15.09.1995

Chinas Einheit in Gefahr

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Chinas Einheit in Gefahr

WIE der Machtkampf zwischen den Nachfolgern von Deng Xiaoping auch immer ausgehen wird, die zukünftige chinesische Führung wird ein gigantisches Problem zu lösen haben: Das zunehmende soziale und regionale Gefälle – Folge der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzpolitik – bedroht ernsthaft die Einheit des Landes. Wie aber kann der Zusammenhalt der Gesellschaft wiederhergestellt werden, wenn die Logik der eingeleiteten Entwicklung genau in die Gegenrichtung weist?

Von GUILHEM FABRE *

In den letzten fünfzehn Jahren hatte China die höchste Wachstumsrate in der Dritten Welt. Die Integration des Landes in den Weltmarkt hat dabei eine zentrale Rolle gespielt: China konnte seine spezifischen Vorteile nutzen und wurde zu einem der Hauptakteure innerhalb der sich in Asien durchsetzenden Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Ländern.

Der Westen, der im Handel mit Japan und den neuen Industrieländern des Fernen Ostens riesige Defizite verzeichnen mußte, hat 1985 im Rahmen des Plaza- Abkommens auf eine Aufwertung des Yen gedrängt, der wenig später die des südkoreanischen Won und des taiwanischen Dollar folgte. In der Folge sank die Wettbewerbsfähigkeit bei den Exporten, was sich in Japan wie in den neuen Industrieländern für viele Unternehmen existenzbedrohend auswirkte. Personalintensive Produktionsbereiche mit geringer Wertschöpfung (Bekleidung, Spielzeug, Unterhaltungselektronik) wurden nach Südostasien und nach China verlagert, wo es genügend fügsame und billige Arbeitskräfte gab.

Zur gleichen Zeit richteten die vier „Tiger“-Länder (Hongkong, Singapur, Taiwan und Südkorea) ihre Volkswirtschaften auf Produkte mit hoher Wertschöpfung und hohem technologischen Niveau aus. Mittels der ausgelagerten Produktionsbereiche exportierten sie aber gleichzeitig immer noch große Warenmengen nach Nordamerika und Europa.1

China ist der hauptsächliche Nutznießer dieser wirtschaftlichen Integration Asiens, durch die die enge Verflechtung des Landes mit Hongkong und Taiwan weiter verstärkt wird. Die Schaffung einer chinesischen Wirtschaftszone ist einer der wichtigsten Faktoren bei der wirtschaftlichen Expansion, die auf einer Politik der Öffnung basiert: Der Anteil des Außenhandels am Bruttoinlandsprodukt schwankt in den verschiedenen Schätzungen zwischen 18 und 26 Prozent. Dieser Prozentsatz ist mindestens ebenso hoch wie der japanische (18%) und liegt deutlich über dem vergleichbarer Länder, die eine große Bevölkerungszahl und bedeutende Ressourcen haben (Indien: 14%; Vereinigte Staaten: 16%; Brasilien: 12%).2 1980 stand China an 31. Stelle unter den Exportnationen, heute an 11. Stelle.

Die Anziehungskraft für Investitionen vor allem aus Hongkong und Taiwan und das auf dem Export basierende Wachstum sind eine Konsequenz der bisher unternommenen Reformen, die dem Abbau der Planwirtschaft, der Dezentralisierung und der Förderung der nichtstaatlichen Sektoren und der Märkte gelten. Aber trotz der positiven Ergebnisse, die sich am Rückgang der Armut ablesen lassen, läuft diese Entwicklung Gefahr, nicht von Dauer zu sein, denn sie ist von einem sozialen Zerfallsprozeß und einer regionalen Desintegration begleitet.

Das Durchschnittseinkommen der 900 Millionen Landbewohner (75% der Bevölkerung) beträgt höchstens ein Viertel des Einkommens der Stadtbewohner – die staatlichen Zuschüsse mitgerechnet, in deren Genuß letztere kommen. Dadurch wird die Ausdehnung der Städte beschleunigt, die Entstehung einer zweigeteilten Gesellschaft in den Städten begünstigt und das Wachstum des inländischen Marktes eingeschränkt, weil die Kaufkraft der Bauern abnimmt und die Sparguthaben sich in den Städten konzentrieren.3

Ein „konfliktives Wachstum“

ZU diesen Ungleichheiten tragen auch die ausgeprägten Unterschiede zwischen Rand- und Küstenregionen bei. In den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren hat die Staatsführung versucht, die Vorrangstellung der Küstenregionen zu beseitigen, indem man die Gebiete im Landesinnern industrialisierte und Verbindungen zum Rest des Landes schuf. Die Strategie der achtziger Jahre, die auf der Förderung des Exports basierte, hat hingegen die Küstenregionen begünstigt und darauf gesetzt, daß auch die Gebiete im Innern von dieser Entwicklung profitieren würden. Gleichzeitig schränkte aber die finanzielle Dezentralisierung die Möglichkeiten des Staates ein, Geld zu verteilen und seinen Spielraum bei den Investitionen zu nutzen.4

Ungleichheiten gibt es auch zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren. Die Festlegung von Preisstruktur und Gewinnspannen stammt noch aus der maoistischen Zeit, sie benachteiligt die Bereiche des primären Sektors wie Getreideanbau, Rohstoffe, Energie, Transport und begünstigt die nachgeordneten Bereiche: Agrarindustrie, weiterverarbeitende Industrie, Immobilien, Handel, Tourismus und andere Dienstleistungen. Energiequellen und Rohstoffe befinden sich überwiegend im Landesinnern, es sind Produktionszweige, die einen hohen Kapitaleinsatz und langfristige Investitionen erfordern, die Betriebe befinden sich mehrheitlich in Staatsbesitz und sind durch eine niedrige Produktivität und durch hohe Soziallasten behindert.

In den nachgeordneten Sektoren finden sich Produktionsbereiche mit effektiver Nutzung der Arbeitskraft und hohen Gewinnspannen, in denen Staatsbetriebe die Ausnahme bilden.

Diese Firmen, die sich vor allem an der Küste angesiedelt haben, sind die hauptsächlichen Nutznießer der exportorientierten Wachstumsstrategie. Das Aufeinandertreffen von verschiedenen Ungleichheiten bringt Auflösungsphänomene hervor, die durch die kumulativen Wirkungen der Wachstumsunterschiede und durch die institutionellen Rahmenbedingungen der Entwicklung verstärkt werden. Dies geschieht auf drei Ebenen.

Zuerst ein Blick auf die betriebswirtschaftliche Ebene: Ein staatliches Unternehmen, das für seine Gewinne, aber nicht für seine Verluste verantwortlich ist, wird daran interessiert sein, die Investitionen zu erhöhen, um möglichst hohe Gehälter an die Beschäftigten zu zahlen, ohne dabei auf die Effizienz achten zu müssen. Das nichtstaatliche Unternehmen, das seine Verluste selbst zu tragen hat, muß möglichst große Ressourcen bereitstellen, um auf einem umkämpften Markt Gewinne zu erzielen, und muß gleichzeitig den Steuerdruck verringern. Die halbstaatlichen Unternehmen, die von der neuen wirtschaftlichen Nomenklatura geleitet werden, versuchen die Gewinne zu steigern, indem sie die Konkurrenz ausschalten. Ihr vorrangiges Betätigungsfeld sind die „grauen“ Märkte für Immobilien, Industrie- und Finanzaktiva, die von den lokalen oder zentralen Behörden abhängig sind.

Auf der mittleren Ebene, im Bereich der Gemeinde- und Provinzbehörden, versucht man, die Steuereinnahmen zu steigern, indem man möglichst große Gewinne mit den Firmen erzielt, die unter der eigenen Aufsicht stehen. Ressourcen werden in lukrative Bereiche umgeleitet, und die Konkurrenz wird ausgeschaltet, wenn nötig auch durch Zollbarrieren. Der Wettbewerb findet also nicht zwischen Unternehmen statt, was sich positiv auf den Inflationsdruck auswirken würde, sondern zwischen Provinzen. Dabei nutzen die Küstenregionen die Unterschiede bei den Gewinnspannen zu ihrem Vorteil. So entwickelt sich mit den Worten Albert O. Hirschmans5 ein „konfliktives Wachstum“. Die Basissektoren verkümmern wegen ihrer niedrigen Gewinnspannen oder wegen ihrer Defizite, wegen der fehlenden Konkurrenzsituation und wegen der Unfähigkeit der Bürokratie vor Ort. Die verarbeitende Industrie, der Bau von Luxuswohnungen und andere lukrative Bereiche sind aus den entgegengesetzten Gründen aufgebläht. Und all das geschieht in einem Klima völliger gesellschaftlicher Verantwortungslosigkeit. Diese Interessenkonflikte bremsen die Aktivitäten des Zentralstaates, der ohne die notwendigen steuerlichen, finanziellen und institutionellen Möglichkeiten mit der Unausgeglichenheit der Entwicklung nicht mehr zu Rande kommt und in einer inflationistischen Geldschöpfung Zuflucht sucht. Zwischen 1978 und 1992 ist der Anteil des Staatshaushaltes am Bruttoinlandsprodukt von 36 Prozent auf 17 Prozent gesunken. Die Regierung kontrolliert nur noch ein Viertel der Investitionen. Mindestens 25 Prozent des Haushaltes werden für die Finanzierung der Verluste in den staatlichen Betrieben und etwa 10 Prozent für Preissubventionen ausgegeben, von denen vor allem die Stadtbevölkerung profitiert. Die Steuerhinterziehung, die ein neuer Nationalsport geworden ist, macht etwa 100 Milliarden Yuan (12 Milliarden US-Dollar) aus, was ungefähr dem jährlichen Haushaltsdefizit entspricht. Steuern werden vor allem in den lukrativen absteigenden Wirtschaftssektoren hinterzogen, aber auch in den sehr reichen Regionen und von den sehr reichen gesellschaftlichen Gruppen, die sich der Immobilien- und Börsenspekulation widmen. Angesichts dieser Einnahmeverluste verstärkt der Staat den Steuerdruck auf die Ärmsten und auf die aufsteigenden Wirtschaftssektoren.

Die Machthaber sind mit den Problemen vertraut. Sie versuchen seit Ende der achtziger Jahre Abhilfe zu schaffen, aber es gelingt ihnen nicht, den gesellschaftlichen Zerfall, der mit dem Wachstum Hand in Hand geht, zu stoppen. Inflation, Korruption, massive Wanderungsbewegungen, eine wachsende Zahl von Konflikten in den Fabriken, sowohl in den Städten als auch auf dem Lande, die Ausbreitung der Kriminalität und des organisierten Verbrechens im Zusammenhang mit Prostitution und Drogenhandel und der Eindruck einer moralischen Krise sind deutliche Zeichen für die gesellschaftliche Implosion, die sich in China – wie auch in anderen Ländern der Dritten Welt – abspielt.

Wie kann man unter diesen Umständen die Dynamik der Auflösung durch eine Dynamik der Integration ersetzen? Um dies zu erreichen, müßte das Wachstum auf einer besseren Nutzung der Ressourcen aufbauen. Das würde die Inflation verringern, aber auch eine Entschärfung der ökologischen Probleme erlauben – und es wäre außerdem die Voraussetzung für eine gerechtere Einkommensverteilung und damit für eine bessere Integration. Im Sinne einer solchen Politik müßten Bedingungen geschaffen werden, unter denen sich die Konkurrenz zwischen den einzelnen Unternehmen, zwischen den verschiedenen Eigentumsformen und zwischen den vor- und nachgeordneten Sektoren entfalten könnte. Und es wäre eine Politik, die nicht von einer – ohnehin schon sehr weit gehenden – Preisfreigabe abhängt, sondern von institutionellen Reformen.

Soll die Politik der Öffnung weitergehen, dann muß zuvor die Korruption in Justiz und Verwaltung gründlich beseitigt werden. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg... Es gibt frühere Mitglieder der Roten Garden, die inzwischen als Bankiers in Hongkong arbeiten und mehr als eine Million Dollar pro Jahr verdienen.6 Die Söhne der politischen Führer mischen in den großen Konzernen mit, die im Außenhandel tätig sind und mit den ausländischen Investitionen zu tun haben.

Einheit läßt sich nicht erzwingen

WÄHREND auf dem Land Bauern enteignet werden, vertreibt man Städter aus ihren Häusern, damit Platz für den Bau von Wohnanlagen und Luxusgeschäften geschaffen wird. Arbeiter und Arbeiterinnen vom Land werden im nichtstaatlichen Sektor hemmungslos ausgebeutet, sofern sie überhaupt eine Arbeit finden. Gewiß ist die Korruption nichts spezifisch Chinesisches. Sie macht zum Beispiel bei der Lieferung von Gütern und Dienstleistungen innerhalb der Europäische Union Mehrausgaben von 10 bis 15 Prozent nötig.7 Aber im Fall China werden politische Zerrüttung und gesellschaftliche Polarisierung, die von der Korruption ausgehen, durch Faktoren verstärkt, die mit dem politischen System und der Öffnung des Landes zusammenhängen.

Die Herrschaft der Einheitspartei, die politische und wirtschaftliche Macht der Armee, die als das letzte Bollwerk des Staates im Krisenfall erscheint, die Verwaltungsreform, die die Beamten in den Privatsektor treibt, das Auftreten einer neuen „neuen Klasse“ von Managern8, die aus der alten Nomenklatura hervorgegangen sind, und die Internationalisierung der Wirtschaft in einer rechtlich unsicheren Situation – alle diese Faktoren begünstigen die Korruption und, schlimmer noch, die Ausbreitung des organisierten Verbrechens. (In dieser Hinsicht ähnelt China mehr und mehr der früheren Sowjetunion.)

Wie kann man Öffnung und Integration nach innen miteinander versöhnen? Es wird nicht genügen, das Preissystem punktuell neu zu strukturieren, wie es in Ansätzen schon geschehen ist. China braucht dringend einen umfassenden Infrastrukturplan, der die auseinanderstrebenden Kräfte des Landes wieder zusammenführt. Es müßte ein Plan sein, der lokales und internationales Sparkapital mobilisiert zugunsten einer sozioökonomischen und ökologischen Entwicklungsstrategie, mit der die zu erwartenden Auswirkungen der Industrialisierung auf die Biosphäre begrenzt und die Suche nach sozialer Gerechtigkeit gefördert werden könnte.

Statt seine Macht zu delegieren, ohne die Mittel in den Händen zu behalten, die es ihm erlauben, die negativen Auswirkungen einer solchen Dezentralisierung zu korrigieren, muß der Staat mit Hilfe des Bank- und Finanzsektors indirekte Wege beschreiten, um die Investitionen sinnvoll zu kanalisieren. Dies verlangt aber ein politisches Engagement für mehr soziale Gerechtigkeit und eine politische Vision, mit der sich die gesellschaftlichen Gruppen trotz ihrer auseinanderstrebenden Interessen mobilisieren lassen.

Notwendig wird außerdem eine Steuerpolitik sein, die klar definierte Ziele verfolgt. Dies trifft auf die 1994 durchgeführte Reform nicht zu, da diese sich vor allem darauf beschränkt hat, die Vorrechte der lokalen und zentralen Institutionen festzulegen. Die in- und ausländischen Investitionen müssen in die Bereiche des primären Sektors umgeleitet und der Steuerdruck den neuen Prioritäten angepaßt werden. Die Politik muß gerechter werden, und zu diesem Zweck muß man die niedrigen Einkommen auf dem Lande geringer besteuern und gleichzeitig die Spekulation steuerlich sehr viel stärker belasten. Auch müssen die Binnenzollgrenzen beseitigt werden, damit die Konkurrenz nicht behindert wird. Um ein solches Programm durchzuführen, muß die Steuerhoheit der Zentralmacht und nicht den lokalen Behörden obliegen. Autorität und Unabhängigkeit der Finanzverwaltung könnten durch die jährliche Veröffentlichung eines Berichts gestärkt werden, in dem man Mißstände anprangert.

Das allgemeine Durcheinander und der Steuerbetrug sind vor allem eine Folge der ungenauen Abgrenzung der Vorrechte und Pflichten, die die Zentralmacht und die lokalen Instanzen haben. Die Gebietskörperschaften agieren de facto in einer doppelten Rolle als Steuereinnehmer und als Unternehmer. Die Verwaltungsapparate vor Ort sind überbesetzt und inkompetent, was sie von der Technokratie der ostasiatischen Industrieländer unterscheidet. In diesem Sinn ist das zentrale Problem politischer Art: Es müssen institutionelle Strukturen geschaffen werden, die der sich verändernden Situation am ehesten entsprechen.

Die Wirtschaftspolitik hat nach den Unterdrückungsmaßnahmen von 1989 vor allem das Ziel verfolgt, den sozialen Frieden zu erkaufen. Aber das verbissene Streben nach „Stabilität und Einheit“ kann die zunehmende Auflösung der Gesellschaft, die seit den achtziger Jahren zu beobachten ist, kaum mehr verbergen. In der Ära nach dem Tod von Deng Xiaoping wird es vor allem darum gehen, mit politischem Willen der Gesellschaft, die durch eine harte Schule geht, Sinn und Zusammenhalt zu vermitteln.

dt. Christian Voigt

1 Vgl. C.H. Kwann, „Economic Interdependence in the Asia-Pacific Region. Towards a Yen Bloc“, London (Routledge) 1993.

2 Hierzu: Weltbank, China. Foreign Trade Report, Washington D.C. 1994.

3 Guilhem Fabre, „Urbanisation et politique économique en Chine“, Le Courrier des pays de l'Est, November 1992, Paris (La Documentation française).

4 Vgl. François Lemoine, „La Nouvelle Économie chinoise“, Paris (La Découverte) 1994.

5 Vgl. Albert O. Hirschman, „Les Pionniers du développement, Paris (Économica) 1988.

6 Vgl. China. Foreign Trade Report, a.a.O.

7 Aus einer Analyse, die bei der Konferenz der Justizminister der Europäischen Union in Malta vorgelegt wurde. Le Monde 16./17 Juni 1994.

8 Guilhem Fabre, „La nouvelle ,nouvelle classe‘: réflexions sur la transition en Chine“, Transitions, (Freie Universität Brüssel), Nr. 2, 1994.

* Leiter des Fachbereichs für Handel und Beziehungen mit Asien an der Universität Le Havre; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Dokumentationszentrum der französischen Regierung

Le Monde diplomatique vom 15.09.1995, von Guilhem Fabre