15.09.1995

Wissenschaft und Öffentlichkeit

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Wissenschaft und Öffentlichkeit

Von

DANIEL

BOUGNOUX *

DER Einflußbereich der Medien wächst ständig, während Institutionen wie Schule, Kirche oder politische Parteien, die traditionell für die Verbreitung von Sinn und Wahrheit zuständig waren, das Nachsehen haben. Das Zusammenwirken von Politik und Massenmedien wird zwar regelmäßig kritisiert, doch die Kunst des Regierens ist bei weitem nicht die einzige, die die Medien sich aneignen und beherrschen: die Diplomatie, die Justiz, die Religion, die bildende Kunst und sogar die wissenschaftliche Forschung richten sich nach Pressekonferenzen und Fernsehkameras aus. Etwas „im Fernsehen gesehen“ zu haben ist zu einem ebenso gewichtigen Argument avanciert wie einst das Aristoteles dixit.

Was geht mit den Wissenschaftlern vor, wenn sie auf die Medien stoßen? Es liegt nahe, die hehre, reine Arbeit des Forschers im weißen Kittel in Gegensatz zur medialen Umweltverschmutzung zu stellen als zwei Tätigkeitsbereiche, die offenbar antagonistisch sind und auf ganz verschiedene Kulturen und Fragestellungen zurückgehen.

Das Medienzeitalter ist eines der Eile und der Exklusivität, während die Forschung Zeit und Geduld erfordert. Die Medien neigen dazu, das Individuum als Star hervorzuheben, während die Forschung immer mehr Teamarbeit erfordert. Jene widmen sich der Vereinfachung und Veranschaulichung und müssen eine Geschichte erzählen, die Handlung durch Höhepunkte oder beeindruckende Bilder dramatisieren – alles Zutaten, die das Laboratorium schwerlich zur Verfügung stellt. Wissenschaftliche Sprache und Fragestellungen hingegen bleiben dem Laien weitgehend unverständlich. Das Wissen im Bereich der Forschung hat im Zuge fortwährender Manipulierungen und Umdeutungen eine Dichte angenommen, die sich nur schlecht in Bilder umsetzen oder in einfachen Sätzen zusammenfassen läßt.

Die Medien konsumieren Inhalte und geben vor, dem Publikum einen Gesamtüberblick zu liefern, einen Schlüssel zu den Ereignissen oder wenigstens sensationelle Details. Dagegen dauert es lange, bis wissenschaftliche Information entsteht, und selbst dann bleibt sie hoffnunglos fragmentarisch, entzieht sich dem flüchtigen Blick und der vorschnellen Zusammenfassung. Während Presse und Fernsehen zur unwiderlegbaren Aussage neigen, muß die Formulierung des Wissenschaftlers eher dem Zweifel Platz lassen als der unerschütterlichen Gewißheit, sie muß für Widerspruch offen bleiben und den Moment hinauszögern, in dem sie sich festlegt.

Es wäre einfach, Beispiele für die Unvereinbarkeit beider Kulturen aufzulisten, auf die einige bedauerliche Skandale schon hingedeutet haben. Oft haben die Zeitungen Teilergebnisse der Forschung oder solche, die in wissenschaftlichen Kreisen heftig umstritten waren, aufgebauscht (z.B. das Gedächtnis des Wassers oder die kalte Kernfusion). Sie haben wacklige Hypothesen zu gesicherten Erkenntnissen umgeschrieben (der Big Bang, der Ursprung der Menschheit). Sie sind Scharlatanen auf den Leim gegangen und haben „Entdeckungen“, denen kein kompetenter Wissenschaftler Beachtung geschenkt hätte, zu Berühmtheit verholfen. Sie haben vorschnell die Entwicklung von Medikamenten (gegen Aids oder gegen die Alzheimersche Krankheit) herausposaunt und damit nicht nur bei der Öffentlichkeit falsche Hoffnungen geweckt, sondern den betroffenen Wissenschaftlern das Gefühl gegeben, ihre Arbeit sei verraten oder für kommerzielle Zwecke mißbraucht worden. Die Medien haben mit Ängsten gespielt (Treibhauseffekt) und mit Träumen, wie im Fall der Verjüngungspille von Professor Beaulieu. War es wirklich der beste Weg, wie für diese Probleme Öffentlichkeit geschaffen wurde?

Und dennoch sind diese beiden geistigen Welten sich nicht völlig fremd: Journalistinnen und Journalisten kämpfen darum, exklusive Meldungen zu bekommen, doch auch die Männer und Frauen der Wissenschaft drängt es danach, einen Vorsprung zu haben – und das macht den Krieg in ihrer Sparte nur noch erbitterter. (Man erinnere sich an die französisch-amerikanische Polemik um die Entdeckung des HI-Virus, die sowohl Professor Montagnier als auch Professor Gallo für sich beanspruchten). Im übrigen haben beide Sparten notgedrungen eine vergleichbare Ethik der Objektivität bei der Recherche. Die Journalisten sind in erster Linie Forscher, die ihre Quellen überprüfen und Tatsachen ergründen, und die Wissenschaftler kommen letzten Endes nicht darum herum, ihre Arbeit zu veröffentlichen und populärwissenschaftlich zu vermitteln.

Mönchisch und weltlich

AUF einer Konferenz in der Cité des sciences et de l'industrie in Paris, die von der Vereinigung der Wissenschaftsjournalisten organisiert worden war und am 24. März 1995 stattfand, wurden die Fortschritte und Gefahren der neuen Eintracht von Medien und Wissenschaft beleuchtet. Es hat sich einiges geändert, seitdem Journalistinnen und Journalisten 1969 anläßlich eines Kolloquiums in Nizza von den Forschungsinstituten die Einrichtung von Pressestellen gefordert hatten; sie waren damals überall auf allgemeinen Informationsmangel, auf Mißtrauen und Abkapselung gegenüber anderen Disziplinen gestoßen und mußten sich mit dem Widerstand der Wissenschaftler auseinandersetzen, die an einer Zusammenarbeit mit den Medien oder einer allgemeinverständlichen Verbreitung ihrer Arbeitsergebnisse nur wenig Interesse zeigten.

Heute besteht das Problem eher in der Verflechtung zwischen Wissenschaft und Industrie sowie der zunehmenden Marktorientierung, die jedes Forschungslabor dazu antreibt, nach einem höheren Bekanntheitsgrad zu streben. Dieser kann sicherlich in erster Linie unter Kollegen erreicht werden, doch ein guter Ruf bei den Medien oder die Anwesenheit eines Starwissenschaftlers in einem Team sind nicht zu vernachlässigen, wenn es um eine Beurteilung ihrer Arbeit geht oder darum, an neue Geldmittel zu kommen. Der moderne Wissenschaftler gehört zwei Orden gleichzeitig an: Wie ein Mönch beruft er sich gerne auf die Abgeschiedenheit seines Labors, um „in Ruhe zu arbeiten“, von dem Tumult und den Verlockungen der Außenwelt abgeschirmt. Ganz weltlich benötigt er dagegen für die Meta-Forschung (die die eigentliche Forschung mit Stoff beliefert) ein fruchtbares Netz von Beziehungen – und das bekommt er durch die Medien. So ist es nicht weiter erstaunlich, daß man die Entwicklung der Wissenschaft heute teilweise auf Pressekonferenzen mitverfolgen kann, aber auch durch die Lobbyarbeit der Labors, mittels dramatischer Ankündigungen oder über einen mediengewandten Gelehrten auf dem Bildschirm, der mit getragener Stimme in klangvollen Metaphern von der Geburt des Universums zu erzählen weiß oder von den Geheimnissen des Lebens...

Die Tatsache, daß beide Kulturen sich bis Ende der sechziger Jahre gegenseitig ignoriert haben, war Ausdruck der Erkenntnistheorie der Gelehrten, die davon ausgingen, daß die Wissenschaft, wenn nicht ein Reich im Reiche, so doch wenigstens eine Insel des Widerstands und der Seriosität darstelle, die für die Weiterentwicklung der „reinen Forschung“ unentbehrlich sei. Die Vorstellung der Strukturalisten vom erkenntnistheoretischen Schnitt verstärkte noch die Abschottung des wissenschaftlich-universitären Bereichs, vertiefte den Gegensatz von (profaner) Meinung und (wissenschaftlicher) Vernunft, zwischen der Gemeinschaft der Gelehrten und der Gesellschaft. Heute noch müssen französische Wissenschaftssoziologen und -anthropologen wie Michel Callon oder Bruno Latour einen gewissen Mut aufbringen, um das von Gaston Bachelard oder Louis Althusser überlieferte Dogma vom Schnitt frontal anzugreifen und gelassen durch das „Prinzip der Symmetrie“ zu ersetzen, das auf die wissenschaftliche Forschung angewandt wird: Die Handlungen im Labor und die Strategien der Darlegung der daraus hervorgehenden Wahrheiten sind keineswegs grundsätzlich anderer Natur als die anderen Aktivitäten, Darlegungen und weltlichen Machtspiele. Die Wissenschaftler glauben an ihre eigene Reinheit und agieren vermeintlich als untadelige Hüter von Objektivität und Wahrheit. Wenn allerdings das eine oder andere Labor die einflußreichen Kreise manipuliert, so unterscheidet sich das Bruno Latour zufolge nicht sonderlich von den Tricks, die sogenannte „korrupte und anrüchige“ Politiker anwenden.1

Die wissenschaftliche Betätigung muß also gesellschaftlich eingebunden bleiben: sie kann weder autonom sein (das heißt eingemauert in die Arroganz des Expertendiskurses oder in den naiven Glauben an ihre großartige Isolierung) noch völlig vergesellschaftet, da die wissenschaftliche Wahrheit allein von der Diskussion unter Forschern abhängt und sich keiner anderen Autorität unterwerfen sollte. Man stellt den Beweis eines Lehrsatzes nicht zur Abstimmung, denn das würde bedeuten, in den Despotismus der Inquisition zurückzufallen, die einst Galilei verurteilte, oder der Staatsräson zu folgen (wie beim Mißbrauch der Genetik durch die Nationalsozialisten oder bei der Lyssenko-Affäre). Gerade die Skandale neueren Datums, in erster Linie der der HIV-infizierten Blutkonserven, zeigen erneut, wie notwendig eine bürgernahe Wissenschaft ist, die, wie Bruno Latour fordert, ihre Labors nach außen öffnet.

Forschung entwickelt sich nicht im harmonischen Einvernehmen, sondern in der Auseinandersetzung. Im Verlauf dieses Prozesses werden immer wieder Entscheidungen getroffen und Gelegenheiten gegeben, die von außerwissenschaftlichen Faktoren abhängig sind, die dem wirtschaftlichen, technischen, sozialen und politischen Bereich entstammen – also dem Bereich der Medien. Der Diskurs der wissenschaftlichen Vernunft braucht einen langen Atem und wird immer wieder von verschiedensten Einsprüchen beeinflußt, die der Wissenschaft feindlich gegenüberstehen können, aber doch faktisch an sie gebunden sind. Bruno Latour oder auch Pierre Lévy bestehen darauf2: Wissenschaftliche Erkenntnis entsteht durch eine immer komplexere Reihe von Akteuren, oder eine Gemeinschaft, an der Menschen, Tiere und Maschinen, historische Kulturen und geographische Zwänge teilhaben – und das wird immer so sein. Beim Blick auf das Durcheinander all dieser Akteure, die nur alle gemeinsam die Institution am Laufen halten können, gewinnt die Formel des dadaistischen Erkenntnistheoretikers Paul Feyerabend eine neue Bedeutung: Anything goes. Ob man will oder nicht, die „Kommunikation“ stellt nun einmal eines der Kettenglieder in der Produktion sogenannter wissenschaftlicher Aussagen dar. Würde es zum entscheidenden Kettenglied, dann wäre die Forschung zum Werbegag degradiert; doch ist es auch nicht möglich noch wünschenswert, zu den „alten Schutzwällen“ der Eingeweihten zurückzukehren, hinter denen Geheimnistuerei und Staatsräson blühen (wovon das staatliche Bluttransfusionszentrum von Dr. Michel Garretta bekanntlich erschreckenden Gebrauch gemacht hat).

Dialog mit den Medien

DIE Medien, die wir besitzen, besitzen auch uns: sie können das Denken platt walzen oder gefährlich vereinfachen. Doch der etymologische Ursprung des Wortes erinnert daran, daß sie auch Mittler sind oder, anders ausgedrückt, das Ökosystem für die Verbreitung von Gedanken darstellen. Und wenn es keine Gedanken gibt ohne Medien, die sie verbreiten und vervielfältigen, dann ist es die Aufgabe eines jeden, damit umzugehen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind sowohl aufgrund ihrer Ausbildung als auch ihrer Ethik schlecht darauf vorbereitet, das Spiel dieser Medien mitzuspielen – sie verteufeln und verachten sie oder glauben naiv, sie beeinflussen zu können... Diese furchteinflößenden Medien, die immer im Verdacht stehen, Meinung zu machen, folgen einer Logik, die dem wissenschaftlichen Denken fremd ist, auf die es aber immer weniger verzichten kann. Beide Kulturen sind in den Dialog getreten, und der Erfolg einiger populärwissenschaftlicher Zeitschriften ermutigt dazu, ihn fortzusetzen. Eine der Herausforderungen einer Demokratie liegt darin, die Debatte nicht den Experten zu überlassen und dafür wieder zu einer gemeinsamen Sprache zu finden. Medien und Wissenschaft sind weiter gefordert.

dt. Sophie Mondésir

1 Ein diesbezügliches Grundsatzwerk ist gerade in der Reihe „Folio-Essais“ neu aufgelegt worden. Bruno Latour: „La Science en action“, Paris (La Découverte, 1989 und Gallimard, 1995).

2 Pierre Lévy, „L'Intelligence collective“, Paris (La Découverte) 1994.

* Professor der Kommunikationswissenschaft an der Stendhal- Universität Grenoble-III

Le Monde diplomatique vom 15.09.1995, von Daniel Bougnoux