15.09.1995

Das hat mit Gott nichts zu tun

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Das hat mit Gott nichts zu tun

Von

FRANÇOIS

NORMAND

MEINE Tochter lebt wie eine Gefangene. Sie ist behext wie die Angehörige einer Sekte“, berichtet Cécile Arnaud-Des Lyons. Wie für viele französische Familien, deren Kinder vom Opus Dei „festgehalten“ werden, ist auch für sie nun die Zeit gekommen, das Schweigen zu brechen.

„Anfangs waren wir sehr froh, daß unsere Tochter den Weg zum Opus Dei gefunden hatte“, sagt Frau Arnaud-Des Lyons, von deren sechs Kindern fünf beim Opus Dei gelandet waren. „Alle haben es inzwischen wieder verlassen, mit Ausnahme von Florence. Sie ist heute achtundzwanzig und hat mittlerweile acht Jahre beim Opus Dei verbracht. Sie hatte begonnen, in Grenoble Medizin zu studieren. Als sie damit nicht zurechtkam, fand sie Zuflucht beim Opus Dei. Unsere Tochter hat ein gutes Herz, aber sie besitzt kein Selbstvertrauen und wußte nicht, was sie wollte... Sie brauchte jemanden, der für sie entscheidet.“ So wurde sie zur leichten „Beute“ für das Werk Gottes, das ihr Schicksal rasch in seine Hände nahm. Heute ist Florence Krankenschwester in Paris. Ihre „neue Familie“ ist das Opus Dei.

Wie rekrutiert man junge Leute aus einem bürgerlich-katholischen Milieu, ohne daß aufgeweckte Köpfe, die über eine religiöse Bildung verfügen, den Schwindel gleich bemerken? „Ich war vierzehn und Schüler am Chaptal-Gymnasium in Paris“, erzählt Dominique. „Eines Tages nahm mich ein Klassenkamerad in einen Jugendklub mit. Wir wurden dort warmherzig begrüßt, und ein Prälat in Soutane war da, der alles ein wenig beaufsichtigte. Es wurden verschiedene Freizeitbeschäftigungen angeboten, und es gab einen Raum, in dem man sich bei den Schulaufgaben helfen lassen konnte. Religiöse Aktivitäten im eigentlichen Sinn wurden nicht durchgeführt, nur dann und wann ein besinnliches Gespräch.“

Mit der Zeit folgten Reisen nach Rom und Spanien, wo die Jugendlichen in einem der Zentren des Opus wohnten, auch Wochenendfahrten zum Schloß von Couvrelles. Hierhin zog man sich zurück, um sich im Schweigen zu üben. „Ein Laie, mit dem ich regelmäßig sprach, war zu meinem Beichtvater geworden. Man machte mich jetzt mit den Prinzipien des Opus Dei vertraut.“

Die meisten jungen Menschen stoßen durch Vermittlung eines Freundes zum Opus. Im Fall der neunundzwanzigjährigen Véronique Pair-Peccate war dies ein junger Supernumerarier (siehe oben Anmerkung 2), der ihr, als ihre Beziehung vertraulicher wurde, erst einmal ein Buch lieh: Sie sollte selbst das Charisma von Hochwürden Escrivà entdecken. Später bat er sie, mit einem Priester des Opus Dei zu sprechen, dem Abbé Pallais. „Ich liebte diesen jungen Mann und wollte ihn heiraten, aber ins Opus Dei eintreten wollte ich nicht“, sagt Véronique, denn inzwischen hatte sie einige Monate lang Gelegenheit gehabt, das Werk Gottes näher kennenzulernen, und wußte über das Leben in diesem Mikrokosmos Bescheid. Doch das eine ging nicht ohne das andere...

Die Trennung wurde bald unvermeidlich. Der Abbé machte ihr zunächst Vorwürfe: „Du bist zu weit gegangen, ihr kennt euch kaum...“, dann stellte er unangebrachte Fragen: „Er wollte wissen, ob ich Jungfrau sei, ob wir uns geküßt hätten oder wie wir uns sonst unsere Zuneigung zeigen würden.“ Später versicherte der Abbé, um sie über den Bruch hinwegzutrösten: „Du weißt, das einzige, was zählt, ist die Liebe zu Gott. Die Menschen werden dich enttäuschen, Gott nie.“ Véronique kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Häufig kam die Sprache auch auf das Thema „Leben“.

Der Priester des Opus Dei ermunterte Vŕonique sogar, sich dem Kampf von Claire Fontana anzuschließen, ihres Zeichens siebenfache Mutter und radikale Abtreibungsgegnerin, die die Organisation „Trêve de Dieu“ gegründet hat. „Das ist eine wunderbare Frau, die Aktionen in Krankenhäusern durchführt. Mit Menschenketten blockieren sie die Gänge, die zu den Operationssälen führen, so daß der Tag für die Abtreibungsärzte verloren ist. Danach werden sie vor Gericht gestellt, wo sie mutig ihre Tat verteidigen. Die Presse wird aufmerksam, und viele beginnen, über das Dogma vom Recht auf Abtreibung nachzudenken. Sie machen tolle Sachen. Wenn du Claire Fontana einmal kennenlernen willst, werde ich sie dir vorstellen.“

Der traditionalistische Katholik Arnaud de Lassus hat das Opus Dei eingehend studiert. Obwohl er selbst Mitglied der „Groupe d'action familiale et scolaire“ ist, deren Angehörige im rechten Spektrum der Kirche anzusiedeln sind, meint auch er, daß es im Werk Gottes „sektiererische Praktiken“ gibt. Um die katholischen Familien vor den Gefahren zu warnen, denen ihre Kinder dort ausgesetzt sind, hat er eine kleine Broschüre über die Aktivitäten und Methoden des Werks Gottes herausgegeben. Fünf Punkte, in denen die Vorstellungen des Autors im völligen Gegensatz zum Opus Dei stehen, verdienen es, festgehalten zu werden.

Das ist an erster Stelle der Umstand, daß die Organisation „maskiert“ vorgeht. „Sie wecken das Interesse von Familien, die nach einer sinnvollen Freizeitgestaltung für ihre Kinder suchen“, schreibt de Lassus. „Sie sind gut ausgestattet, und es herrscht eine gewisse Disziplin, aber es gibt auch andere Vorteile wie Skiausflüge oder Reisen ins Ausland. Diese Familien wissen nichts von den religiösen Zielen, die dahinterstecken. Wenn das Kind ihren Vorstellungen entspricht, wird es angeworben.“

Der zweite Vorwurf lautet: Das Opus Dei verführt das Kind zur Lüge. „Man sagt den jungen Leuten, daß sie darüber nicht mit den Eltern reden sollen. Ihre Berufung sei wie eine „zarte Blume“. Damit untergräbt man die Autorität der Eltern. Man kann sich ausmalen, daß es unter solchen Bedingungen viele falsche Berufungen gibt.“

De Lassus beklagt weiter, daß „den Mitgliedern fast jede Freiheit genommen wird“. Er nennt hier vor allem die Pflicht, bei einem Priester des Opus Dei zu beichten, was im Widerspruch zur Position der Kirche steht, die „immer für die freie Wahl des Beichtvaters war“.

Eine weitere „Gefahr“, auf die der Autor der Broschüre hinweist, betrifft die gesellschaftlichen Umtriebe des Opus Dei. „Bei ihnen wird zwischen Geistlichem und Weltlichem kaum unterschieden. Die Personen, die sie rekrutieren, gehören immer der intellektuellen Elite des Landes an. Sie bekleiden in ihrem bürgerlichen Leben oft sehr verantwortungsvolle Positionen, während das Opus sie durch ein Gehorsamsgelübde einer kirchlichen Macht unterstellt.“ Schließlich beklagt de Lassus daß das Werk in gewisser Weise „die Soziallehre der Kirche leugnet“.

Alle diese Argumente wiegen schwer. Die Mehrzahl der Familien, die den Aktivitäten des Opus Dei zum Opfer gefallen sind, wundern sich, daß die Kirche zu dieser sektiererischen Abweichung schweigt. Gleichwohl praktizieren sie selber ihren Glauben weiter. Wenn sich andere darüber wundern, antworten sie, wie Véronique Pair-Peccate: „Das ist normal, das Opus Dei hat mit Gott nichts zu tun...“

dt. Andreas Knop

Le Monde diplomatique vom 15.09.1995, von Francois Normand