15.09.1995

Die Stunde der Unabhängigkeitsbewegung

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Die Stunde der Unabhängigkeitsbewegung

DIE französischen Atomversuche haben den Autonomiebewegungen in Französisch-Polynesien starken Auftrieb gegeben: Geschickt hat Oscar Temaru, der charismatische Führer der Unabhängigkeitspartei Tavini Huiraatira, die Anwesenheit der Anti-Atom-Bewegten und der internationalen Medien genutzt, um die Weltöffentlichkeit für die Sache der polynesischen Unabhängigkeit zu sensibilisieren. Doch das politische Programm von Temarus Partei ist zu diffus, um eine Wählermehrheit zu gewinnen.

Von JEAN-MARC REGNAULT *

Jacques Chirac und seiner Entscheidung, die Atomversuche wieder aufzunehmen, haben es die polynesischen Unabhängigkeitsverfechter zu verdanken, daß die Weltöffentlichkeit auf sie aufmerksam geworden ist. Die Bilder des Greenpeace-Schiffes mit ihrem Führer Oscar Temaru an Bord sind um die Welt gegangen. Der Mythos vom irdischen Paradies drängt zuweilen die Existenz der nach 1945 entstandenen Bewegungen für Autonomie oder Unabhängigkeit (Begriffe, die sich kaum voneinander abgrenzen lassen) in den Hintergrund. Seit 1983 gibt es eine Partei, die sich von allen anderen unterscheidet: die Tavini Huiraatira (was soviel heißt wie „dem Volke dienen“), mit Oscar Temaru an der Spitze.

Als Pouvanaa a Oopa (1895–1977) 1947 die Losung „Tahiti zuerst und für die Tahitianer“ ausgab, war das unmittelbare Echo groß. 1949 wurde Pouvanaa Deputierter. Es folgte die Gründung des Rassemblement démocratique des populations tahitiennes (RDPT). Ging es um Autonomie oder Unabhängigkeit? Auf maohi kann „tiamaraa“ beides bedeuten. Auch muß man die Bedeutung der Religion in der Lokalpolitik berücksichtigen: Pouvanaa zitierte ständig die Bibel. Theorien spielten keine Rolle: Er war ein Führer, dem man folgte.

Nach Pouvanaas Verhaftung1 im Oktober 1958 und seiner Verurteilung lähmte die Furcht vor Repressionen seine Anhänger. 1963 gab Frankreichs Ankündigung, seine Atomversuche in die Südsee zu verlegen, der Opposition gegen die französische Präsenz erneuten Auftrieb.2 Mehr als zehn Jahre lang stärkten die Proteste gegen die Testversuche auch die Autonomiebestrebungen. Die Abgeordneten John Teariki und Francis Sanford, die zu jener Zeit die Politik bestimmten, verwendeten allerdings den französischen Ausdruck für Unabhängigkeit, den sie später verwarfen, um erneut auf ihn zurückzukommen... Sanford räumte ein, daß er im Falle einer plötzlichen Schließung des Centre d'expérimentation du Pacifique (CEP) – unter dessen Ägide die französischen Atomwaffentests durchgeführt werden – in die mißliche Lage käme, den Tausenden dort beschäftigten Tahitianern eine neue Arbeit geben zu müssen.

Mit ihrem diffusen Programm verlor diese politische Klasse in den siebziger Jahren ihre Glaubwürdigkeit. Aus dieser Situation heraus entstanden mehrere Unabhängigkeitsparteien. Sie wurden überwiegend von Schwärmern oder Konservativen gegründet (wie die von Nachfahren der Könige von Tahiti geführte Pomaré Parti). Zwar kam es zu einigen tragischen Zwischenfällen (1977 wurde das Postamt von Papeete gesprengt und ein Marineoffizier ermordet), aber die Spannungen erreichten nie das Ausmaß der Unruhen in Neukaledonien. Nur zwei dieser Parteien war ein gewisser Erfolg beschieden: der Ia Mana te nunaa („Das Volk soll die Macht ergreifen“) und der bereits erwähnten Tavini Huiraatira.3

1975 propagierte die Ia-Mana-Partei zwei erstaunliche Optionen: Laizismus (als einzige Partei beginnt sie ihre Sitzungen nicht mit einem Gebet) und Sozialismus (und das in einer Gesellschaft, die wesentlich über Verwandtschafts- und Klientelstrukturen funktioniert). An erster Stelle stand jedoch die Verteidigung der Kultur und der Sprache. Die Partei ging davon aus, daß das CEP den Identitätsverlust der Polynesier verstärkt hatte. Im Dezember 1978 optierte sie für die Unabhängigkeit, unterstrich aber, daß diese keinen Selbstzweck darstelle.

In ihrer Ideologie und Organisationsform ließ sich die Ia-Mana-Partei allerdings aus ausländischen Quellen inspirieren: von der Selbstverwaltung in Algerien und Jugoslawien, wie auch vom Vorbild Amilcar Cabrals, des Unabhängigkeitsführers von Guinea-Bissau. Zu den Schwächen ihrer Analysen kamen taktische und strategische Fehler. Die Unterstützung für Präsident Mitterrand zahlte sich nicht aus: Die Atomversuche wurden fortgesetzt, und von der gewährten inneren Autonomie profitierte die politische Klasse mehr als das Volk. Und wo sollte die Ia Mana ihre Wählerinnen und Wähler finden, wenn sie alles attackiert: die Kirchen, das System des „permanenten Beistandes“, die „kleinen Potentaten“ in Gestalt der Bürgermeister, und auch noch den tahitianischen Mythos – „Was ist Tahiti, wenn nicht die Hure vom Pazifik?“

Nach den Wahlen von 1982 entsandte die Partei drei Abgeordnete in die Territorialversammlung, wobei ihre Kandidaten freilich nur knapp 9 Prozent der Stimmen errangen. Die Partei verweigerte jedes Bündnis, änderte jedoch 1987 ihre Taktik. Im Machtkampf zwischen Gaston Flosse4 und Alexandre Léontieff (ein weiterer Abgeordneter des RPR) koalierte sie mit letzterem in einer sehr heterogenen Mehrheitsregierung. Als Jacques H. Drollet aus ihren Reihen Gesundheitsminister wurde, saß die Ia-Mana-Partei in der Falle. Vorher in der Opposition zur Untätigkeit verurteilt, war sie nun in der Regierung schärfster Kritik ausgesetzt. Bei den Territorialwahlen vom 17. März 1991 erlitt die Partei eine Niederlage: kein Sitz im Parlament, 2 Prozent der Stimmen auf den Inseln unter dem Wind (dem bevölkerungsreichsten östlichen Teil der Inselgruppe). Heute zählt sie nur mehr ein Häufchen aktiver Mitglieder (die ihre Sitzungen mit einem Gebet beginnen). Letztlich ziehen die Polynesier und Polynesierinnen wohl einen Regierungschef (Gaston Flosse) vor, der aufgrund seiner guten Beziehungen zu Frankreich Gelder zu beschaffen verspricht, oder einen anderen Typus (Oscar Temaru), der mit der Unabhängigkeit „eine glorreiche Zukunft“ verspricht.

Das Kreuz mit den Fremden

IM Jahre 1977 gründete Temaru die polynesische Befreiungsfront (nunmehr Tavini Huiraatira genannt). In den ersten fünf Jahren erzielte er nur schwache Wahlergebnisse. 1983 aber boten die Gemeinderatswahlen von Faaa, der größten Kommune, eine unverhoffte Chance. Beim zweiten Durchgang gab es nur noch vier Wahllisten. Temaru, der seine Kampagne auf kommunale Probleme zugeschnitten hatte, gewann mit 36 Prozent der Stimmen.

Als populärer Bürgermeister wurde er bald zum Vertreter der marginalisierten Bevölkerung. 1989 und 1995 wurde er mit fast 70 Prozent der Stimmen wiedergewählt und legte seine independentistischen Überzeugungen offen. Der Größe seiner Gemeinde verdankte die Partei bei den Territorialwahlen von 1986 zwei und 1991 vier Sitze. 1993 hoffte Temaru unter günstigen Vorbedingungen auf ein Abgeordnetenmandat, wurde aber im zweiten Durchgang mit 44,3 Prozent der Stimmen knapp geschlagen. Daß das gute Ergebnis in erster Linie mit der Persönlichkeit Temarus zu tun hatte, zeigte sich auch daran, daß der independentistische Kandidat im anderen Wahlkreis weniger als 15 Prozent der Stimmen erhielt.

Die Partei hat klassische Forderungen Polynesiens wieder aufgegriffen, sie aber gleichzeitig radikalisiert. Die Unabhängigkeit ist Kernstück des Parteiprogramms („die Freiheit der Maohi-Nation muß um jeden Preis vom fremden französischen Okkupanten, dieser niederträchtigen Kolonialmacht, zurückerobert werden“), was Verhandlungen mit Frankreich über Kooperationsverträge allerdings nicht ausschließe.

Die Forderung entbehrt nicht eines gewissen Messianismus (Emblem der Partei ist das Kreuz mit der Inschrift „Gott ist mein Gebieter“). Die Partei lehnt die Europäische Union total ab und sieht in ihr „den neuen Kolonialherren“. Auch ist sie rigoros gegen die französische Staatsbürgerschaft, was ihre Stimmenthaltung bei den französischen Präsidentschaftswahlen erklärt. Die Tavini-Partei wendet sich vehement gegen diejenigen Mitbürger, die sie Hoo ai'a nennt („Die ihr Vaterland verkaufen“). Am liebsten würde sie selbst bestimmen, wer Polynesier ist und wer nicht, doch manche Parteimitglieder fordern auch, man müsse die „anderen“, soweit sie „Polynesien lieben“, doch akzeptieren.5 Das unabhängige Polynesien würde die Tavini in „Ao Maohi“ („die Maohi-Welt“) umbenennen. Der Erfolg der Partei erklärt sich aus der Persönlichkeit ihres Vorsitzenden (ein warmherziger, unprätentiöser Charakter), mehr aber noch aus der Tatsache, daß er sich nicht auf schwierige Themen einläßt. Im Gespräch stellt Temaru klar, daß er „eher Sozialist als Kapitalist“ sei; die (dem Volk unbekannten) Statuten sehen Verstaatlichungen und eine Ausdehnung der Sozialleistungen vor. Die Partei versichert, die Unabhängigkeit würde dem Volk einen Überfluß an Gütern und einen der polynesischen Tradition angemessenen Lebensstil bescheren.

Temaru verschreckt die Bevölkerung mit seinen apokalyptischen Schilderungen der Situation in Moruroa (wie die korrekte Bezeichnung des meist Mururoa genannten Atolls lautet) und mobilisiert sie gegen Bauprojekte, die an den realen Bedürfnissen der Polynesier und Polynesierinnen vorbeigeplant seien; ein für die Errichtung eines Luxushotels vorgesehenes Grundstück wird seit mehreren Jahren besetzt.

Wie soll man die tatsächlichen Ausmaße von Temarus Anhängerschaft einschätzen? Wenn man nur die Inseln Tahiti und Moorea berücksichtigt (75 Prozent der Bevölkerung), zeigt sich, daß bei den Territorialwahlen von 1982 die sechs für die Unabhängigkeit eintretenden Listen 16 Prozent der Stimmen erzielten, wobei allein auf die Ia-Mana-Partei 10,7 Prozent entfielen (auf die Tavini-Partei weniger als 1%). Bei den Wahlen von 1991 blieb das Gesamtergebnis für die sechs Listen unverändert, allerdings fiel die Ia Mana auf 2 Prozent zurück, während nun die Tavini-Partei den größten Anteil von 13,8 Prozent erhielt. Die magische Schwelle von 16 Prozent Wählerstimmen für die Unabhängigkeit ist offenbar sehr schwer zu überwinden, sieht man einmal von den untypischen Parlamentswahlen von 1993 ab. Die Kommunalwahlen von 1995 brachten keine neuen Erfolge, obwohl zwischen den beiden Wahlgängen die Wiederaufnahme der Atomversuche angekündigt worden war.

Trotz ihrer Schwächen hat die Tavini- Partei einige Trümpfe in der Hand. Vor allem profitiert sie von den Enttäuschungen, die das kolossale demographische Wachstum mit sich gebracht hat: Zwischen 1965 und 1995 ist die Zahl der Wahlberechtigten um das 3,3fache gestiegen, und die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen hat enorm zugenommen. Die Partei kann auch mit der Sympathie der protestantischen Kirche rechnen (obgleich Temaru Katholik ist), die – von englischen Missionaren gegründet – die Nostalgie nach der angelsächsischen Welt nährt. Nicht zufällig war es ein Pastor, der an Bord der „Rainbow Warrior“ verkündete: „Man kann nicht Atomgegner sein, ohne gleichzeitig antifranzösisch zu sein“ (La Dépêche de Tahiti vom 17. Juli 1995). Auch die angelsächsischen Territorien des Südpazifiks scheinen die Unabhängigkeitsbewegung zu unterstützen. Allerdings reichte diese Unterstützung bisher nicht aus, um Temarus Forderung durchzusetzen, daß Französisch-Polynesien auf die UNO-Liste der zu entkolonialisierenden Länder gesetzt werden müsse.6

So blieb es schließlich dem französischen Präsidenten Jacques Chirac vorbehalten, der Tavini-Partei Schützenhilfe zu leisten und ihr neue, vielversprechende Aussichten zu eröffnen. Die Wiederaufnahme der Atomversuche hat einen Widerstand ausgelöst, der weit über die traditionelle Anhängerschaft der Partei hinausreicht. Dies haben die jüngsten Demonstrationen in Papeete bewiesen, auch wenn einige Anti-Atom-Gruppen sich dort gegen die Unabhängigkeitsbewegung abzugrenzen versuchten.7

dt. Andrea Marenzeller

1 Seine Gegner behaupteten, er habe aus Rache für seine Niederlage beim Referendum von 1958 in Papeete einen Aufruhr anstiften wollen (Pouvanaa hatte beim Referendum ein „Nein“ empfohlen).

2 Vgl. mein Buch: „La Bombe française dans le Pacifique. L'implantation: 1957–1958“, Éditions Polymages-Scoop, Papeete 1993.

3 Vgl. meine Publikation: „Des partis et des hommes en Polynésie française, Band 1, Éditions Haere Po No Tahiti, Papeete 1995.

4 Gaston Flosse ist seit über 20 Jahren Präsident des Tahoeraa Huiraatira, einer dem RPR assoziierten gaullistischen Partei. Ursprünglich ein Gegner der Autonomie, schloß er sich 1980 dieser Idee an. Flosse beherrscht das politische Leben des Territoriums. Er war von 1984 bis 1987 Regierungschef und hat diese Position seit 1991 wieder inne.

5 Diese humanistische Position vertritt etwa der Regierungsberater der Tavini-Partei (und einer ihrer Köpfe), Patrick Leboucher.

6 Oscar Temaru hatte sich am 8. Oktober 1990 an die mit der Entkolonisierung befaßte vierte Kommission der Vereinten Nationen gewandt.

7 So die Tireo-Partei von Jean-Marius Raapoto (6,6 Prozent der Stimmen auf den Inseln unter dem Wind).

* Dozent am Universitätszentrum von Französisch-Polynesien, Faaa

Le Monde diplomatique vom 15.09.1995, von Jean-Marc Regnault