Korsika, gefangen in seiner Geschichte
SECHS nationalistische Aktivisten wurden in den letzten Monaten auf Korsika ermordet. Jedes Jahr werden Dutzende getötet, ohne daß die Justiz die Mörder dingfest machen könnte. Die Gewalt breitet sich wie Wundbrand auf der Insel der Schönheit aus, mafiöse Geschäfte blühen, und die Attentate häufen sich. Ein Teil der Korsen ist es müde, von Frankreich abhängig zu sein. Sie träumen von einer Zukunft ohne Vormundschaft. Den separatistischen Organisationen war es zunächst gelungen, dem politischen und kulturellen Leben der Insel neue Dynamik zu geben und das Naturparadies zu erhalten, doch heute verstricken sie sich in haßerfüllte und tragische Rivalitäten. Korsika, zugleich stolz und verzweifelt menschlich, ist immer noch auf der Suche nach seiner Identität.
Von GABRIEL XAVIER CULIOLI *
André Malraux sagte einmal über General de Gaulle: „Er hatte sein Geheimnis, so wie wir Korsika haben. Es gab in ihm einen Bereich, von dem man wußte, daß man ihn nie ergründen würde. Das ist es, was ich Korsika nenne.“ Die Insel der Masken, das Land des trügerischen Scheins wird beherrscht von jahrhundertealten Sehnsüchten. Seine Erstarrung entlädt sich in plötzlichen Fieberschauern, die mal heilsam, mal mörderisch sind: Korsika entwickelt sich nicht gradlinig, sondern in kurzen, heftigen Ausbrüchen, die hinwiederum von langandauernden Depressionen und einer geradezu heimtückischen Trägheit gefolgt werden. Dann wieder muß die korsische Zeit ihren ganz eigenen Rhythmus umwerfen, um dem der Herrschenden zu folgen. Die Insel erschöpft sich in diesem Spiel, dessen Regeln sie niemals festgelegt hat.
Die einzigen Augenblicke flüchtiger Hoffnung sind die, in denen das korsische Volk seinen Feinden gegenübersteht. Wenn der Tod droht, erwachen seine Lebensgeister. Dann sammelt es sich und vereint seine Kräfte. Es kämpft, also ist es. Aber morgen schon kann auch der Freund zum Anderen werden, zu dem, den man haßt, den man mit Worten, Gerüchten oder Gewehren tötet. Die Insel leistet sich diese kannibalischen Ausschweifungen noch, die in den großen Nationen längst den Gesetzen der Mittelmäßigkeit unterworfen worden sind. Auf Korsika täuscht man Liebe vor, wo Eifersucht ist. Man schmeichelt, wenn man töten will. Man macht Umwege, anstatt gerade aufs Ziel zuzusteuern.
Ohne die nationalistische Bewegung wäre gar nichts möglich gewesen. Korsika wäre genauso zubetoniert wie die Balearen; der Naturschutzpark und die Universität würden nicht existieren, die Sprache wäre tot. Die Bewegung war das Leben. Aber mittlerweile trägt sie ein Krebsgeschwür in sich, das selbst einige ihrer Mitbegründer erschreckt. Sicher, es gibt Arbeitslosigkeit, viel zu wenig Industrie, die Insel ist ungerecht behandelt worden ... Doch das Wiederkäuen der immer gleichen Worte und Klagen ermüdet. Und Korsika verdient mehr als routiniertes Bedauern. Es stimmt: Arbeitslosigkeit und Armut produzieren Kriminalität, so wie sie einst den Zulauf zu Verwaltung, Polizei und Armee gesichert haben. Doch wer immer nur äußere Gründe benennt, die es zwar gibt, die aber nicht alles erklären können, gibt die Verantwortung für sein Schicksal an jene ab, die er bekämpfen will.
Viele Insulaner verzweifeln an der Unfähigkeit einer Bewegung, die die Pforten der Zukunft weit aufgerissen hat, jetzt aber nur Reden schwingt. Selbst untereinander können die Nationalisten keinen Dialog mehr führen. Bastia verabscheut Ajaccio, und die Stadt mißtraut dem Land. Korsika muß aber zunächst einmal lernen, sich selbst zuzuhören. Ohne diese Anstrengung wird jede Auseinandersetzung in ein Blutbad münden. Die Vorherrschaft der Untergrundorganisationen über die legalen nationalistischen Gruppen ist symptomatisch: Die Undurchdringlichkeit, die Sturmhaube und das Gewehr bestimmen selbst das Handeln derjenigen Aktivisten, die ohne Waffen und Vermummung agieren. In der nationalistischen Bewegung stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. Die erste, die bis Ende der achtziger Jahre maßgeblich war, wollte nach dem Beispiel der baskischen und nordirischen Schwestern den legalen Organisationen lediglich eine Feigenblattfunktion für den bewaffneten Kampf zugestehen, der als Inbegriff der Tugenden galt, als der Ort des wahren Heldentums. Immer mehr Pressekonferenzen der Korsischen Nationalen Befreiungsfront (FLNC) wurden in Militäruniform abgehalten und verwandelten sich in ein Forum für die vermummten, bewaffneten und bedrohlich auftretenden Kämpfer. Die Abspaltung der Nationalen Korsischen Aktion (ANC) 1989 stellte dieses Primat des Militärischen über das Politische in Frage. Und auch die FLNC-Canal habituel hat 1992 der Gewalt aus dem Untergrund eine Absage erteilt und setzt seither auf die legalen Aktionen der MPA (siehe Kasten).
Das Ritual bestimmt das Handeln
1995 scheint die Geschichte aber wieder rückwärts zu laufen. Erneut tauchen die Kämpfer der FLNC und Resistenza aus dem Dunkeln auf. Mit der Ermordung eines ehemaligen FLNC-Aktivisten durch seine eigenen Genossen und dem versuchten Attentat auf ein Mitglied der Leitung des ANC, Petru Poggioli, überschritten sie eine Grenze, die bislang respektiert worden war: Die Nationalisten hatten sich bislang nicht untereinander bekriegt. Das Drama im Furiani-Stadion und die Katastrophen, die Korsika seit zwei Jahren heimsuchen, haben die Untergangsstimmung noch verstärkt.
Als wäre es ein Hologramm des Mittelmeerraums, verkörpern die Korsen ein von inneren Erschütterungen gezeichnetes Volk; eine Gemeinschaft, deren Bein die eigene Brust zerdrückt, ein Wesen, dem die eigenen Zähne den Bauch zerreissen. Jedes Jahr sterben Dutzende, zumeist Inselbewohner, einen gewaltsamen Tod, ohne daß die Justiz die Gründe dafür fände. Die Gerüchte wissen darüber viel mehr als Polizei oder Verwaltung.
Das Ritual ist Teil eines jeden Schusses, eines jeden Sprengstoffanschlags, als ob die korsische Gesellschaft noch heute von primitiven Jagdinstinkten regiert würde. Die Morde entsprechen häufig der Chronik eines angekündigten Todes. Dabei ist Korsika durchaus lebendig und hat die Seele einer unzufriedenen Kolonisierten: Auf den Ärger, den ihr die Mächtigen machen, reagiert sie mit Krallenhieben, die aber auch nur so stark ausfallen, daß sie die Nabelschnur, welche die Insel an ihre Rabenmutter bindet, nicht zerreißen.
Je nach Epoche äußert sich die Krise der Insulaner in prekären Bündnissen, die eingegangen und gleich wieder aufgelöst werden, oder in heroischen Widerstandsakten, deren Größe uns blendet, denn letztlich bedeuten sie nur, daß alles außer der Ehre verloren ist. Gehen Sie außerhalb der Sommersaison in den Dörfern Korsikas spazieren. Sie werden überrascht sein von dieser offensiven Mischung aus Aberglauben und Pragmatismus, aus Religion und Atheismus. Man glaubt an den Menschen – wie übrigens auch an Gott –, aber man ist auf der Hut. Man wünscht sich einen Chef und rebelliert doch gegen den leisesten Zwang. Man möchte anders behandelt werden und doch so wie alle anderen. Man weiß, was man nicht will, doch ist man nicht in der Lage, die eigenen Wünsche zu benennen. Nur eines ist mittlerweile klar geworden: Das Übel hat sich längst auch im Inneren breitgemacht. Das vergossene Blut, die Überschwemmungen, die durch ungeordnete Bebauung in den Gemeinden hervorgerufen wurden, die Waldbrände, die jeden Sommer die Insel auffressen und von allgemein bekannten Einheimischengelegt werden. Selbst Furiani, selbst der Sport fordert Tote ... Die Friedhöfe füllen sich unaufhörlich. Die Nationalisten, die sich noch vor kurzem auf dem Vormarsch wähnten, tragen heute nur noch die Namen ihrer Märtyrer auf den Lippen. Diese Exzesse schnüren Korsika letztendlich in eine psycho-historische Zwangsjacke, die die Insel erstickt und tötet. Am schlimmsten ist, daß manche diesen Fetzen mit Stolz tragen. Sie haben sich aus all den kleinen Flicken eine Identität zusammengesetzt, die die wahre Persönlichkeit dieser Insel verdeckt, die schon so lange auf der Suche nach ihrem wahren Ich ist. Es gibt in der korsischen Seele jene Verzweiflung junger Erwachsener, die nicht mehr über eine idealisierte Jugend hinausgelangen. Auch sie wissen aber, daß das Leben Bewegung ist und daß ihre Nostalgie den Friedhofsgeruch in sich trägt. Korsika ist bis zum Überdruß stolz.
Die herrschende Kultur, diejenige Frankreichs, hätte einer durch eine schreckliche und ungerechte militärische Eroberung innerlich zerstörten Insel Erkenntnis bringen können. Doch anstatt dieses kleine Völkchen zu begleiten, haben die Eroberer es mal zu sehr geliebt, mal zu sehr gehaßt, um ihm wirklich helfen zu können, seine eigenen Orientierungen zu finden. Immer wieder verwiesen sie es auf eine entschwundene Vergangenheit, die immer wieder neu besungen wurde. Aber wäre es denn sinnvoll, wenn die Ägypter versuchten, ihre Identität heute anhand der archäologischen Überreste zu definieren, die in verschiedensten Museen in aller Welt verstreut herumliegen? Die Korsen tragen natürlich auch selbst Verantwortung dafür, daß die korsische Frage offengeblieben ist. Haben die Nationalisten (und vor ihnen die Korsisten, die Regionalisten, die Autonomisten) nicht die Umrisse eines irrealen goldenen Zeitalters gezeichnet, welches den einen zufolge vor der französischen Eroberung von 1769 angesiedelt war, den anderen zufolge in der Antike oder auch vor dem ersten Weltkrieg? Dieser Mythos verschleiert aber, daß viele der korsischen Ahnen versucht hatten, der Insel zu entfliehen, die sie nicht ernähren konnte, und – warum soll man es nicht zugeben – einer Gesellschaft, die so gewalttätig war, daß sie den „Verlierern“ jener „Familienfehden“, die mehr Korsen das Leben gekostet haben als alle Kriege, die von außen kamen, kaum eine Chance ließ.
Pasquale Paoli und seine Anhänger haben im Lauf des achtzehnten Jahrhunderts versucht, den Traum von einer modernen Gesellschaft zu verwirklichen, zu einer Zeit, als es überall sonst nur Monarchien gab. Doch um sich durchzusetzen (und ist ihm das denn vollständig gelungen?) mußte er die „paolinische Justiz“ einführen, die die Fehdenstifter mit dem Tod bestrafte. Paolis Anhänger vergriffen sich an den Mördern, folterten sie bei Gelegenheit, und wenn sie sie nicht auftreiben konnten, wandten sie die Strenge des Gesetzes gegen die Familien an, bevor sie das Haus des Schuldigen zerstörten. Doch die Legende hat die Fehler Paolis ausgemerzt, um ihm den Zugang zum Pantheon der großen Männer zu sichern; dort ruht er nun, zugedeckt von den unaufhörlichen Klagen eines Volkes, das ihn auf erstaunliche Weise geliebt hatte. Seitdem hat Korsika nicht aufgehört, dieser kurzen fünfzehnjährigen Periode nachzutrauern, die der Insel die Hoffnung auf eine selbstbestimmte Zukunft erlaubt hatte.
Die Geschichte des korsischen Volkes ist so immer wieder umgeschrieben worden – von Insulanern auf der Suche nach einer Freiheit, die immer am Entstehen war, die aber niemals wirklich angebrochen ist. Unter dem Deckmantel der Erinnerung gebiert die Vergangenheit eine verheißungsreiche Zukunft, sterilisiert jedoch zum Teil die Gegenwart. Doch die Moderne, jene, die in der Konfrontation mit der Außenwelt entsteht, verlangt gerade ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit. Gerade dafür war aber die Inselbevölkerung scheinbar nicht zu haben. Dies und die ökonomische Ungerechtigkeit führte dazu, daß die Zukunft der Insel lange Zeit außerhalb ihres Territoriums entworfen worden ist – in den Kolonien Indochinas oder Afrikas, oder auf dem Festland. Weit entfernt von seinem Land schien der Korse endlich er selbst zu sein, kreativ wie der Teufel und im Besitz schier grenzenloser Energie.
Ein seltsamer Wanderer, dieser unzufriedene und ausdauernde Insulaner. Im Rentenalter kehrte er auf seine Insel zurück, die inzwischen zum Mausoleum geworden war, um sich endlich am wirklichen Korsika schmerzhaft zu stoßen, am Korsika der Menschen und Konflikte, dem der Isolation und des Inseldaseins (beide Begriffe haben übrigens dieselbe Wurzel). Wie viele dieser Menschen, die in der weiten Welt Imperien errichtet hatten, endeten desillusioniert und zu Tode gekränkt, weil sie in ihren eigenen Dörfern nur als die Kinder wiedererkannt wurden, die sie einmal waren, und niemals als die Erwachsenen, zu denen sie sich entwickelt hatten.
Inzwischen hütet sich Korsika vor seinen Söhnen und Töchtern des Festlands, die lange Zeit all die, die nicht weggehen konnten, verachtet haben. In diesem ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert verläßt man, der Arbeitslosigkeit sei Dank, Korsika nicht mehr so leicht wie früher. Darin, sich selbst ins Gesicht sehen zu müssen, liegt wahrscheinlich eine Chance für dieses Volk. Dennoch ist das unmittelbare Ergebnis eine Zerreißprobe: Ausufernde Ansprüche, Aneignung der staatlichen Subventionen durch eine Minderheit, Feigheit der Funktionäre, heimlicher Groll der Ärmsten. Wieviel Energie wird da von den eigenen Einwohnern verschwendet, um sich von den anderen abzugrenzen!
Fürstenland und Gemeindeland
KORSIKA ist auf dem Weg zurück zu den alten Mythen, auch wenn es dies nie zugeben würde. Ob Bandit, Carbonaro oder Untergetauchter – der korsische Mann ist immer der spartanische Jugendliche, der von den Seinen nackt in den Bergen ausgesetzt wurde, um vor Tagesanbruch einen Heloten zu töten. Dann erst galt er als vollberechtigter Mann. Auch die Mafia ist nach demselben Muster entstanden. Der Mensch muß, um hier zu überleben, die List des Sisyphos besitzen. Und wie Sisyphos versuchen auch die Korsen immer wieder vergeblich, einen Stein auf den Berggipfel zu rollen, ihre Geschichte zu wiederholen, in der große Kräfte wirken, aber auch viel Mittelmaß. Wenn man von den technologischen Veränderungen absieht, ist das Zusammenleben der Menschen heute noch genau so organisiert wie früher. Im vergangenen Jahrhundert wurde auf Korsika viermal mehr gemordet als im Seine-Département. Nichts scheint sich geändert zu haben. Manche freuen sich darüber. Sie nennen das Treue und Tradition. Andere verzweifeln daran.
Der Norden der Insel ist mit Schiefer bedeckt, während der Süden sich im von den Winden gepeitschten Granit zerklüftet. Doch diese Beschreibung erfaßt die korsische Komplexität noch lange nicht. Man muß weitersuchen, den Boden umgraben, der durch alle Zeiten hindurch zu wenig hergegeben hat, um seine Kinder hier zu halten. Den düsteren Bergen entspricht im Osten die fruchtbare, aber sumpfige Küste. Die Höhen des Nordens sind das Herz der Insel, die Heimat der Revolten und Ursprung von Korsikas Größe. Dort hat Ugo Colonna, der korsische Cid, gelebt, und Pasquale Paoli, der Vater der kurzlebigen, aber glorreichen korsischen Nation. Dort entstand auch die von der Herdenwanderung geprägte Kultur. Während die Eroberer versuchten, in den Ebenen durch finanzielle Anreize und Zwang Menschen seßhaft zu machen, trieben die einheimischen Hirten Herden vor sich her und forderten offenen Raum. Sie zerstörten die Zäune und Mauern und stürzten so die Familien in nie zu schlichtende, nie befriedigende und nie enden wollende Streitigkeiten.
Zwischen dem Norden und dem Süden der Insel verläuft eine Bergkette und teilt Korsika. Während der Norden sich der aufkeimenden Renaissance und den Genuesen öffnete, blieb der Süden der Insel unter dem Joch eines aufgesplitterten Feudalismus und hieß deshalb weiterhin Fürstenland, im Gegensatz zum Gemeindeland des Nordens. Im Süden brachte die soziale Ungerechtigkeit radikale Revolten hervor, die stets von den Mächtigen niedergeschlagen wurden.
So wird der Süden noch immer vom rechten Clan beherrscht, einst die Abbatuccis, Gavinis und Noirs, heute der Clan der Rocca-Serras, während sich der Norden mit seinen radikalen Linken und der vom Clan der Blancs abstammenden UDF einen reformistischen Anstrich gibt. Doch im Gegensatz zu Sizilien ist die Insel nicht oder nicht ganz durch eine alte soziale Ordnung erdrückt worden. Auf Korsika sind die Reichen niemals reich gewesen, selbst wenn man sie ehrfürchtig mit sgio und signora anredete. Die meisten Adeligen hatten ihre Titel der Großzügigkeit der französischen Könige zu verdanken. Sie waren der Dank für einen verschämten und diskreten Anschluß nach der Eroberung von 1769. Danach bemühten sie sich um eine Anerkennung, die ihnen nur von den Eroberern zuteil wurde. Die Armen, das heißt diejenigen, die nicht viel besaßen, nicht einmal einen Posten in der Verwaltung, verließen häufig die Insel, um in der Toskana oder in Frankreich ein besseres Leben zu führen – dort, wo schwach zu sein nicht gleich bedeutete, ein ewiger Verlierer zu sein.
Die Korsen, die immerzu eine Verteidigungshaltung einnehmen, haben eine alte Vorliebe für Waffen, mit denen man Leben erhalten, aber auch zerstören kann. In fast grotesker Weise nimmt ein triumphierender Korse die Züge des kleinen Napoleon Bonaparte an; ist erst Paolist, dann Revolutionär, anschließend Reaktionär und schließlich napoleonisch. Doch wie läßt sich erklären, daß dieses winzig kleine Völkchen eine so große Anziehungskraft besitzt, daß es ihm gelungen ist, eher seine Kolonisatoren zu integrieren, als selbst als Ganzes im Gewühl der Menschheit zu verschwinden? Die schriftlichen Äußerungen der Besatzer zeugen von einer schaudernden Faszination für die zugleich großartigen und schrecklichen Korsen, die schön sind wie die Antike – und häßlich wie Parvenüs.
Alle Sieger haben es mit Schmeicheleien, mit Drohungen und Repression versucht und mußten doch schließlich ihr Scheitern eingestehen. Die Genuesen verkauften die Insel schließlich an die Franzosen. Die Engländer machten ein Vizekönigreich daraus, bevor sie sie Bonaparte überließen, der begierig darauf war, sich an den eigenen Landsleuten zu rächen, die ihn aus der Lokalpolitik verdrängt hatten. Clemenceau, Rochefort und ein paar andere Republikaner des späten 19. Jahrhunderts verlangten, man solle Korsika zum symbolischen Preis von einem Franc verkaufen. Mussolini erhob in den dreißiger Jahren Anspruch auf die Insel, doch ohne ihre Bevölkerung, er wollte den Käfig ohne die Vögel.
Vor kurzem legte ein sozialistischer Innenminister ein etwas naiv anmutendes Wohlwollen für eine Strömung der nationalistischen Bewegung an den Tag, obwohl diese im Kern liberal orientiert war. Ein anderer, diesmal korsischer Herkunft und berüchtigt für seine jakobinischen Prahlereien, nahm Kontakt auf mit einer anderen nationalistischen Familie, die trotz einer konfus linksradikalen Sprache bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl von 1995 dazu aufrief, für Chirac zu stimmen.
Im privaten Bereich gebärden sich die hohen französischen Staatsbeamten ungeduldig gegenüber den inkonsequenten Verhaltensweisen ihrer Gesprächspartner von der Insel. Doch im Grunde akzeptieren sie dieses verlogene Pokerspiel, bei dem sich die Qualität der ausgegebenen Karten umgekehrt proportional zu den tatsächlichen Möglichkeiten der Spieler verhalten. Korsika zu verstehen heißt zunächst, es mit seinen für die Mittelmeerwelt charakteristischen Widersprüchen zu akzeptieren, mit seinen Wutausbrüchen ebenso wie mit seinem Bitten um Liebe. Korsika ist ein Ort, an dem zwei Kulturen aufeinandertreffen, die Frankreich ausmachen. Wo das Licht weniger grell ist, scheint der Mensch den Sinn des Lebens in einer arbeitsamen Rationalität zu suchen. Er kommuniziert direkt mit seinesgleichen, ohne Vermittlung. Der Unternehmer steht hier einer Firma vor, nicht einer Familie. Er verwechselt Geschäft nicht mit Gefühl und den Kunden nicht mit Klientelismus.
Die andere Kultur ist die dunkle Klarheit, die vom Maghreb herrührt. Sie bringt gleichzeitig Schicksalsergebenheit und Revolte hervor, die Angewohnheit, das Leben nach Art der Prinzen als einen Ausflug zu betrachten, den zu leben sich nur zum Preis einer immer neuen Infragestellung lohnt. So verschwendet man lieber, statt zu sparen, der Schein zählt mehr als der Kern der Dinge, das Sein wird gespielt. Man konsumiert und nutzt ab und lebt über seine Verhältnisse. Man verläßt sich eher auf menschliche Beziehungen als auf abstrakte Gesetze. Man bittet einen Unternehmer um Arbeit und ist ihm verpflichtet, wenn er welche gibt. Doch wenn man einmal im Besitz der Macht ist, kennt man keine andere Grenze mehr als den Tod. Und dennoch stellt sich am Ende des Tages, des Jahres, am Ende des Wegs die brennende Frage: Wozu ist das alles gut, wenn der Mensch nur dies ist?
Dabei ist Korsika viel mehr als die Schnittmenge dieser beiden Kulturen. Die Insel trägt ein Stück von Frankreich in sich – die 230 Jahre gemeinsamen Lebens zählen letztendlich doch. Sie hat auch etwas von der Toskana angenommen, von Genua, vom Maghreb und von Sizilien. Dieses Volk ist in der Menschheit nur ein Stäubchen. Doch ist es auch ein Sandmeer, in dem jedes einzelne Korn eine Welt darstellt, in dem jedes Individuum die Widersprüche seiner eigenen Gemeinschaft in sich vereint.
In einer Debatte wird ein Korse mal den einen, mal den anderen Standpunkt einnehmen, solange er seinem Widerpart damit Paroli bieten kann. „Ein Volk von Wilden, von Ziegen“, hatten die Franzosen gesagt. Doch immerhin hatten diese Tiere sich bereits 40 Jahre vor der Revolution von 1789 gegen das Königreich erhoben. Sie hatten gewagt, zu behaupten, daß die Freiheit allen Völkern gewährt werden müsse. Rousseau hatte Beifall geklatscht, Voltaire zugestimmt. Holland war ebenso für die Idee entbrannt wie die englischen Liberalen, die von den Freimaurern angeführt wurden. Doch Korsika hat schon zu lange von diesem Kapital gelebt; es ist aufgebraucht. Es bleibt von diesem Glanz der Aufklärung nur die Qual desjenigen, der ohne den Kampf nicht mehr zu leben vermag.
Die Gabe, sich selbst zu zerstören
OH, diese Völker mit dem Aussehen von Bettlern! In ihrem Blick strahlen noch die Sterne vergangener Glanzzeiten. Einst waren sie Schäfer, hatten ihre Herden und lachten über die Unbeweglichkeit; sie lebten in dem stetigen Hin und Her der Nomaden. Dann kamen die Eroberer, mit dem Modell einer siegreichen Welt im Gepäck. Weil sie die Sieger waren und die Macht innehatten – ein großes Wort für diese umherwandernden Schäfer – ahmte man sie nach.
Es gibt sicherlich auch ruhige Korsen und solche, die sich als große Kaufleute verwirklicht haben. Doch bis heute tun sich die Korsen schwer in Berufen, die Flexibilität in Geldgeschäften erfordern. Es fällt ihnen schwer, dem Geld Wert beizumessen. Sie sind in der Lage, viel zu verdienen, doch noch mehr geben sie aus. Einem jüngeren Bericht zufolge soll Korsika diejenige Region Frankreichs sein, die am meisten subventioniert wird. Bereits im 17. und 18. Jahrhundert klagten die Genuesen über die schwache Rentabilität der Insel. Ähnlich wie in den französischen Überseegebieten nimmt die öffentliche Verwaltung unverhältnismäßig viel Raum in der Ökonomie der Insel ein: Sie stellt jeden vierten Arbeitsplatz. Ohne diese 22 000 Beamten und ihre Angehörigen ginge es mit Korsika bergab. Ohne die territoriale Zugehörigkeit zu Frankreich könnte das bißchen lokaler Produktion nicht einmal exportiert werden. Die nationalistischen Bewegungen wollen von all dem nichts wissen. Doch ein Blick in die offizielle Statistik reicht, um alle Zweifel auszuräumen. Im übrigen haben die drei größten nationalistischen Organisationen die Forderung nach Unabhängigkeit selbst eingemottet.
Die Sackgasse, in der sich die nationalistische Bewegung befindet, ist um so erstaunlicher, als sie erst nach den brillanten Erfolgen der Nationalisten bei den Regionalwahlen von 1991 richtig sichtbar wurde. Über 25 Prozent der Wähler hatten sich damals für die verfeindeten Brüder der nationalistischen Familie ausgesprochen. Ihre Zersplitterung basiert zwar auf tatsächlichen ideologischen Differenzen, drückt jedoch teilweise auch die Unfähigkeit aus, auf Europa mit neuen Ideen einzugehen. Die Antriebskräfte für den Fortschritt auf der Insel, deren Handeln die einheimischen Eliten dazu anregte, die Schönheit ihrer Insel zu erhalten, erleben einen ideologischen und vor allem psychologischen Niedergang, der sich mittlerweile auch an den Wahlurnen niederschlägt. Man fürchtet die Aktivisten der FLNC ebenso wie einst die Banditen oder den Chef des Clans.
1991 rief der Erzbischof von Korsika dazu auf, diesen tödlichen Zustand zu beenden. „Korsika hat Angst“, schrieb er. Aber Korsika hat immer schon Angst gehabt. Es hat immer geschwankt zwischen einem beinahe schon mystischen Anspruch auf Gerechtigkeit und der feigen Neigung, sich der Macht von tyrannischen Minderheiten auszuliefern. In den letzten drei Jahrhunderten hat die Umgebung auf Korsika sich verändert, doch der Inselcharakter ist geblieben. Mehr noch als früher bringt er Überdruß und Untätigkeit hervor.
Um den Alltag nicht ertragen zu müssen, entscheiden sich viele unbewußt für selbstmörderische Einstellungen. Auf Korsika leben proportional mehr HIV-Positive und Drogenabhängige als in Marseille. Die Zahl der jungen Verkehrstoten schlägt alle Rekorde. Korsen vom Festland lassen sich häufig in ihrer Heimat begraben, was das Gewicht des Todes noch erhöht. Beerdigungen werden so zum letzten Ort der Begegnung auf dieser Insel, die ihren Traditionen noch die Treue hält.
Unter dem Einfluß der Konsumgesellschaft bricht der Familienzusammenhalt auf. Wo es früher fürs Überleben notwendig war, sich gegenseitig zu helfen, verläßt man sich heutzutage nur noch auf die eigene Familie. Doch deren Kreis, der vor fünfzig Jahren noch die Vettern und Cousinen dritten Grades mit einschloß, ist inzwischen auf die Familie im engsten Sinn beschränkt. Dem Delinquenten wird verziehen, solange es der eigene Sohn oder Bruder ist. Wie viele Prozesse hat es gegeben, in denen Familien unbeschreibliche Wendungen vollzogen, um ihr Kind den Klauen der Justiz zu entreißen! Das Opfer, korsisch oder von anderswo, kann nur noch schweigen, wenn seine Angehörigen keine Unterstützung beibringen. So war das schon in den letzten Jahrhunderten. Doch diese Verweigerungen gegenüber der Justiz finden viele Korsen langsam unerträglich. Sie wissen, daß diese Feigheit die Insel um eine Zukunft bringt, die von Freiheit und Gerechtigkeit geprägt sein könnte. Chaos und Barbarei drohen sich in einem zerfallenden Korsika breitzumachen, wenn die Bevölkerung nicht selbst gegen einen Nicht-Rechtsstaat revoltiert, der sich mehr auf Nachlässigkeit stützt als auf kolonialistischen Druck des fernen Paris.
Auch die soziale Ausgrenzung nimmt zu. Die korsische Gesellschaft ist zutiefst ungleich geworden. Die Ausgeschlossenen aus den Stadtgebieten von Lupino, LesSalines oder Montesoro müssen mitansehen, wie vor ihren Augen andere Korsen von der Großzügigkeit Frankreichs und Europas profitieren.
Doch Korsika entgeht den Kategorisierungen. Es ist immer etwas und gleichzeitig das Gegenteil davon. Wenn sich dem Bürgermeister einer Kleinstadt Zunge und Gedanken verhaspeln, weil er in einer pompösen und großspurigen Rede eine lächerliche Macht bestätigt, wird darüber gelacht. Doch wenn der Stadtvater eines anderen Ortes wegen einer lächerlichen Grundstücksaffäre abgeknallt wird wie ein Hund, wird geweint. Wenn eine nationalistische Zeitung die Geister der illustren Vorväter beschwört, um einen Sprengstoffanschlag zu rechtfertigen, verleitet das zum Lächeln. Doch wenn Nationalisten dieselben Bezüge anführen, um für den Mord an einem der Ihren Beifall zu heischen, wird Trauer getragen. Korsika treibt selbst die treuesten Inselbewohner zur Verzweiflung.
Die meisten, die dort wohnen, waren eines Tages versucht, alles hinzuschmeißen, um diese Mordgerüchte, diese auf jede Bewegung lauernden Blicke, diese ewig kommentierenden Münder, diese tötenden Arme, diese isolierenden Streiks und dieses alles umgebende Wasser zu vergessen. Und dann überrascht die Insel plötzlich mit ihren großzügigen Lichtblicken: Pasquale Paoli und seine so schöne Revolution; die Befreiung von 1943; der von Edmond Simeoni angeführte Aufstand gegen den roten Schlamm der Firma Montedison; die nationalistische Bewegung, bevor sie degenerierte; die kleinen Gesten der Zuneigung, die Großzügigkeit der Nähe.
Doch trotz der Fortschritte, die zum Großteil auf das Konto der nationalistischen Bewegung gehen, trotz der Universität als Ort des intellektuellen Lebens steht Korsika am Rande des Abgrunds. Die Banken sind es müde, für ihre „Großzügigkeit“ keine Dividende einzustreichen, und wollen sich zurückziehen. Die Versicherungsgesellschaften wollen nicht versichern, die Kriminalität nimmt zu, Korsika ist überaltert. Die Clanoberhäupter sind mittlerweile in den Achtzigern, und ihre Sprößlinge haben große Schwierigkeiten, sie abzulösen. Sie bedrängen sich gegenseitig mit einer Skrupellosigkeit, die den Borgias alle Ehre gemacht hätte. In diesem anbrechenden 21. Jahrhundert ähnelt die „Insel der Schönheit“ in ihrer Randständigkeit und ihrem Universalismus, ihrer Integrationsfähigkeit und ihren Fundamentalismen dem, was sie früher war.
Doch plötzlich steigt eine neue Kraft aus diesem Lärm und dieser Raserei auf: die der Frauen. Wie in Algerien, doch in einem wesentlich weniger dramatischen Kontext, haben sie gegen die Gewalt demonstriert. Sie haben ihren Überdruß an einer Welt ausgedrückt, in der „machistische“ Verhaltensweisen den Wettstreit der Ideen ersetzt haben. Sie haben gewagt, sich in einer Inselgesellschaft durchzusetzen, die den Vätern und Söhnen die Hauptrolle zuwies. Nachdem sie bislang nur Mütter, Schwestern oder Töchter gewesen waren, verkörpern sie nun vielleicht die notwendige Öffnung nach außen.
Die äußere Welt schließt sich über Korsika wie eine riesige Hand. Durch den Anspruch, die Insel wie eine alte Kolonie zu regieren, erstickt Frankreich ihre Versuche zu reifen. Und doch kann Korsika Europa als Beispiel dienen. Mit seinen klar dem Menschen angemessenen Ausmaßen könnte es dort Erfolg haben, wo die großen Völker scheitern: bei Minderheitenrechten, der Anhänglichkeit an die eigene Sprache, bei Ökologie und Dezentralisierung. Wird sein Volk nun fähig sein, den Stolz vergangener Zeiten zum Schweigen zu bringen, sich seiner Umgebung, dem Mittelmeer, gegenüber zu öffnen, die Enklave zu verlassen und dem lähmenden Inselcharakter zu entkommen?
dt. Miriam Lang
* Professor an der Universität Paris-VII, Autor von „Complexe Corse“, Paris, Gallimard 1990.