15.09.1995

Japan überdenkt seine Bündnisse

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Japan überdenkt seine Bündnisse

HOCHSPANNUNG in Japan in diesem August: Der Archipel gedachte gerade der Bombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki, aber auch des Scheiterns seines verlustreichen imperialistischen Abenteuers, als Frankreich die Wiederaufnahme seiner Nukleartests ankündigte und China einen neuen Atomversuch unternahm. Diese Bedrohungen sowie zunehmend gespanntere Handelsbeziehungen zu den USA geben in Tokio einer Diskussion über die amerikanischen Sicherheitsgarantien und den Fortbestand der Bündnisse neue Nahrung.

Von SELIG S. HARRISON *

Im Laufe der letzten Monate wurde in Japan die Diskussion über Außenpolitik und Verteidigung, die seit dem Ende des Kalten Krieges langsam vor sich hin schwelt, durch drei wichtige Veränderungen weiter angeheizt.

Mit Abstand am wichtigsten ist die besonders aggressive Haltung der Vereinigten Staaten in bezug auf die Handelsprobleme. Die jüngste Androhung einseitiger Sanktionen gegen den Import japanischer Luxuswagen markiert eine deutliche Veränderung in den Beziehungen zwischen Washington und Tokio. Bisher hatten die Amerikaner eine größere Krise auf ökonomischer Ebene immer vermieden, um nicht das Militärbündnis zwischen beiden Ländern zu gefährden. Diesmal haben sie sich bedenkenlos dicht am Abgrund vorbei bewegt, um einen für sie annehmbaren Kompromiß zu erzielen. Die Botschaft ist klar: Das Militärbündnis wird Japan in Zukunft nicht mehr vor den wachsenden protektionistischen Tendenzen in den USA schützen.

Diese Wende fiel mit den Demonstrationen militärischer Stärke von seiten Chinas zusammen. Peking hat in den letzten Monaten zwei Nuklearversuche unternommen und Ende Mai zum erstenmal eine mobile Interkontinentalrakete getestet. Diese Manöver, zu denen auch noch territoriale Ansprüche im erdölreichen Südchinesischen Meer hinzukommen, haben in Japan die rechten „Falken“ beträchtlich gestärkt, die für eine atomare Bewaffnung sind, um der Bedrohung japanischer Interessen in Asien entgegenzutreten.

Unterstützt sahen sich die Anhänger der militärischen Unabhängigkeit Japans auch noch durch ein anderes Ereignis, dem wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden ist: dem technologischen Durchbruch bei den Satellitenprogrammen. Am 18. März 1995 hat Tokio erfolgreich seine H2-Rakete gestartet, die in ihrer Leistungsfähigkeit mit der Titan 3-D vergleichbar ist, einer der effizientesten Interkontinentalraketen der amerikanischen Armee. Sie kann eine Nutzlast von 4 Tonnen transportieren, während die stärkste der amerikanischen U-Boot-gestützten Raketen, die mit acht nuklearen Sprengsätzen ausgerüstete Trident D-5, nur 3 Tonnen tragen kann. Überrascht aber hat die Experten vor allem die Perfektionierung des Steuerungssystems, das erforderlich ist, um die von der H2 gestartete unbemannte Raumstation in ihre Umlaufbahn zu bringen und dort zu halten.

Von offizieller japanischer Seite wird betont, diese Raumstation ermögliche das Sammeln wertvoller wissenschaftlicher Informationen über die Entwicklung des Universums und über die Struktur unseres Milchstraßensystems. Doch die militärischen Implikationen dieser Forschungsprojekte sind unübersehbar, zumal Japan ein umstrittenes ziviles Atomprogramm aufgelegt hat, dessen Realisierung den Kauf bedeutender Mengen spaltbaren Materials einschließt; dieses Material könnte theoretisch auch für die Entwicklung eines militärischen Nuklearprogramms verwendet werden1.

In dem Fall hätte Tokio mehrere Optionen. Der beste Weg, Materialvorräte anzulegen, wären die Urananreicherungstechniken. Ein anderes relativ einfaches Verfahren: die erhöhte Produktion von hochwertigem Plutonium aus den Reaktoren Monju und Joyu, das ideal zur Waffenproduktion geeignet ist. Ein anderer Weg, komplizierter, aber realisierbar, bestünde darin, die Plutoniumsqualität mittels einer Isotopentrennung durch Laser auf das Niveau militärischer Nutzung anzuheben, was bereits in kleinem Maßstab erprobt worden ist.

Und schließlich gehen die meisten Experten von der, wenn auch noch umstrittenen, Annahme aus, daß das Reaktorplutonium auch ohne Konversion zu militärischen Zwecken genutzt werden kann. Aber diese Option wäre ziemlich uninteressant und kostspielig. Die Verwendung solchen Plutoniums zur Waffenproduktion würde starke Hitze erzeugen und eine hohe Strahlengefährdung mit sich bringen. Hinzu kämen noch technische Probleme, die erhebliche Veränderungen in der Konzeption der von den Nuklearmächten bislang entwickelten Waffen erfordern würden.

Bei einem vertraulichen Treffen am 3. Mai dieses Jahres in Washington haben mehrere sehr bedeutende Wissenschaftler, die an den ersten Etappen des amerikanischen Nuklearprogramms beteiligt waren, dargelegt, daß die Sprengkapazitäten von Reaktorplutonium durch zwei Versuche in den Vereinigten Staaten erwiesen seien. Sie haben darauf aufmerksam gemacht, daß die Lagerung dieses Materials im Hinblick auf zivile Atomprogramme äußerst gefährlich sei, weil Terroristen in dessen Besitz gelangen und es verwenden könnten, nicht aber, weil ein so hochentwickeltes Land wie Japan es möglicherweise nutzen würde.

Nordkorea, Südkorea und China beobachten die Entwicklung der in Japan angesammelten Plutoniumvorräte aus nächster Nähe und äußern häufig Zweifel in bezug auf die Absichten der Japaner. Nach neuesten Schätzungen der Atomenergiekommission in Tokio beträgt der Lagerbestand an wiederaufbereitetem Plutonium in Japan 4,7 Tonnen, und 6 weitere Tonnen befinden sich noch in britischen und französischen Wiederaufbereitungsanlagen. Der lokale Bedarf an Plutonium für die bestehenden und im Bau befindlichen oder geplanten Reaktoren einerseits und die Menge an wiederaufbereitetem Plutonium anderseits werden sich innerhalb der nächsten zwanzig Jahre im Gleichgewicht halten. Die Lagerbestände werden sich auf das für den reibungslosen Betrieb der Reaktoren notwendige Mindestmaß beschränken.

Offiziellen japanischen Vertretern zufolge, die wir kürzlich befragt haben, werden nie mehr als zwei Tonnen auf Vorrat gelagert. Aber das Tokioter Zentrum zur Information der Öffentlichkeit über Atomenergie sieht Verzögerungen beim Bau der schnellen Brüter voraus, die eine Lagerhaltung von mindestens 50 Tonnen im Jahr 2010 nach sich ziehen wird. Wo auch immer die Wahrheit liegt, in einem Punkt sind sich die meisten Experten einig: rund 10 Kilo spaltbaren Materials reichen aus zur Herstellung einer Nuklearwaffe.

Besteht wirklich die Gefahr, daß Japan eine militärische Supermacht mit eigenem Nukleararsenal zu werden versucht? Der Schock, den die Bombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki auslösten, ist noch längst nicht überwunden, und die öffentliche Meinung ist weiterhin massiv gegen ein militärisches Atomprogramm. Empfindungen dieser Art kamen bei den Gedenkfeierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkriegs deutlich zum Ausdruck. Aber das psychologische Erbe der Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki ist vielschichtig.

Während einige meinen, Japan habe als einziges Opfer der Atombombe eine besondere Verantwortung, für die Abschaffung der Nuklearwaffen einzustehen, versuchen die „Falken“, sich die Gefühle der Wut und Erniedrigung, die dieser Status des „Märtyrers“ ausgelöst hat, zunutze zu machen. Sie sind der Ansicht, daß nur der Besitz der Bombe Japan erlauben wird, sich gegen die Einschüchterungen durch die USA, besonders im Handelsbereich, zur Wehr zu setzen. Die Äußerungen Präsident William Clintons im April, mit denen er den Einsatz der Atombombe 1945 rechtfertigte2, sind von offizieller japanischer Seite mit betroffenem Schweigen aufgenommen worden, haben aber Verstimmungen mit bitterem Nachgeschmack bei den verschiedenen amerikanisch-japanischen Begegnungen hervorgerufen.

Die japanischen Reaktionen auf die kürzliche Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags waren zwiespältig.3 Während die Regierung die schließlich angenommene amerikanische Vorstellung einer unbegrenzten Verlängerung des Vertrags unterstützte, wandten die Kritiker von rechts wie links ein, dieses Papier legitimiere das Monopol der Länder, die im Besitz der Waffe seien.

Das Erbe von Hiroshima

EIN Sprecher der japanischen Regierung versicherte, Tokio werde bei den Atommächten darauf bestehen, daß sie ihr Waffenarsenal reduzierten und zerstörten, so wie es in der Grundsatzerklärung der Konferenz über die Verlängerung des Vertrags in New York im vergangenen April festlegt worden sei. Aber als Verbündeter der Vereinigten Staaten zögert Japan, allzu viel Druck in dieser Richtung auszuüben.

Jahrzehntelang war die Hauptbegründung für das amerikanisch- japanische Bündnis, der nukleare „Schutzschild“ schütze den Archipel vor den chinesischen und russischen Raketen sowie vor einer Bedrohung durch Nordkorea. Bereits während des Kalten Krieges hatte dieses Argument mehr und mehr an Glaubwürdigkeit verloren. Viele japanische Strategieexperten stellten sich die Frage, ob die Vereinigten Staaten zur Rettung ihres Landes wirklich einen Atomkrieg mit Moskau und Peking riskieren würden. Die gegenwärtigen Bemühungen Washingtons um die Installierung eines Raketenabwehrsystems im Fernen Osten, das hauptsächlich von Japan finanziert werden soll, hat diese Zweifel bestärkt. Obwohl das vorgeschlagene System das amerikanische Engagement in der Nuklearverteidigung nicht grundsätzlich in Frage stellt, überwiegt der Eindruck, daß die Vereinigten Staaten sich tatsächlich des Abschreckungskonzepts aus der Zeit des Kalten Kriegs elegant zu entledigen versuchen.

Das Raketenproblem könnte Spannungen zwischen Tokio und Washington hervorrufen und löst in Peking bereits Unruhe aus. Die Vereinigten Staaten wollen die Aufstellung eines gemeinsamen Systems, um den Schutz ihrer Militärbasen in Japan zu sichern. Viele japanische „Falken“, die sehr wohl Anhänger einer Raketenabwehr sind, drängen hingegen darauf, daß ihr Land ein eigenes System aufstellt, um so die amerikanische Beteiligung und Kontrolle zu verringern. Aus der Sicht Pekings legt die Aufstellung japanischer Raketen, mit oder ohne Hilfe der Vereinigten Staaten, die Annahme nahe, daß sich Japan, nachdem es die Bedrohung durch einen chinesischen Gegenschlag abgeschwächt hat, mit der Fähigkeit zum atomaren Erstschlag ausrüsten will.

Viele Japanerinnen und Japaner fragen sich sogar, ob die Amerikaner bereit wären, sich in einem klassischen Krieg zwischen ihrem Land und den Nachbarländern zu engagieren. Das Bündnis beruhte nicht vorrangig auf militärischen Überlegungen, sondern war vielmehr wesentliches Element eines Tauschhandels: Als Gegenleistung für einen privilegierten Zugang zum amerikanischen Markt lieferte Japan den Vereinigten Staaten Militärbasen und einen militärischen Zugang nach Asien. Aber die Verhärtung der Handelspolitik durch Präsident Clinton hat diesen Pakt ins Wanken gebracht. Bestehen bleibt eine diffuse Theorie, der zufolge die privilegierten Beziehungen den Interessen Japans in Asien dienen, da sie zur Stabilisierung der Region beitragen. Genau dieser Gedanke aber löst viel Kritik in den Vereinigten Staaten aus, denn so gesehen diene das Bündnis nur dazu, „Asien sicherer zu machen für japanische Investitionen“.

Im japanischen Parlament wird die Sicherheitsdiskussion von der Frage beherrscht, welchen Preis Japan zahlen müßte, um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UNO zu bekommen. Die „Falken“ versuchen eine – und sei es nur implizite – Verpflichtung zum Verzicht auf Nuklearwaffen zu vermeiden, und die „Tauben“ wollen sichergehen, daß dieser Sitz ihr Land nicht zwingt, sich an den Einsatzkräften für die friedenerhaltenden Maßnahmen der Vereinten Nationen zu beteiligen. Bis heute hat das Parlament lediglich die Teilnahme an einer begrenzten Anzahl von nichtbewaffneten Einsätzen in Kambodscha, Zaire und Mosambik gebilligt.

Da sich der Handelskonflikt immer mehr verschärft, werden Washington und Tokio eine Entscheidung über die Zukunft ihrer Beziehungen treffen müssen. Kürzlich erklärte Winston Lord, der stellvertretende Staatssekretär für Angelegenheiten in Fernost und im Pazifikraum: „Wir haben unser Sicherheitsbündnis und unsere Handelskonflikte voneinander getrennt.“ Aber er mußte zugeben: „Wenn man sich nicht darum kümmert, könnten die Reibereien in den Wirtschaftsbeziehungen unsere Beziehungen insgesamt in Mitleidenschaft ziehen.“

Einer der populärsten Lösungsvorschläge bei den Überlegungen, einen Ersatz für das Bündnis mit Amerika zu finden, ist die Intensivierung der Beziehungen zu China. Diese Position wird von einer bedeutenden Fraktion unter den Bürokraten, Abgeordneten und Wissenschaftlern vertreten, die den Standpunkt „Asien zuerst“ auf ihre Fahnen geschrieben haben. Den Verfechtern dieser Auffassung zufolge sollte sich Japan nicht in ein kostspieliges Wettrüsten mit Peking stürzen, sondern mit seinem riesigen Nachbarn gemeinsam daran arbeiten, ein Gegengewicht zur Macht der Vereinigten Staaten, Rußlands und des vereinigten Koreas zu bilden. „Wenn die privilegierten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten ein Ende nehmen“, schreibt Tetsuya Kataoka, ein hervorragender Politikwissenschaftler, „wird Japan eine Verbindung mit China suchen und damit einen Militär- und Handelsblock von gewaltigen Ausmaßen schaffen.“

dt. Sigrid Vagt

1 Vgl. Selig S. Harrison, „Surenchères nucléaires entre Tokyo et Washington“, Le Monde diplomatique, September 1993.

2 Vgl. Kai Bird, „Die Bombe als Sinnstiftung“, Le Monde diplomatique (dt.), August 1995.

3 Vgl. die Dokumentation über den Atomwaffensperrvertrag in Le Monde diplomatique, April 1995.

* Forscher, Carnegie Endowment for International Peace, Washington. Autor, zusammen mit Diego Córdovez, von „Out of Afghanistan“, New York (Oxford University Press) 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.09.1995, von Selig S. Harrison