondiales et les Pays en développement“, Paris (Économica) Juli 1995, 228 Seiten.

2 Vgl. U.S. Direct Investment Abroad 1992, veröffentlicht vom Büro für Wirtschaftsanalysen des amerikanischen Handelsministeriums. Die dort veröffentlichten Zahlen werden regelmäßig vom Survey of Current Business übernommen.

3 Diese firmeninternen Lieferungen machen 60% der Lieferungen an Drittländer, aber weniger als 5% der inländischen Verkäufe aus.

4 Diese Zahlen stammen aus einem anderen Bericht des amerikanischen Handelsministeriums: Foreign Direct Investment in the United States 1992.

5 Was Japan betrifft, so verändert sich die Situation beispielsweise im Automobilbereich, wo die Direktexporte kaum zunehmen, während der Anteil der Auslandsproduktion beschleunigt wächst.

6 Vgl. Survey of Current Business, Juni 1990 und Oktober 1993.

Le Monde diplomatique vom 15.09.1995, von Jean Lemperiere