11.08.1995

Ort der wichtigen Nichtigkeiten

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Ort der wichtigen Nichtigkeiten

ALS riesiger Wartesaal ohne Hoffnung auf Abfahrt – so erscheint dem Ethnologen Marc Augé der Strand, der „Ort der wichtigen Nichtigkeiten“. Und auch ein Ort der Ungleichheit – es gibt öffentliche und private Strände –, an dem die Touristen ihr Territorium mit fast militärischer Strategie besetzen und verteidigen, besonders natürlich in der sommerlichen Hochsaison. Zugleich ist er ein modernes Symbol des Glücks und der kleinen Fluchten (die Achtundsechziger hofften, ihn unterm Pflaster zu finden) und ein Ort, an dem Körper nach sehr präzisen Regeln und Codes zirkulieren und sich ausstellen. Und diese Regeln sagen einiges über die Tabus in einer Gesellschaft, die eine Krise ihrer Zivilisation durchmacht.

Von unserem Sonderkorrespondenten MARC AUGÉ *

Letzter Sonntag im Juni. So zerstreut ist kein Ethnologe, daß er am Vorabend eines Initiationsritus zu Hause bleibt; kein Astronom verläßt sein Observatorium, wenn in zwei Tagen die Sonnenfinsternis des Jahrhunderts erwartet wird. Aber genau das war bei mir der Fall. Ich sollte einen Artikel über die Sommerstrände für die Augustausgabe schreiben. Lang sollte er nicht sein (acht Seiten, ein oder zwei Strände). Aber wenn ich ihn rechtzeitig abliefern wollte, blieben mir nur die letzten Junitage, um mich ins Bad zu stürzen. Nach einer Spazierfahrt an den Ufern der Loire war ich in der Gegend von Saint-Nazaire angekommen, viel zu früh, wie ich glaubte. Vielleicht wäre ich besser in Paris geblieben und hätte die beiden soeben erschienen ausgezeichneten Bücher über die Bräuche des Strandlebens und die Mode des nackten Busens rezensiert ... Daß ich mir außerdem einen alten Traum erfüllen wollte, erschwerte meine Aufgabe. Wenn du schon an den Strand fährst, hatte ich mir gesagt, dann kannst du dich auch auf die Suche nach alten Erinnerungen machen – ich meine Erinnerungen eines Zuschauers, Erinnerungsbilder. Ich wollte in jenes Strandhotel, das wir aus den „Ferien des Monsieur Hulot“ kennen, dem berühmten, 1953 gedrehten Film von Jacques Tati. In Saint-Marc-sur-Mer, Département Loire-Atlantique, hatte ich meine Ferien noch nie verbracht, auch wenn mir der Film mit seinen Villen von 1900, dem gut erzogenen jungen Mädchen, der Familienpension und den Sommerfrischen-Ritualen schon damals wie das Abbild meiner eigenen Ferien in der Bretagne erschien. Natürlich, das mußte heute alles ganz anders sein. Ich würde zu früh in eine zu alte Welt kommen, zu einer Zeit, in der Tati die Vorzeichen der Ferien noch in der Stadt beobachtete (woraus „Mon oncle“, „Playtime“ und „Trafic“ entstanden). Kurz, ich war unruhig. Ich wußte nicht recht, was ich suchte, und war überzeugt, zur Unzeit zu handeln.

Doch dann – für Wettereinflüsse bin ich nun mal sehr empfänglich – siegte bei mir der Optimismus. Der Himmel war blau, die Temperatur sommerlich. Warum sollte ich nicht einfach über meine persönlichen Eindrücke schreiben, ohne gleich die besondere Schärfe des ethnologischen Blicks unter Beweis stellen zu müssen?

Ich kam zur Mittagszeit in Saint-Marc- sur-Mer an, schaute heimlich beim Strandhotel vorbei und machte einige Schritte am Strand. Magere Ernte: Ein paar junge Leute schliefen auf dem Sand, ein Kind spielte im Wasser. Ich begab mich zur Mole, an die ich mich aus dem Film erinnerte, und kam an einer jungen Frau mit nacktem Busen vorbei – das einzige Beispiel dieser immer noch ein wenig erstaunlichen Sitte. Am meisten frappierte mich aber, wie ähnlich der Ort, von Einzelheiten abgesehen, dem Bild war, das der Film von ihm gemacht hatte. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, mich einem alten Gemälde einzuverleiben, in der Zeit zurückzugleiten und inkognito in einer Fiktion zu verschwinden: Ich erkannte alles wieder, vor allem das Mansardenfenster, von dem aus Hulot- Tati seine Sommergefährten beobachtet hatte.

Aber wechselte ich da nicht das Thema? Mein Berufsethos gewann die Oberhand. Ich fuhr zum großen Strand von La Baule, in der Hoffnung, daß das Spektakel in dieser Metropole des Strandlebens schon begonnen hätte. Und in der Tat: Es ging los. In Sainte-Marguerite und Pornichet wurde das Treiben dichter. In La Baule selbst zeugten kleinere Staus auf der Küstenpromenade von der unmittelbar bevorstehenden Reisewelle, auch wenn andere Zeichen auf eine gewisse Verlassenheit hindeuteten (überall prangten Tafeln mit der Aufschrift „Zu verkaufen“ auf der Außenseite des neuen Atlantikwalls, als ob sich die Leute auf ihren Reihenbalkons, kaum daß der Juli näherkam, am Anblick des Meeres sattgesehen hätten). Nun brandete das Europa des Nebels an unsere Küsten. Ich setzte mich auf die Terrasse eines Strandrestaurants und ließ mir einen thailändischen Salat empfehlen. Ich bestellte und beobachtete.

Zeiteinteilung, Raumbesetzung und Körpereinsatz

ES war entschieden mehr los als in Saint-Marc, aber die Besetzung des Raums war noch unproblematisch. Noch waren die Grüppchen mit ihren sorgsam ausgebreiteten Badetüchern und den stolz aufgepflanzten Sonnenschirmen in der Horizontale durch einen Abstand von gut zwölf Metern voneinander getrennt. Auf der goldenen Unendlichkeit des „schönsten Strands Europas“ ordneten sie sich in einem Muster, das dem der Fünf auf dem Würfel glich. Beim Kaffee wurde mir dann die Offenbarung zuteil. Es war drei Uhr, der Strand bevölkerte sich immer schneller. Ich begriff, daß La Baule durchaus schon gut besucht war, daß das Strandleben eben nur eigenen Rhythmen folgte und seine Zeiten hatte. Das wußte ich ja eigentlich, und ich hätte mich wirklich daran erinnern müssen, aber hier wurde der Beweis durch das noch recht geringe Nebensaison-Publikum sozusagen in Zeitlupe und darum noch schlagkräftiger erbracht. In weniger als einer Stunde verringerte sich der Horizontalabstand zwischen den Gruppen von zwölf auf sechs und dann sogar auf drei Meter, wobei das Würfelmuster bestehen blieb. Wie wird das erst Mitte August bei Flut aussehen?

Zeiteinteilung, Raumbesetzung, Körpereinsatz: So müßten die Grundbegriffe einer Ethnologie des Strandes lauten. Zwei junge Frauen hatten mich kurze Zeit zuvor auf diese Spur gebracht. Sie hatten sich in gelenkigem Körperschwung aufgerichtet, die Oberteile ihrer Bikinis wieder angelegt, um ihre Kinder zu rufen und an einem Nebentisch den gleichen thailändischen Salat zu bestellen, den ich schon gekostet hatte. Die Zeiteinteilung am Meer ist überaus konventionell. Morgens ist der Strand dünn bevölkert. Mittags wird gegessen. Die Spitzenzeiten liegen am Nachmittag. Recht früh kehrt man dann nach Hause oder ins Hotel zurück.

Durch die charakteristische Inaktivität des Strandlebens (die ausgestreckte Körperhaltung ist unerläßlich, es gibt wenig Hin und Her zwischen den Gruppen, ab und an lassen die Jungen ein Wort fallen) wird das Vergehen der Zeit sinnlich erfahrbar: Man ermißt die Länge der Minuten, die Kürze der Stunden. Die Zeit wird mit einem Mal konkret. Es ist das Wunder des schönen Wetters, das der Zeit einen Körper gibt. Was folgt, sind Temperamentsfragen. Die einen (sie sind in der Mehrheit) knüpfen mit einer gewissen Erleichterung an die Gewohnheiten an („sieben Uhr, gehen wir einen Aperitif trinken“), die anderen (die Minderheit) brechen die Gewohnheit – sie möchten sich selbst als die Happy-few sehen: „Schon sieben! Wer hätte das gedacht, es ist noch so schön, so hell. Und alle sind schon weg, das sollten wir ausnutzen.“ Aber es gibt niemanden, für den die Minuten nicht zählen. Am Strand fühlen die Sommerfrischler, wie die Zeit vergeht. Sie finden ihre Dichte wieder, und diese Dichte verschafft ihnen ein Gefühl von Kindheit: eine Art Dauer.

Diese Rückkehr zu den Quellen verlangt übrigens keine Kontaktaufnahme zum Meer, keine Verschmelzung mit dem Hauptelement. Zwar planschten an diesem brütend heißen Tag Ende Juni ausnahmslos alle Kinder, doch nur wenige Erwachsene schwammen ein paar Züge. Das Meer war für diese ausgestreckten Körper vor allem ein Klang, eine rauschende Nähe und manchmal auch (wenn ein gewisses Bewegungsbedürfnis entstand oder man sich umdrehte) Gegenstand eines ein wenig verlorenen Blicks. Am Meer gibt es nichts zu sehen außer dem Meer, auch wenn zuweilen ein Schiff oder ein Vogel die ruhige Fläche auflockern. Vom Strand aus kann man das Ufer nicht sehen, man sitzt ja drauf. Das Meer zu betrachten, heißt hier, ins Licht einzutauchen, sich daran zu blenden, und, wenn es nachläßt, seine geringsten Nuancen zu verzeichnen. Das Meer gibt der Zeit Farbe.

So wurde also an diesem Nachmittag gegen vier Uhr am Strand von La Baule mancher Blick ins Meer gerichtet. Auf der Strandpromenade verlangsamte hier und dort ein Spaziergänger seinen Schritt, stützte sich auf die Balustrade und ließ seine Augen über den Sand und den Ozean zum Horizont schweifen. Von ihren Balkons aus betrachteten einige schon heimgekehrte müde Touristen das Panorama: Eine Kaskade von Blicken ergoß sich ins Meer.

Der Strand von La Baule ist ein riesiger Wartesaal ohne Hoffnung auf Abfahrt. „Du wolltest den Abend, er sank herab, da hast du ihn ...“: Die Nacht kann die Touristen nicht überraschen – aber sie haben auf sie gewartet, zu zweit, dritt oder viert (Einzelgänger sind rar), mit ihrem ganzen Gewicht auf dem Sand in ihrer kleinen Festung aus Taschen und Badetüchern, unbeweglich. An der Atlantikküste, die prüder ist als die Côte d'Azur, hemmt die Nacktheit der Brüste die Bewegung noch mehr, halbnackte Körper rühren sich kaum.

Zurück in Saint-Marc machte ich die gleiche Feststellung: nachmittags hatte sich der Strand belebt. Aber er gehorchte nicht der gleichen Ordnung wie in La Baule. Die Geometrie der Fläche wich hier einem liebenswürdigen Durcheinander in der nächsten Nähe des Meers. In La Baule hatte ich bemerkt, daß sich die Badegäste verhielten wie der Schüler vor seinem karierten Blatt: Sie ließen einen Rand. Sie näherten sich dem Meer nicht weiter als bis auf dreißig Meter, nur ein paar kühne Ausreißer unter den Wellen verringerten den Abstand. Wahrscheinlich veranlaßte sie die Kühle des gerade erst freigelegten Strandes zu dieser Vorsichtsmaßnahme – im Juni war sie noch möglich. Nichts dergleichen in Saint- Marc: Vor dem großen Sommeransturm machten die Strandbesucher noch einen jüngeren und lokaleren Eindruck. Selbst ein paar einheimische Alte mit Hut hatten sich auf den Sand gewagt, um ihre Enkel spielen zu sehen. Jugendliche Mädchen mit braven Badeanzügen neckten mit provokantem Lachen ihre Cousins. Zwei oder drei stark an Tati erinnernde Hunde hetzten von einer Gruppe zur anderen.

Der Strand: Was für ein seltsamer Singular, sagte ich mir, als ich mich selbst auf den warmen Sand legte, um diese unschuldigen und familiären Spiele mit mehr Komfort und Lust zu betrachten. Man brauchte nur von La Baule nach Saint- Marc zu gehen, um das Milieu zu wechseln – oder die Klasse, wie man einst in einer alten Sprache gesagt hätte, die noch keine Angst vor den Wörtern kannte. Immerhin gestattete das Übermaß an Sand und Raum in La Baule noch ein Minimum an Demokratie.

Ich erinnerte mich an jene Strände des Südens an der Côte d'Azur, wo dem öffentlichen Raum [darunter versteht man in Frankreich die Wasserlinie, was eine gesetzliche Bestimmung ist, Anm. d. Ü.] der bloße Pflichtteil zugestanden wird. Gewiß, das Gesetz wird respektiert, aber die Masse mit ihren Handtüchern, Bademänteln und Picknickkörben sieht sich an ein Ende des Strandes gedrängt, der im übrigen den professionellen Strandunternehmern vorbehalten ist. Einige Volkshelden, die das Gesetz kennen, gehen ab und zu an der Wasserlinie lang, als wollten sie den irrigen Zorn der Privilegierten im Sonnenbade erregen. Einige (ich früher auch!) klettern sogar über schroffe Felsen oder nehmen ein Boot, um an den nassen Rand der Privatstrände zu gelangen und die Villen „mit dem Fuß im Wasser“ zu sehen, aus denen einem dann die erstaunten, ungläubigen, mißgelaunten Besitzer entgegenlaufen. Zugang zum Wasser und zur „unverbaubaren Aussicht“ gehören zu den sichtbarsten Privilegien der Großen dieser Welt.

Das kleine Sandquadrat mit Liegestuhl, Luftmatratze und Sonnenschirm, das die muskulösen Strandbetreiber ihrer Kundschaft reservieren, ist noch der bescheidenste und zugleich ostentativste Ausdruck dieser Privilegien: Die wahren Reichen tarnen sich. Zu ihren Schlupfwinkeln gelangt man nur über Schleichwege, es sei denn, man kommt von hinten, übers Meer, bei einer kleinen Angelpartie zum Beispiel. Da entdeckt man dann die Rückseite der Anlage (paradoxerweise die Meerfassade) und zugleich den diskreten Ehrgeiz, mit dem sie es geschafft haben, sich die Welt zu eigen zu machen oder zumindest den Blick auf sie in Beschlag zu nehmen.

Je näher die Natur, desto schärfer die Ungleichheit. Das Recht auf Natur, Einsamkeit und Nacktheit ist kostspielig. Touristen aller Länder, vereinigt euch!

So weit war ich mit meinen revolutionären Erwägungen gediehen, als meine Gedanken durch das Wohlsein abgelenkt wurden, das die Wärme des Sandes, das Plätschern des Meeres und das noch helle Licht des Nachmittags in mir auslösten. Der Strand: Unter diesem Singular verbargen sich eine Menge Ungleichheiten. Dabei hatte ich bis dahin noch kaum an jene ausgedehnten, mit Kokospalmen bestandenen Strände in Afrika und Südamerika gedacht – obwohl ich sie kannte –, die bloß als Hafen für Fischerbarken oder Ersatz für fehlende Müllhalden dienen.

Aber der Strand – im Singular – stellte im Westen auch das allgemein geteilte und wohl auch trügerische Symbol der Befreiung, des Glücks vielleicht und ganz gewiß des Jenseits dar. Der Freudenschrei des jungen Proust vor einer scheinbaren Bewegung des Terrains in der Beauce, der atemlos rennende Held am Ende von Truffauts „Sie küßten und sie schlugen ihn“, der glückstrunkene Refrain eines mythischen und populären Paars (ein Mann, eine Frau), den Claude Lelouch uns einst zuteil werden ließ, das Gedicht von Baudelaire und das Chanson von Charles Trenet: In all dem hören wir den Widerhall unseres eigenen Freudenschreis, den das wirkliche oder fiktive Schauspiel eines Ufers oder Horizonts – kurz: des Meers! – in jedem von uns schon auslöste.

Jeder dreht hier seinen eigenen Film

LETZTER Montag im Juni. Saint-Marc bescherte mir meine Belohnung in zwei Phasen und drei Akten. Am Spätnachmittag kehrte ich in mein Zimmer zurück, öffnete mein Fenster und legte mich eine Weile lang aufs Bett. Mit einem Male fühlte ich mich in Jacques Tatis Film versetzt. Kinderstimmen, Hundebellen, Wortfetzen, das klatschende Geräusch der Handflächen, die auf einen Volleyball schlagen: Kein Toningenieur der Welt hätte das besser machen können. Ich ging ans Fenster und sah vor mir (ehrlich, ich schwör's!) ein ziemlich altes Paar, das sich mühsam den Weg durch den Sand bahnte – sie ein paar Schritte vor ihm, ein wenig geziert, er hinter ihr, ein wenig verschmitzt – das unweigerlich das Paar aus den „Ferien de Monsieur Hulot“ vor mir heraufbeschwor.

Abends aß ich im Hotel. Einige Gestalten (eine Engländerin mit Brille vor allem) wären in dem Film keineswegs deplaziert gewesen. Der Wirt erzählte mir, daß nur die Engländer eigens anreisen, um den Drehort wiederzusehen. Die Engländer, setzte er hinzu, mögen Tatis Humor lieber als die Franzosen, und er machte mich darauf aufmerksam, daß Tati selbst ein paarmal nach Saint-Marc zurückgekommen war, um fürs englische Fernsehen ein paar zusätzliche Szenen und Remakes zu drehen. Später kam er auch zum eigenen Vergnügen mit seiner Familie. Jacques Tati hatte es also wie ich gemacht: Er hatte den Filmstrand mit dem Strand gleichgesetzt, den er damals – und ich jetzt – vor Augen hatte.

Er hatte recht. Gefilmt oder nicht: Der Strand bleibt der Ort der wichtigen Nichtigkeiten. Am Strand verbringt man die Zeit, und die verbrachte Zeit läßt sich nur am Strand wieder einfangen. Fantasie und Gedächtnis verschmelzen im unschuldigen Verbrauch der verlorenen und wiedergefundenen Zeit. Erinnerungen sind am Strand genauso fiktiv und genauso wahr wie Träume. Jeder verliert sich hier, und jeder findet sich wieder. Jeder dreht hier seinen Film.

dt. Thierry Chervel

BUCHHINWEISE:

Sur la plage. M÷urs et coutumes balnéaires von Jean-Didier Urbain, Paris, Payot 1994, 135 Francs.

Ein geistreiches, leichtes, aber nicht oberflächliches Buch. „Sur la plage“ zeigt mit Talent die Ängste und Abgrenzungen gegenüber den Strandnachbarn, die sich am Meer ausbreiten. Als historische und soziologische Arbeit lädt das Buch uns ein, die Riten und Sitten des Badelebens zu studieren, um so die so charakteristischen Schwierigkeiten unserer Gesellschaft im Umgang mit „den anderen“ zu erkennen.

Besonders bemerkenswert ist die Unterscheidung zwischen Sommerfrische und Tourismus, Immobilität und Nomadentum, ohne Zweifel ein wichtiges Begriffspaar für die Erforschung der europäischen Mentalitäten.

Corps de femmes, regards d'hommes. Sociologie des seins nus von Jean-Claude Kaufman, Paris, Nathan 1995, 139 Francs.

Wie in seinen vorherigen Büchern geht der Autor von einem scheinbar unwichtigen Phänomen (den nackten Brüsten am Strand) aus, um nach Codes, Regeln und gesellschaftlichen Bedeutungen zu fragen. Seine Strandbeobachtung führt ihn zur Analyse der Rollen des Körpers und des Blicks in unserer Gesellschaft. Der immer stärkere Individualismus, die Mediatisierung und die zunehmend brüchigen sozialen Bindungen weisen die Fluchtlinien möglicher Entwicklungen.

Besonders bemerkenswert die feinsinnige Soziologie der – voyeuristischen oder unschuldigen – Blicke im Kopf der Objekte dieser Blicke.

M.A.

Le Monde diplomatique vom 11.08.1995, von Marc Auge