Erstarrung in Nahost Von ALAIN GRESH
TRAURIGES Jubiläum! Am 2. August 1990 begann ein größenwahnsinniger Diktator mit der Invasion Kuwaits. Innerhalb weniger Wochen wurde im Namen des Völkerrechts unter der Führung der Vereinigten Staaten eine alliierte Streitmacht gegen den „neuen Hitler“ mobilisiert, wie es sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gegeben hatte. Wenn man der Propaganda glauben wollte, die noch blindwütiger war als die Bombenangriffe, dann sollte die Niederwerfung des Irak dazu dienen, eine neue stabile Ordnung in der Golfregion zu schaffen. Doch leider herrscht fünf Jahre danach überall Unfrieden. Die Sanktionen haben ein ganzes Volk an den Bettelstab gebracht, und der Irak löst sich auf: Staat und Gesellschaft zerfallen, die Machthaber sind in Familienfehden verstrickt. Der Zusammenbruch des Landes hat begonnen, und an den Grenzen zur Türkei und zum Iran entstehen neue Konfliktherde, die so schnell nicht erlöschen werden.
Das spektakulärste Ergebnis der neuen Kräfteverhältnisse, die sich aus dem Golfkrieg ergeben haben, war der Handschlag, mit dem Jassir Arafat und Jitzhak Rabin am 13. September 1993 auf dem Rasen vor dem Weißen Haus in Washington das Abkommen zwischen Israel und der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) besiegelten. 24 Monate später sind die großen Hoffnungen verflogen. Die Umsetzung des Osloer Vertrags hat sich erheblich verzögert, weil die israelische Regierung von Anfang an gegen die Bestimmungen, den Geist und den Zeitplan dieses Abkommens verstoßen hat. Der Westen reagierte nicht auf diese Entwicklung: die Vereinigten Staaten haben sich mehr denn je auf bedingungslose Unterstützung des jüdischen Staates festgelegt, und die Europäische Gemeinschaft hat durch ihren Schulterschluß mit Washington während des Golfkriegs in der Nahostregion erheblich an Einfluß verloren. Dabei wurde die Siedlungspolitik im Westjordanland ebenso vorangetrieben wie die Enteignungen arabischen Bodens. In Jerusalem schafft die israelische Regierung unterdessen immer mehr vollendete Tatsachen, um jegliche Diskussion über den künftigen Status der Heiligen Stadt zu umgehen. Die Wahlen zum palästinensischen Stadtrat, die für Juli 1994 angesetzt waren, sind inzwischen auf frühestens Ende 1995 verschoben worden.
Ein viel ernsteres Problem stellt sich im autonomen Gaza-Streifen: Weil es immer mehr „Abriegelungen“ gibt, können die palästinensischen Arbeitskräfte nicht mehr an ihren – ohnehin schwindenden – Arbeitsplätzen in Israel erscheinen. Folge war ein drastisches Absinken des Lebensstandards. Für einen Palästinenser ist es heute viel schwieriger als vor dem 13. September 1993, sich in einem Gebiet zu bewegen, das von der Besatzungsmacht in kleine Teile zersplittert worden ist. Entwicklungspolitische Maßnahmen sind vorerst unmöglich. Und das Verhalten der bewaffneten Siedler weckt Empörung und Haßgefühle, die zu terroristischen Anschlägen führen.
Trotz aller Differenzen, vor allem bezüglich der Wasserrechte und des Status der Stadt Hebron, scheint demnächst ein Abkommen über die Übergangsregelungen und die Wahlen zum Rat der palästinensischen Selbstverwaltung zustande zu kommen. Aber diesmal werden sich keine großen Hoffnungen daran knüpfen, weder bei der israelischen Bevölkerung, die eine Reihe blutiger Anschläge hinnehmen mußte, noch bei der palästinensischen, der nach den vorläufigen Regelungen, auf die sich beide Seiten am 11. August geeinigt haben, klar geworden ist, daß der jüdische Staat die Oberhoheit über das Westjordanland behalten wird.
ALS der israelische Außenminister Schimon Peres die Grundzüge des Vertragstextes erläuterte, konnte er befriedigt feststellen: „Aus dem Abkommen ergibt sich, daß Israel weiterhin über 73 Prozent des Bodens in den (besetzten) Gebieten, über 97 Prozent der Sicherheitskräfte und 80 Prozent der Wasservorkommen verfügen wird.“1 Tatsächlich wird sich die palästinensische Selbstverwaltung nur auf die großen Städte mit arabischer Bevölkerung beziehen, die aber umgeben sind von jüdischen Siedlungen und umstellt vom israelischen Militär, das für die „Sicherheit“ zuständig ist. Sie könnten zu bantustans werden, zu den Homelands billiger Arbeitskräfte, in denen Armut herrscht und der Terrorismus gedeiht.
Wie soll dieser ungleiche Kompromiß Bestand haben? Natürlich kann er mit Gewalt durchgesetzt werden. In Israel darf die Polizei schon heute „gewaltsame Methoden“ anwenden, wenn verdächtige Araber verhört werden. Und Ministerpräsident Rabin hat, allen Widerständen zum Trotz, nach dem Anschlag vom 21. August erklärt, daß er auch Foltermethoden für vertretbar halte, und damit den Rechtsstaat relativiert. Im Gaza-Streifen hat die israelische Regierung lediglich bezüglich der Stärke der palästinensischen Polizeikräfte gewisse Zugeständnisse gemacht: Sie ist von 6000 auf über 20000 erhöht worden, die diversen Geheimdienstleute und Sondereinheiten, die Jassir Arafat beschäftigt, gar nicht mit eingerechnet. In aller Stille hat die Zusammenarbeit der israelischen und palästinensischen Geheimdienststellen gute Fortschritte gemacht2, gleichzeitig nehmen es die palästinensischen Behörden mit den Bürgerrechten nicht so genau: Schnellgerichte, Folter und Verbot von Zeitungen sind an der Tagesordnung. Schon im September 1993 schrieb die Tageszeitung Ha'aretz: „Israel will verhindern, daß in seiner Nachbarschaft ein demokratischer Palästinenserstaat oder ein ähnliches Gebilde entsteht.“3
Und wo bleibt die Demokratie? Der Nahe Osten ist im Haß erstarrt – die „Neue Weltordnung“ bedeutet hier bloß noch mehr Willkür, Gewalt und Ungleichheit. Überall klammern sich die Regime an eine Macht, die über keine demokratische Legitimität verfügen, aber nach wie vor auf die Unterstützung einer „freien Welt“ zählen können, die nur die Gefahr des Islamismus sehen will. Im Schatten dieser Diktaturen wächst eine neue Generation von Araberinnen und Arabern heran, für die der Leidensweg des irakischen Volkes, die zögerliche Haltung der internationalen Gemeinschaft in Bosnien und die fortdauernde Rechtlosigkeit der Palästinenser einen gemeinsamen Nenner hat: sie sehen darin eine globale Angriffsstrategie des Westens. Im Umgang mit der Dritten Welt verrät der Westen seine demokratischen Werte. Wird sich dadurch die Kluft zwischen Norden und Süden nicht noch weiter vertiefen?
1 Financial Times vom 15. 8. 1995.
2 Le Monde vom 26. 8. 1995.
3 Ha'aretz vom 5. 9. 1993