11.08.1995

Etwas, woran man sich halten kann

zurück

Etwas, woran man sich halten kann

SOLLTE die raffinierte Propagandamaschinerie der Werbung allmählich Ermüdungserscheinungen zeigen? Radio und Fernsehen müssen immer trickreicher zu Werke gehen, um ihrem Publikum wirksam jene „Botschaften“ einzutrichtern, die das Gesetz vom Kunden als König und das Glück überflüssigen Konsumierens feiern. Gibt sich nicht, jenseits von Manipulation und Rücksichtslosigkeit, in der Werbung zuvörderst eine zynische Philosophie zu erkennen, die die wirkliche Welt in die Ware Welt zu verwandeln versteht?

Von FRANÇOIS BRUNE *

Die Regierungen wechseln, die Werbung bleibt. Während sich die politischen Versprechungen in fröhlicher Aufeinanderfolge an der Oberfläche der Ereignisse bewegen, bearbeitet das System kommerzieller Propaganda kontinuierlich die Tiefenstruktur des gesellschaftlichen Imaginären, Tag für Tag und überall.

Nicht das Prinzip der Werbung im ursprünglichen Sinne des französischen Wortes publicité, also „Bekanntmachung“, steht hier zur Debatte. Es geht vielmehr um die Auswüchse eines gesellschaftlichen Phänomens, das unaufhörlich verbreitet, was schlicht eine herrschende Ideologie genannt werden muß, ungeachtet der Euphorie derjenigen, für die auch dieser Aspekt der Moderne nichts weiter als ein unverfängliches Spiel darstellt.

Jeder herrschenden Ideologie kann man auf zwei Arten kritisch entgegentreten: die eine brandmarkt die mehr oder weniger verderbliche Natur der „Weltanschauung“, die sie propagiert, die andere die Ausübung ihrer Herrschaft selbst und deren widerrechtliche Methoden. Auf beiden Ebenen gilt es, die Gewalt dieses Systems anzuklagen. In ihren Grundzügen ist die Ideologie der Werbung seit Anbeginn unverändert geblieben. Wie verschiedenartig ihr Erscheinungsbild auch ist, stets trägt die Produktewerbung die Züge eines modernen Heldenkults. Die Ware ist der Mittelpunkt und Sinn des Lebens, ihre Kultstätte ist der (Super-)Markt. Unablässig und unmißverständlich wird uns die frohe Botschaft verkündet: Konsum löst alle Probleme. Das Produkt bedient alle Bereiche des Seins, Körper, Herz und Geist. Produktmarken verleihen uns Identität und Persönlichkeit („Meine Creme, das bin ganz ich“). Die Anbieter und die kapitalistische Dynamik, der sie dienen, bilden eine ständige Versorgungseinrichtung im Dienst der Gemeinschaft.

Selbst der Traum ist käuflich, schließlich will man ihn ja an uns loswerden. Das Glück entsteht letztlich aus einer Summe unmittelbarer Vergnügungen, aus denen sich ein 24stündiges Programm zusammenstellen läßt. Die Existenz hat ein unendlich einfaches Ziel: es genügt, „vom Leben zu naschen“ (und dabei am besten kräftig zuzubeißen). Der ganzkörpergebräunte Mensch ist das verbindliche Ich- Ideal unserer Tage. Die Botschaft vorzüglich verstanden hat eine Gymnasiastin, die schrieb: „Zum Glück gibt es im Fernsehen Werbung, das erleichtert das Leben ungemein“ ...

Eine sonderbare Sozialtherapie

DIESE hochgradig idealistische Philosophie ist noch um einige Aspekte zu vervollständigen, die nicht neu, aber präsenter denn je sind: Der ewige Lobgesang auf alles Neue (was ipso facto alles Vergangene abwertet), die Pseudo-Befreiung des Begehrens (das sogleich durch den Kauftrieb in Dienst genommen wird), der einschüchternde Appell an unsere Konsensbereitschaft (nimm teil an dem Ereignis-Erzeugnis: diese Epoche, sie gehört dir!), die gruppendynamische Unvernunft (hau rein, schließ dich der allgemeinen Begeisterung an!) sowie eine allgemeine Vampirisierung aller Modethemen des sozialen, kulturellen und politischen Lebens durch die Werbung2.

Das reduktionistische Weltbild der Werbung beschränkt sich nicht auf solche Inhalte. Sie prägt die Denkweisen der jüngeren Generation auch durch ihre Sprache. Ihr Jargon kultiviert eine Rhetorik der Assoziation, der zufolge jedes beliebige Produkt mit jedem beliebigen Bild verknüpft werden kann: Auf diese Weise wird jegliche Realität manipulierbar; auf konsumierbare „Zeichen“ reduziert, ist jeder „Wert“ wiederverwertbar. Eine solche „Logik“ macht auch nicht davor halt, die Idee des Wertes selbst zu pervertieren – wenn man etwa sieht, wie Ethik und Schönheit des Sports umstandslos mit den angepriesenen alkoholischen Getränken in Verbindung gebracht werden3. Die Werbefilme, die jedes Produkt in ein realistisches Schauspiel einzubetten trachten, tragen dazu bei, die Verwirrung des Kindes zwischen wirklicher und Bilderwelt zu verstärken: Was sichtbar ist, erscheint evident. Der chaotische Rhythmus der Werbespots, die ein trügerisches Spiel mit Bild und Montage treiben, gewöhnt schon die Allerkleinsten daran, ihre Beziehung zu den Dingen in Form reflexhafter Zustimmung aufzubauen. Die Werbesprache gibt sich auf diese Weise redlich Mühe, die Entwicklung des kritischen Verstandes der Kinder zu verzögern. Unter dem Deckmantel von Bilderzauber und Poesie erweist sich die gegenwärtige Werbung als ein Instrument mentaler Zerstörung.

Diese Entwirklichung der Welt, die sich das Alibi einer imaginären Kreativität zulegt, ignoriert bewußt eine krisengeschüttelte Wirklichkeit. Wer geglaubt hatte, daß Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und Armut den großspurigen Exhibitionismus der Werbung bremsen und den Sirenengesang eines ungehemmten Konsumierens zum Verstummen bringen würden, sah sich gründlich getäuscht. Was bedeutet schon die Havarie des Sozialstaates, wenn man sich ohnehin nur an die besitzende Mehrheit richtet. Warum sollte man den Armen verwehren, von dem zu träumen, was die Reichen besitzen: Macht man das nicht auch in der Dritten Welt4?

Zur ökonomischen Ordnung gesellt sich künftig die der Werbung; hat jene bewirkt, daß die Armen ausgeschlossen wurden, so soll diese uns dazu bringen, sie überhaupt zu vergessen. Im übrigen erklärte ein renommierter Werbefachmann vor einigen Jahren: „Je mehr Aufmerksamkeit die Leute der Werbung schenken, desto beharrlicher leugnen sie die Krise und ihre strukturellen Grundlagen. Dadurch gelingt es ihnen, der Konfrontation mit der harten Alltagswirklichkeit die Spitze zu nehmen oder ihr aus dem Wege zu gehen.“5 Eine bewundernswerte Therapie!

Bliebe die Werbung auf den ihr eigenen geographischen Bereich beschränkt (den von Einkaufszentren beispielsweise), würde man sie zweifellos erträglich finden können. Sie verfolgt jedoch eine gnadenlose Expansionspolitik außerhalb ihres Terrains. Der totalitäre Charakter der Werbung besteht nicht allein darin, daß sie suggeriert, das menschliche Leben ginge insgesamt in Konsum und Ware auf; viel mehr noch zeigt er sich in dem Versuch, das gesamte städtische Leben unter ihren Einfluß zu bringen, indem sie unbezwingliche Widerstände umgeht, alle Freiräume in Beschlag nimmt, weniger auf ihre Verführungskraft als auf die Passivität der Leute setzt und, zu guter Letzt, indem sie sich jene subtile Gewalt zunutze macht, die man nicht unterschätzen sollte: die institutionelle.

1 Das französische Wort für Werbung, „publicité“, bezeichnet zunächst nur den Sachverhalt, einer Öffentlichkeit etwas bekannt zu machen, was für sie von Interesse ist, (Debatten, Bau- oder Kunstwerke, Produkte). Diese rein informative Bedeutung hat mit der gegenwärtigen Ausweitung des Begriffs auf die Werbung offensichtlich nichts mehr zu tun.

2 Vgl. Emmanuäl Souchier, „Publicité et politique“, Le Monde diplomatique, Dezember 1994.

3 Wer durch Tabak oder Alkohol mit dem Tod Geschäfte macht, hat gegenüber den gesetzlichen Bestimmungen in Frankreich, die eine Werbung für derartige Produkte einschränken (insbesondere im Rahmen von Sportübertragungen), durchaus nicht die Waffen gestreckt. Erst kürzlich mußte die Alliance pour la santé auf ein „Komplott der Tabakindustrie“ hinweisen und daran erinnern, daß „die Werbung dem Bewußtsein der Jüngsten und Schutzlosesten Gewalt antut“ (Le Monde, 1. Juni 1995).

4 Vgl. François. Brune, „L'annoce faite au tiers- monde“, Le Monde diplomatique, Mai 1988.

5 Bernard Brochant in seinem Vorwort zu dem Buch von B. Cathelat, „Publicité et Société“, Payot, Paris 1987.

6 Vgl. Fançois Brune, „De l'impérialisme publicitaire“, Le Monde diplomatique, Januar 1986.

7 Der Ausdruck „publiphobie“ (deutsch etwa: Reklamephobie“) entstammt einer Kampagne, die von der französischen Werbeindustrie Anfang der siebziger Jahre lanciert wurde, um diejenigen lächerlich zu machen, die zu sehr an ihrer geistigen Freiheit hängen ...

8 Zur Lektüre empfohlen seien die von Jacques Blociszwski in „La publicité, culture de notre temps?“, Manière de voir, Nr. 19 zitierten Textbeispiele.

* Medienwissenschaftler. Autor von „Bonheur conforme. Essai sur la normalisation publicitaire“ (Paris, Gallimard 1985) und von „Les médias pensent comme moi! Fragments du discours anonyme“ (Paris, L'Harmattan 1993).

Le Monde diplomatique vom 11.08.1995, von Francois Brune