11.08.1995

Unruhige Wiege Mittelmeer

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Unruhige Wiege Mittelmeer

■ Drei große Konflikte rund ums Mittelmeer bereiten den politischen Führern der Welt Sorgen: die Konflikte in Bosnien, Nahost und Algerien. Andere können sich jed

Drei große Konflikte rund ums Mittelmeer bereiten den politischen Führern der Welt Sorgen: die Konflikte in Bosnien, Nahost und Algerien. Andere können sich jeden Moment verschärfen, ja in eine Katastrophe münden: in Kurdistan, auf Zypern, im Libanon, im Kosovo, in Makedonien ... Darüber hinaus stellt das Mittelmeer eine der ausdrucksvollsten Bruchlinien zwischen dem reichen Norden und dem abhängigen Süden dar. Und doch ist es nicht allein ein Unruhegebiet, sondern weiterhin die Wiege einiger der größten Zivilisationen der Welt, ein Raum der fruchtbaren Vermischung der Völker. Ein Ort, an dem es auch heute noch möglich ist, zu einem gastfreundlichen Zusammenleben zurückzufinden.

Von EDGAR MORIN *

WENN meine Gene, meine Chromosomen reden könnten, würden sie Ihnen eine mediterrane Odyssee erzählen, die in etwa so wie die des Odysseus begänne, aber ein wenig weiter südlich, im kleinasiatischen Mittelmeer, dem heutigen Nahen Osten. Sie würden Ihnen von ihrer Reise ins Römische Reich erzählen, von ihrer Ankunft auf der Iberischen Halbinsel und in der Provence. Sie würden Ihnen von mehr als einem Jahrtausend der Seßhaftigkeit berichten und von fast siebenhundert Jahren in einem Spanien der Pluralität mit mehreren Königreichen und drei Religionen, ein Aufenthalt, der für einige 1492, für andere im 17. Jahrhundert endete. Meine Gene, meine Chromosomen würden Ihnen berichten, wie diese Vorfahren, die conversos, zwei Jahrhunderte lang von der katholischen Kirche getauft wurden. Danach würden sie Ihnen vom erneuten jüdischen Leben im Großherzogtum Toskana erzählen, vom Leben in Livorno. Und wie es sie im großen Strom der ökonomischen Expansion des Abendlands am Ende des 18. Jahrhunderts in die große Stadt Saloniki im Osmanischen Reich verschlug, die damals zum überwiegenden Teil von Sepharditen bevölkert war. Danach würden sie Ihnen von der Rückkehr in den Westen berichten und vom Seßhaftwerden in Frankreich.

Meine Gene würden Ihnen berichten, daß sich allediese aufeinanderfolgenden mediterranen Identitäten in mir symbiotisch verbunden haben, und daß das Mittelmeer während dieser zweitausendjährigen Irrfahrt meine eigentliche Heimat geworden ist. Die Geschmacksnerven meiner Zunge sind mediterran, sie fordern Olivenöl, sind begierig nach gebratenen Auberginen und Paprikaschoten, lieben Tapas und Mezes. Meine Ohren lauschen verzückt dem Flamenco und den orientalischen Gesängen. Und in meiner Seele gibt es dieses gewisse Etwas, das mich immer wieder daran erinnert, daß ich ein Kind seines Himmels, seiner Inseln, seiner Küsten, seiner trockenen und fruchtbaren Landstriche bin.

Meine Gene würden Ihnen auch anvertrauen, daß sie eine typisch iberische Erfahrung gemacht haben, die des Marranentums. Das Marranentum ist nicht nur, wie viele meinen, eine Weise, unter der Maske des Christen heimlich Jude zu bleiben, oder eine Weise, seine jüdische Herkunft zu vergessen, um ein aufrichtiger Christ zu werden; es ist auch die ganz persönliche Erfahrung der Begegnung zweier gegensätzlicher Religionen. Entweder führt diese Gegensätzlichkeit dazu, daß das Formelle der beiden Religionen sich auflöst und eine wunderbare mystische Flamme auflodern läßt – das führt zu Teresa von Avila. Oder der Zusammenprall der beiden Religionen löst sie beide vollständig auf, um einem allgemeinen Zweifel Platz zu machen – und das führt zu Montaigne, auch er ein Nachkomme der conversos. Oder aber der transzendente Gott löst sich auf, und göttlich wird die Natur, die sich selbst erschafft, und dann sind wir bei Spinoza. Und was nun mich betrifft, so bin ich sicher in gewisser Weise mystisch, ich bin rational und skeptisch, und das wäre ich nicht ohne Sepharad1 geworden, ohne Spanien, die vielen Spanien in ihrer Pluralität.

Meine Gene haben mir nichts von Barcelona erzählt, aber mein Geist wurde von Barcelona geprägt. Im Januar 1939 war ich achtzehn, als ich plötzlich vom Fall Barcelonas erfuhr.2 In meinem Buch „Autocritique“ habe ich dazu geschrieben: „Ich fing an zu weinen, starrte auf die riesige Schlagzeile des Paris-Soir und versteckte mein Gesicht hinter der Zeitung. Ich wußte nicht, daß zur selben Zeit mein Klassenkamerad Jacques Francis Rolland und Hunderte von anderen aufhörten, Knaben zu sein, und erwachsen wurden, indem sie, jeder für sich, das Ende der Hoffnung beweinten. Ich wußte noch nicht, daß es die Reste dieser ersten Hoffnung sein würden, von der alle späteren Hoffnungen zehren sollten.“3

Ich hatte das republikanische Spanien nicht idealisiert, denn ich wußte, daß es in Barcelona innere Konflikte gab, einen kleinen Bürgerkrieg, der mitten im großen tobte und der insbesondere die Ermordung Andreu Nins4 durch die sowjetische Geheimpolizei von General Orlow zur Folge hatte. Doch ich hatte die dunkle Empfindung, daß diese Katastrophe der Anfang einer noch schrecklicheren historischen Katastrophe war; ich spürte, daß der Fall Barcelonas nicht der einzige bleiben würde, und kaum ein Jahr darauf folgte ihm der Frankreichs, dann der Europas.

Als ich zum ersten Mal nach Barcelona kam, nach dem Krieg, wurde auch ich ein Opfer jener „Liebesvergiftung“, von der einmal ein deutscher Schriftsteller sprach, der Barcelona für sich entdeckt hatte. Und mehr als je zuvor liebe ich das heutige Barcelona, diese Stadt der Hoffnung, diese offene Stadt des Friedens, mit dem Reichtum ihrer katalanischen Kultur, ihrer spanischen Kultur und der Kulturen der iberischen Gastarbeiter, die in ihr zu Katalanen geworden sind. Barcelona ist eine Stadt, die aus ihrer Vergangenheit schöpft und sich gleichzeitig einer Zukunft öffnet, die iberische, europäische und mediterrane Elemente in sich vereint.

So wie ich den Fall Barcelonas 1939 als ein Menetekel für Europa empfand, empfinde ich auch den Verlust des multi-ethnischen Reichtums von Bosnien-Herzegowina und die Belagerung von Sarajevo als einen schweren Schock und als ein unheilvolles Vorzeichen. War Bosnien-Herzegowina nicht bereits ein Modell im Kleinen für das Europa, das wir uns wünschen? War es nicht laizistisch und multi-religiös zugleich? Die Zerstörung Bosnien-Herzegowinas trifft die Idee Europas und die Chance Europas mitten ins Herz.

Die Wiederkehr der Säuberungen

WIR erleben, wie ein Übel zurückkehrt, von dem wir dachten, daß es mit der Schaffung der Europäischen Union überwunden sei. Sicher, der Nationalstaat hat in der Geschichte Europas eine wichtige zivilisatorische Rolle gespielt, aber immer steckte in ihm ein verborgener Hang zur Säuberung. Die nationale Säuberung war zunächst religiöser Natur. So 1492 in Spanien, dann mit dem Triumph des Prinzips cuius regio, eius religio5, mit der Vertreibung der Protestanten nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685, aber auch mit der allerorten anzutreffenden Vertreibung oder Ghettoisierung der Juden. Dann, im 20. Jahrhundert, wird die Säuberung rassisch und ethnisch. Die griechisch-türkischen Kriege bewirkten massive Umsiedlungen von Griechen Kleinasiens nach Makedonien und von Türken Makedoniens in die Türkei, später wollte Hitler Deutschland von den Juden, den Zigeunern, den Geisteskranken säubern. Am Ende des Krieges wurden die Deutschen aus Schlesien und dem Sudetenland, die Polen aus der Ukraine vertrieben.

Heute sind alle Konflikte, ob im ehemaligen Jugoslawien, in Europa oder im Mittelmeerraum, gezeichnet von furchtbaren ethnischen und religiösen Segregationen. Das einzige Mittel gegen die geschlossenen Konzeptionen von Volk und Nation ist die Gemeinschaftsbildung. Das Schicksal Europas liegt in der Alternative „Gemeinschaft oder Barbarei“ beschlossen. Und nicht nur das Schicksal Europas, auch das des Mittelmeers.

Das Mittelmeer! Ein Meer, das ebensoviel Verschiedenheit wie Einheit besitzt. Ein Meer der extremen Fruchtbarkeit und der extremen Dürre! Ein Meer, dessen Zentrum von seiner Umgebung gebildet wird! Ein Meer der Gegensätzen, in dem sich Maß und Maßlosigkeit widerstreitend ergänzen! Die Wiege der Kulturen der Öffnung und des Austausches! Der Nährboden des heiligsten und des profansten Geistes! Mutter der polytheistischen und monotheistischen Religionen! Mutter einer Mysterienkultur, die die Auferstehung nach dem Tode verheißt, und einer Weisheit, die verlangt, daß man das Nichts des Todes akzeptiert! Mutter der Rationalität, des Laizismus und der humanistischen Kultur! Mutter der Renaissance und der Moderne des europäischen Geistes! Meer der Kommunikation von Ideen und des Zusammenflusses von Wissen, auf dem Aristoteles von Bagdad über Fes an die Pariser Sorbonne gereist ist! Meer dreier Kontinente mit fruchtbaren Begegnungen und tragischen Brüchen zwischen Ost und West, Süd und Nord! Meer, das einmal die Welt war und für uns mediterrane Menschen auch die Welt bleibt!

Unser Mittelmeer ist kleiner geworden, das globale Zeitalter hat aus ihm einen See im Süden Europas gemacht. Darin badet ein Südeuropa, das selbst auf die Ausmaße einer Schweiz geschrumpft ist, vergleicht man es mit den großen Kontinentalmassen, die den Pazifik säumen, den neuen Schwerpunkt der Welt. Dieses Mittelmeer, das sich also eigentlich der Stille und des Friedens eines Sees erfreuen sollte, wird gleichwohl wieder ein Ort der Unruhen. Dieses marginalisierte Mittelmeer wird wieder zu einer der wichtigsten Erdbebenzonen des Planeten.

Alarm! Ich schlage Alarm, weil Europa sich just in dem Moment vom Mittelmeer abzuwenden beginnt, wo dort die Probleme und Gefahren immer größer werden. Die Phänomene der Zersplitterung und Abkapselung, die ein wenig überall anzutreffen sind, häufen sich im Mittelmeerraum. Aus dem Meer der Kommunikation wird ein Meer der Segregationen, aus dem Meer der Rassenvermischung ein Meer religiöser, ethnischer, nationaler Säuberungen. Die kosmopolitischen Metropolen, wirkliche „Welt- Städte“, Schmelztiegel der mediterranen Kultur, haben nacheinander ihre Vielfarbigkeit verloren: Saloniki, Istanbul, Alexandrien, Beirut, das im Todeskampf liegende Sarajevo.

Seit 1989 hat sich Westeuropa, das sich dem jetzt offenen Osten zuwandte, von den großen Problemen des Mittelmeers abgewandt, obwohl es doch auch die seinen sind. Die europäische Wirtschaft hat sich den potentiellen Märkten des Ostens zugewandt und schielt begierig auf den riesigen chinesischen Markt. Das Mittelmeer wird mehr und mehr vergessen.

Die europäischen Mächte haben ohnmächtig den israelisch-palästinensischen Konflikt und die Tragödie im ehemaligen Jugoslawien verfolgt, jetzt stehen sie entgeistert vor der algerischen Tragödie.

Die Länder Südeuropas, insbesondere die romanischen, haben kein gemeinsames Programm für eine mediterrane Politik entwickelt. Aus dem offenen Europa scheint wieder eine Festung zu werden, die Fremdes von sich fernhält. Nun, wo erste Ansätze sichtbar wurden, den Islam in Europa zu integrieren (posthum in Spanien, das seine maurische Vergangenheit wieder seiner Identität einverleibt, höchst lebendig in Frankreich und Deutschland mit den maghrebinischen und türkischen Einwanderern), genau jetzt kehrt der alte europäische Dämon zurück: man versucht wieder, den Islam zu verdrängen und auszuschließen. Die serbische Offensive in Bosnien ist nicht bloß ein trauriges Ereignis, sie ist die Fortsetzung der Reconquista.

Man hat zugelassen, daß das polyvalente und multi-ethnische Bosnien- Herzegowina zerstört wurde, und nachdem es von allen Seiten beschnitten wurde und nur noch eine Art letzte Bastion der Muslime ist, erschrickt man vor dem Gedanken eines muslimischen Staats. Norden und Süden, Osten und Westen beargwöhnen sich gegenseitig.

Das Mittelmeer als gemeinsamer Nenner rückt aus dem Blick. Mehr noch: Man muß sich klarmachen, daß es eine große seismische Linie gibt, deren Anfangspunkt im Kaukasus liegt, in Armenien-Aserbeidschan, und die sich mittlerweile bis in den westlichen Mittelmeerraum erstreckt: fast fünfzig Jahre wütete das Beben im Nahen Osten, es hat Bosnien-Herzegowina zugrunde gerichtet und verwüstet Algerien. Entlang dieser seismischen Linie verschärfen sich auf verhängnisvolle Weise die verschiedensten Gegensätze: Ost/West, Nord/Süd, Reich/Arm, Alter/Jugend, Laizismus/Religion, Islam/Christentum/Judentum ... Wir können zwar darauf hoffen, daß der Friedensprozeß in Nahost Fortschritte macht, vor allem dadurch, daß die Palästinenser ihre nationale Unabhängigkeit bekommen; doch das geo-historische Schwarze Loch dort bleibt, und zwei neue Schwarze Löcher haben sich in Bosnien und Algerien aufgetan. In Algerien war nicht nur der Wahlerfolg der FIS verheerend, sondern ebenso die Annullierung dieser Wahl, und man nähert sich unaufhaltsam der Katastrophe. Was wird aus Algerien? Welche gigantische geopolitische Erschütterung bereitet sich dort vor? Wird der Mittelmeerraum sich weiter abkapseln? Wird alles in Flammen aufgehen?

Unter diesen tragischen Umständen sind paradoxerweise die schlimmsten Feinde die einzigen, die zusammenarbeiten; ebenso wie in Italien der schwarze und der rote Terrorismus die gleichen Methoden und Angriffsziele hatten, denn beide wollten die Demokratie zerstören, ebenso sind es in Israel-Palästina die fanatischen Kämpfer auf beiden Seiten, die mit Feuereifer zusammenarbeiten, um den Frieden zu sabotieren. Und ebenso arbeiten in Algerien der Terror der Attentate und der Terror der Unterdrückung zusammen, um jede demokratische Lösung zu verhindern. Überall haben die Haßgefühle der Gegner einen gemeinsamen Feind: die Eintracht, die Versöhnung, das Mitleid, die Vergebung.

Können wir das Mittelmeer retten? Können wir ihm seine kommunikative Funktion zurückgeben, sie vielleicht sogar noch steigern? Können wir diesem Meer des Austausches und der Begegnung, diesem Schmelztiegel und Nährboden der Kultur und Zivilisation neues Leben einhauchen?

Es gibt ökonomische Lösungen, doch sie allein sind unzureichend und werfen mitunter eigene Probleme auf; so ist die Kreditvergabe des IWF an Bedingungen geknüpft, die sich nicht immer erfüllen lassen, wenn man politische und soziale Desaster vermeiden will. Es bedarf der Entwicklung, doch unser Entwicklungsbegriff, der selbst unterentwickelt ist, muß völlig neu durchdacht und von Grund auf verändert werden. So muß etwa nicht bloß eine industrielle Ökonomie geschaffen werden, sondern auch wieder eine des gastfreundlichen Zusammenlebens.

Schon heute suchen die vielen Ruheständler, die sich an den Küsten des nördlichen Mittelmeers einfinden, dort nicht bloß die Sonne und schönes Wetter, sondern auch das idyllische Leben, eine Lebensfreude und eine Lebenskunst. Zur mediterranen Lebenskunst gehört die Extrovertiertheit des öffentlichen Platzes, des paseo, des corso, das heißt eine Kunst der Kommunikation. Zu ihr gehört auch unsere Gastrosophie, deren Emblem die Frucht und der Zweig des Ölbaums sind. Die Kontinentaleuropäer, die sich in den Ferien oder auf Dauer an den noch intakten Orten niederlassen, suchen dort nach einem Gegengift gegen die Mechanisierung, die Verplanung, die Anonymisierung, die Hast.

Wir verfügen in unseren mediterranen Kulturen über die Mittel, um uns gegen die Standardisierung und Homogenisierung zu wehren. Unsere Landschaften, unsere Kulturdenkmäler und alten Bauten sind nicht bloß ästhetische Objekte; sie besitzen ein Fluidum, das uns durchdringt, sind Träger subtiler Wahrheiten, die zu unseren Wahrheiten werden. Und haben wir nicht die Aufgabe, außer unseren Pizzas, Couscousgerichten, Taramas, Tapas und Weinen auch diese Lebenskunst zu verbreiten?

Doch die Verteidigung dieser Lebensqualität setzt voraus, daß man der Barbarei widersteht, die mit einer unkontrollierten technisch-industriellen Entwicklung einhergeht. Wir müssen uns gegen den Beton und Asphalt wehren, der schon so viele unserer Küsten verschandelt hat, wir müssen gegenüber dem entfesselten Profitdenken auf den Werten der gegenseitige Hilfe beharren.

Mit anderen Worten: Wir brauchen eine Politik der Erneuerung des Mittelmeerraums, die vor allem darauf hinwirken muß, daß das Meer wieder sauber und fischreich wird. Dies ist in Ansätzen schon geschehen, muß aber systematisch und gemeinsam betrieben werden. Teil einer solchen Politik müßte es aber auch sein, soweit irgend möglich die Landwirtschaft wiederzubeleben, das heißt einen Gemüse- und Ackerbau gehobener Qualität zu entwickeln, wie dies im Weinbau schon in vielen Ländern gelungen ist.

Zu guter Letzt aber fordert nicht bloß die Verteidigung der Lebensqualität, sondern die Verteidigung des Lebens selbst eine Migrationspolitik, die freilich nur möglich ist, wenn es uns gelingt, die heute leider so eng mit ethnischer Furcht verknüpfte demographische Furcht zu überwinden, indem wir den noblen Geist der Gastfreundschaft wiederaufleben lassen, die Liebe zur Vielfalt, die Achtung des anderen, der uns ergänzt und nicht bedroht.

Für eine große moralische Erneuerung

ZUNÄCHST aber müssen wir etwas gegen den tiefen Riß unternehmen, der den Mittelmeerraum gespalten hat. Wir dürfen den Islam und die arabische Welt nicht länger als monolithische Blöcke oder potentielle Aggressoren betrachten. Wir sollten daran denken, wie oft wir schikanieren, mit zweierlei Maß messen, wie oft wir schon Hoffnungen enttäuscht haben. Wir müssen vereinigen, verbinden und wieder dem Gemeinsamen den Vorrang geben. Um zur Identität des mediterranen Bürgers zurückzufinden, müssen unsere verschiedenen Identitäten sich zu einer verflechten, statt sich gegenseitig zu verdrängen.

Es gibt keine echte Brüderlichkeit ohne Mütterlichkeit: Wir müssen unserer Mutter, dem Meer, ein neues Leben schenken. Es gibt einen überschwenglichen, doch allzu simplen Mythos vom Mittelmeer, der übersieht, daß Zersplitterung, Zerstörung und Intoleranz ihren Ursprung oft im Mittelmeerraum selber haben. Doch wir brauchen einen fruchtbaren Mythos, der unsere Sehnsucht ausdrückt, daß unsere besten Möglichkeiten Wirklichkeit werden mögen. Und wir brauchen vor allem Verständnis. Was unterscheidet das Verstehen von der Erklärung und macht es zur ihrer notwendigen Ergänzung? Nun, es erlaubt uns, den anderen nicht nach unserem Bilde, sondern nach dem Bilde seiner selbst zu betrachten, als alter ego, und seine Gefühle und Reaktionen von innen heraus zu verstehen. Den anderen zu verstehen, ist heute ein lebenswichtiger Imperativ.

Das aber setzt eine große moralische Wiedergeburt, einen großen moralischen Wandel voraus: Wir müssen aus tiefstem Herzen die Eintracht, die Versöhnung, das Mitleid, die Vergebung wollen. Und ich schließe meine Ausführungen mit dem ersten aller mediterranen Grüße: Friede sei mit euch. Friede sei mit uns.

(Dieser Text beruht auf der Rede, die der Autor bei der Verleihung des internationalen Catalunya-Preises 1994 in Barcelona gehalten hat.)

dt. Andreas Knop

* Soziologe, Autor von „Europa denken“, Frankfurt am Main 1991, und „Einen neuen Anfang wagen“, Hamburg 1992.

1 Anm. d. Red.: Hebräischer Name für Spanien.

2 Anm. d. Red.: Am 26. Januar 1939, während des spanischen Bürgerkriegs, besetzten Francos Truppen Barcelona.

3 Vergleiche Edgar Morin, „Autocritique“, Paris: Seuil 1970, S. 21.

4 Anm. d. Red.: Katalanischer Politiker, Gründer der Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit (Partido de Unificación Marxista – POUM), während des spanischen Bürgerkriegs verschollen (wahrscheinlich von Agenten der spanischen Kommunistischen Partei ermordet).

5 Anm. d. Red.: Monarchisches Prinzip, wonach die Religion des Souveräns die der Untertanen festlegt.

Le Monde diplomatique vom 11.08.1995, von Edgar Morin