11.08.1995

Erlaubt ist alles, was keiner sieht

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Erlaubt ist alles, was keiner sieht

IN den meisten europäischen Ländern läuft die Saison des Profifußballs wieder an, und die Vorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft 1998 werden intensiviert. Gleichzeitig wächst unter den Anhängern dieses Sports die Sorge über die Folgen seiner immer ungehemmteren Kommerzialisierung. Gefälschte Spiele, bestochene Schiedsrichter, enthemmte Gewalttätigkeiten – alle Mittel scheinen erlaubt, wenn sie den Sieg bringen.

Von EDUARDO GALEANO *

Im Jahr 1988 enthüllte der mexikanische Journalist Miguel Ángel Ramirez einen seltsamen Jungbrunnen. Einige Spieler der Jugendauswahl Mexikos, welche die Altersgrenze um zwei, drei, ja sogar sechs Jahre überschritten hatten, waren in diesen magischen Wassern gebadet worden: Die Manager hatten ihre Geburtsurkunden gefälscht und Pässe mit unrichtigen Angaben für sie hergestellt. Dank dieser Wunderbehandlung schaffte es einer dieser Spieler, zwei Jahre jünger zu werden als sein Zwillingsbruder.

Damals erklärte der Vizepräsident des FC Guadalajara:

„Ich behaupte nicht, das sei gut so, aber man hat das immer gemacht.“

Und Rafael del Castillo, damals der Oberguru des Jugendfußballs, fragte:

„Weshalb sollte man in Mexiko nicht das Recht zu Tricks haben, wo andere Länder sie anwenden und jedermann das völlig normal findet.“

Kurz nach der Weltmeisterschaft von 1966, die in England ausgetragen wurde, erklärte der Inspektor der Argentinischen Fußballvereinigung, Valentin Suárez:

„Stanley Rous1 ist ein unfairer Mann. Er organisierte die Weltmeisterschaft so, daß England sie gewann. Aber ich würde es genauso machen, wenn die WM in Argentinien ausgetragen würde.“

Die Moral des Marktes, die in unserer Zeit die weltweit gültige ist, genehmigt alle Schlüssel zum Erfolg, auch die Einbrecher-Dietriche. Der Profifußball kennt keine Skrupel, denn er ist Teil eines skrupellosen Machtsystems, das Effizienz zu jedem Preis einkauft. Gut, man muß zugeben, um Skrupel2 wurde nie ein großes Aufhebens gemacht. Ein „Skrupel“ war im Italien der Renaissance das leichteste, das unbedeutendste unter den Gewichten. Fünf Jahrhunderte später erklärte der Deutsche Paul Steiner, Spieler beim 1. FC Köln:

„Ich spiele für Geld und für Punkte. Der Rivale versucht, mir das Geld und die Punkte wegzunehmen. Daher muß ich mit allen Mitteln gegen ihn kämpfen.“

Und Ronald Koeman, niederländischer Spieler des FC Barcelona, rechtfertigte den bösartigen Fußtritt, mit dem sein Landsmann Gillhaus den Franzosen Tigana 1988 niederstreckte, folgendermaßen:

„Das war ganz große Klasse. Tigana war der Gefährlichste, und man mußte ihn neutralisieren, koste es, was es wolle.“

Der Zweck rechtfertigt die Mittel, und jede Gemeinheit ist in Ordnung, auch wenn es sich manchmal empfiehlt, sie zu verschleiern. Basile Boli, ehemaliger Verteidiger bei Olympique Marseille, der berüchtigt war für seine Fertigkeit, fremde Knöchel zu malträtieren, erzählte von seiner Feuertaufe: 1983 legte er mit einem Kopfstoß Roger Milla, der ihn mit Ellbogenstößen genervt hatte, buchstäblich flach. Und Boli lernte daraus:

„Das ist die Anfangslektion: Schlag zu, bevor sie dich schlagen, aber schlage diskret.“

Vor allem muß man weit weg vom Ball zuschlagen. Schiedsrichter und Fernsehkameras sind auf den Ball fixiert. Bei der Weltmeisterschaft 1970 kriegte Pelé eine Schramme vom Italiener Bertini ab. Danach war der berühmte brasilianische Spieler des Lobes voll:

„Bertini war ein Künstler der verdeckten Fouls. Er jagte mir die Faust in die Rippen oder in den Magen, trat mich in die Knöchel ... ein wirklicher Künstler.“

Die argentinischen Journalisten spenden Carlos Bilardo gern Beifall für seine Schliche und Kniffe, weil er sie so geschickt einzusetzen weiß und Erfolg damit hat. Man sagt, als Bilardo noch spielte, habe er seine Rivalen mit einer Nadel gestochen und dann die reinste Unschuldsmiene aufgesetzt. Und als er dann technischer Direktor der argentinischen Nationalmannschaft war, ließ er es sich nicht nehmen, während eines der schwierigsten Spiele der Weltmeisterschaft 1990 eine Feldflasche voll verdünnter Brechmittel an Branco, einen durstigen brasilianischen Spieler, zu schicken.

Die uruguayischen Journalisten pflegen das tückische Verbrechen „hartbeiniges Spiel“ zu nennen, und mehr als einer lobte in den höchsten Tönen den „Zermürbungsfußball“, mit dem man in den internationalen Ausscheidungen die Rivalen einschüchtert. Die Knüffe und Kniffe müssen dabei in den ersten Minuten verpaßt werden. Danach läuft man Gefahr, ausgeschlossen zu werden. Im uruguayischen Fußball war die Gewalt die natürliche Tochter des Niedergangs. Vorher war garra charrúa (die spielerische Hitzigkeit der Uruguayer) ein anderer Name für Mut und Kühnheit, nicht für Prügelei. Bei der Weltmeisterschaft 1950, um nicht allzuweit zurückzugehen, beging die brasilianische Mannschaft beim Finale im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro doppelt so viele Fouls wie die Uruguayer.

Nach der Weltmeisterschaft 1990 in Italien, als der Trainer Oscar Tavárez die uruguayische Mannschaft von neuem wieder auf sauberes Spielen getrimmt hatte, konnten sich einige Kommentatoren nicht enthalten zu bemerken, daß das keine guten Resultate erbringe. Und sehr häufig ziehen es die Fans, aber auch die Fußballmanager, vor, ohne Ehre zu gewinnen, statt ehrenvoll zu verlieren.

Pepe Sasia, früherer uruguayischer Mittelstürmer, erzählte:

„Dem Torwart eine Handvoll Erde in die Augen werfen? Die Chefs finden das nicht gut, wenn es bemerkt wird.“

Die argentinischen Fans waren hellauf begeistert über das Tor, das Maradona während der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko mit der Hand erzielte, weil der Schiedsrichter den Regelverstoß nicht sah. In den Ausscheidungsspielen zur WM 1990 simulierte der Torwart der chilenischen Mannschaft, Roberto Rojas, eine Verletzung, indem er sich die Stirn aufschnitt, aber er wurde erwischt und bestraft. Für die chilenischen Fans, die ihn bis dahin vergöttert und ihm den Namen „El Condor“ gegeben hatten, verwandelte er sich augenblicklich in einen verachtenswerten Feigling, weil ihm der Trick mißlungen war.

Im Profifußball, wie überall sonst, zählt das Verbrechen nicht, wenn das Alibi gut ist. Kultur hat mit landwirtschaftlichem Anbau zu tun. Was ist es, das in uns die Kultur der Macht anpflanzt? Wie können die traurigen Ernten einer Macht aussehen, die den für so viele Verbrechen verantwortlichen Militärs oder den in endlose Raubzüge verwickelten Politikern Straflosigkeit verschafft?

Der Schriftsteller Albert Camus, der einst in Algerien Torwart gewesen war, bezog sich gewiß nicht auf den Profifußball, als er sagte:

„Alles was ich von Moral weiß, verdanke ich dem Fußball.“

1 Präsident der internationalen Fußballvereinigung FIFA von 1961 bis 1974.

2 Das Wort „Skrupel“ kommt vom lateinischen „scrupulum“: kleiner Kieselstein, der in die Schuhe gerät und das Laufen unerträglich macht.

* Uruguayischer Schriftsteller. Autor unter anderem von „Die offenen Adern Lateinamerikas“, Wuppertal 1988 und „Das Buch der Umarmungen“, Wuppertal 1991.

Le Monde diplomatique vom 11.08.1995, von Eduardo Galeano