11.08.1995

Der Feind – der sitzt immer im Nachbardorf

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Der Feind – der sitzt immer im Nachbardorf

■ Nach dem Fall der Muslim-Enklaven Srebrenica und Zepa in Bosnien und weiteren Drohungen einer serbischen Militäroffensive gegen andere UN-“Schutzzonen“ (vor allem Gorazde, Bihac und Sarajevo) ging am 21. Juli in London eine Konferenz militärischer Entscheidungsträger aus den USA, Großbritannien und Frankreich ohne konkrete Beschlüsse zu Ende. Den erbärmlichen Eindruck, den dies auf die internationale Öffentlichkeit machte, versuchten die Westmächte – allen voran Frankreich und Großbritannien – vergese zuachen, indem sie Sarajevo dem Schutz der im Juni ins Leben gerufenen Schnellen Eingreiftruppe unterstellten. Diese Ereignisse erhöhen von neuem die Gefahr einer Ausdehnung des Konflikts. Kroatien hat sich nun bereit erklärt, in den Krieg einzugreifen, um die Muslim-Enklave Bihac zu verteidigen. Die Zunahme der Feindseligkeiten könnte den Frieden in der Region, der ohnehin immer nur brüchig und von kurzer Dauer ist, erneut gefährden. Eine einfache Reise entlang der Grenzen von einigen der regionlen Nationlsmen – Albanien, Epirus, Griechenland, Makedonien – offenbart den unverrückbaren Glauben an historische Mythen, die Bereitschaft, Sündenböcke für Ungemach zu suchen sowie eine verdeckte Identitätsversessenheit, die der kleinste Anlaß zum Ausbruch bringen kann.

Von unserem Sonderkorrespondenten Francois Maspero *

Seit einer Woche ziehen sie in Albanien umher, von der Adriaküste bis zu den verschneiten Berggipfeln im Land der Adler. Von einem klapprigen Bus in den nächsten, zusammengedrängt, in der Menschenmenge eingezwängt, aber niemals anonym, denn sie tragen ihre Fremdheit auf dem Gesicht und der Kleidung; es ist der Fotoapparat des einen und die Hornbrille des anderen, ihre linkische Art, in dieser Sprache, die keiner anderen gleicht, einige Worte hervorzubringen. Der Frühling läßt auf sich warten. Sie sind vom Regen durchweicht und mit Dreck bespritzt worden; nun sind sie in Korçä, der alten Stadt am Fuß der Berge, angelangt und betrachten die Gipfel, die die Grenze zu Griechenland bilden. Morgen werden sie sie überqueren.

Sie sind zu zweit. Dreißig Jahre trennen die beiden, und eine alte Freundschaft verbindet sie. Der jüngere ist Fotograf, der ältere Schriftsteller, beide sind Franzosen. Der erste stammt von slowenischen Eltern ab und hat in seinem untergegangenen Land Jugoslawien durch Rock-Songs und Comics die serbokroatische Sprache erlernt. Der ältere hat einige Revolutionen in verschiedenen Ecken der Erde miterlebt, ehe er begann, jene Länder zu bereisen, deren Dissidenten er einst der Öffentlichlichkeit vorgestellt hatte. Deshalb kehrt er wieder und wieder an jenen Ort zurück, der nur den Anfang seiner Reise hätte darstellen sollen, auf den südlichen Balkan, wo die beiden sich durch das Spiel des Zufalls auf einem alten türkischen Markt getroffen haben.

Albanien ist gefährlich. Schauen Sie sich nur den Film „Lamerica“ an: Man erfährt darin, daß die Albaner ein stolzes und unberechenbares Volk sind. Schon im Hafen von Durräsi hatte man ihnen gesagt: „Reisen Sie nicht weiter.“ Der Eisenbahner, bei dem sie übernachteten (sie schliefen im Wohnzimmer. Der Mann und seine Frau waren, inmitten des äußersten Mangels, sehr gastfreundlich, doch die Töchter bekam man nie zu Gesicht), hatte sie auf italienisch gemahnt: „Gehen Sie nicht weiter als bis zu dieser Straße, Sie treffen sonst auf die Mafia.“ Worauf sie trafen, war ein Liebespaar, das Hand in Hand spazierenging. Der Leiter des Jugendclubs hatte sie gewarnt (nicht auf italienisch, sondern auf russisch, das ist eine Frage der Generation): „Ostoroshno! Sie sind wahnsinnig, nach Gjirokastär zu wollen! Dort gibt es Banditen.“ Wie kommt es? „Enver Hoxha ist dort geboren. Das sind alles noch Kommunisten.“ Und? „Das sind Griechen.“ In Gjirokastär hatte man ihnen gesagt: „Fahren Sie nicht nach Korçä! Wenn Sie über die Berge gehen, wird Ihnen etwas zustoßen.“ Und jetzt, wird man sie davon abbringen wollen, über die Grenze zu gehen? Die Reisenden haben begriffen: die Gefahr ist immer woanders, ein wenig weiter, und der Feind ist immer der andere, im Nachbardorf, der Nachbarstadt, dem Nachbarland.

Am Abend fällt wäßriger Schnee, der den Schlamm flüssig werden läßt. Der Markt schließt, von kleinen Pferden gezogene Fuhrwerke fahren aufs Land zurück, Männer in hohen, weißen Filzkappen zerren Schafe hinter sich her. Die Verkäufer bauen Pyramiden von Zigarettenstangen und Coca-Cola-Dosen ab, die Händler verstauen in ihren dunklen Verkaufsbuden Kleidungsstücke mit italienischen Etiketten, türkisches Lokum und chinesische Nähmaschinen. Auf den ersten Blick ist die Unterstadt eine Ansammlung schäbiger Straßen. Im Zentrum einige rechteckige Gebäude. Weiter oben die baumbestandenen Alleen eines einstmals wohlhabenden Viertels mit herrschaftlichen Häusern, von Weinstöcken umgeben. Es braucht seine Zeit, bis eine Stadt, die zunächst verschlossen erscheint wie eine Geheimschrift, sich dem Blick offenbart.

Die Albaner sind alle Brüder

AN dem unerwartet sonnigen Morgen machen sie sich auf die Suche nach dem französischen Gymnasium. Aus dem grauen Gebäude strömen Schüler in Jeans und Basketballschuhen. Dies war, von 1917 bis 1945, das einzige Erbe der kurzlebigen „Republik Korçä“. Wer weiß heute schon noch, daß die Truppen des französischen Generals Maurice Sarrail den Patrioten der Stadt das Recht zugestanden, eine autonome Republik zu gründen? Die Griechen protestierten. Da man ihrer und des Hafens von Saloniki bedurfte, um den Krieg zu gewinnen, gab man im Namen der übergeordneten Interessen einer Zivilisation im Kampf gegen die Barbarei nach. Der kaum ernannte Präsident wurde einige Monate später hingerichtet. Das Gymnasium aber blieb unter König Zogu I. zunächst erhalten. Es verschwand mit der aufeinanderfolgenden Besatzung Albaniens durch die Italiener, Griechen und Deutschen und dem Beginn der kommunistischen Herrschaft. Heute ist es ein albanisches Gymnasium, eines der besten.

Die städtische Bibliothek ist einer jener Betonbauten, die nur solche Regime zu bauen verstehen, die entschieden haben, daß die Kultur ein für allemal und ausschließlich ihnen zu Diensten zu stehen habe. Ausreichend, um den Ekel mehrerer Generationen zu wecken. Kälte herrscht in den Sälen, wo einige Leser in Zeitungen blättern. Die Bibliothekarin jedoch strahlt. Mit der wiedergefundenen Freiheit, sagt sie, könne jeder seinen Weg selbst wählen. Den ihren sieht sie hier, aber auch in den drei Geschäften, die ihre Familie bereits erworben hat. Sie bietet den beiden ihre Dienste an. Sie hofft, daß bei ihnen zu Hause Chirac ein guter Präsident sein wird. Das ist normal: Chirac gehört zur Rechten, die Rechte, das sind die Reichen, und sie will reich sein, also ist sie rechts. Was sonst soll man mit der Freiheit anfangen, wenn nicht das wertvollste Gut, nämlich Reichtum, anhäufen? Präsident Berisha? Ein großer Demokrat. Sie ist orthodox, aber das sollen die beiden nicht mißverstehen: ob Muslim, Katholik oder Orthodoxer, die Albaner sind alle Brüder.

Das historische Museum, in einem Prachthaus in osmanischem Stil untergebracht, widmet sich, wie es sich gehört, der illyrischen Kultur. Der Schriftsteller, der das „Dossier H“ von Ismail Kadaré gelesen hat, weiß, daß über gewisse unumstößliche Tatsachen nicht gescherzt werden darf: die Illyrer sind die Ureinwohner des Balkans, und die wahren Nachfahren Homers leben in Albanien. Selbstverständlich weiß der Schriftsteller auch, daß er sich im Laufe der Reise daran wird erinnern müssen, daß die Griechen die westliche Zivilisation begründet haben, daß, dank Kyrillos und Methodios, Makedonien die Wiege der slawischen Kultur ist, daß Bulgarien das Bollwerk des Christentums war und die wahren Erben der römischen Kultur in Rumänien leben. Und daß jedes dieser Länder für sich allein das wahre Herz Europas darstellt.

Was die Rumänen anbetrifft, so erklärt der Konservator, daß er Aromune ist – also einer von denen, die man auch Walachen nennt. „Aber ob Aromune oder nicht, alle Albaner sind Brüder.“ Gibt es in dieser Gegend viele Aromunen? Selbstverständlich. Zahlreiche Dörfer waren früher gänzlich aromunisch; seine eigenen Kinder sprechen das Aromunische. Und wann haben sich diese Aromunen hier angesiedelt? Die Frage ist falsch gestellt: „Die Aromunen brauchten sich hier nicht anzusiedeln. Sie leben von je her auf diesem Boden. Es sind romanisierte Illyrer, sie haben mit Rumänien nichts zu tun.“ Die Rumänen freilich sehen das anders.

Unsere Reisenden durchstreifen die ihnen beinahe schon vertraute Stadt. Ob innerstädtische oder Landstraße, immer ist alles voller Menschen in Albanien. Menschen ohne Arbeit oder in schwer durchschaubare Tätigkeiten verwickelt, Geldwechsler und jener Teil der Bevölkerung, der dank winzigster Handelsgeschäfte überlebt – ein Versuch, an der Herausbildung des wildwüchsigen Kapitalismus teilzuhaben. Man ist nie allein.

Sie haben einen Preis vereinbart, man wird sie an die Grenze bringen. Sie haben sich nicht an den Erstbesten gewandt: In zwei Tagen kann man solide Verbindungen knüpfen. Sie vertrauen ihrem Mann, oder genauer, dieser vertraut seinem Mann, der sie fahren wird, seinem Cousin. Bloß, zur vereinbarten Stunde hat der Wagen des Cousins eine Panne, und so hilft dessen Freund mit dem seinen aus, der mächtig verrostet ist. Aber der Cousin wird mitfahren, um zu beweisen, daß er sein Wort hält.

Während der langsamen Fahrt zum Paß hinauf hat man Zeit, einander kennenzulernen. Der Fahrer ist Ingenieur von Beruf. Derzeit verdient er damit nicht einmal einen Dollar pro Tag. Eine Perspektive gibt es nicht, es sei denn, man sichert sich sein Überleben mit Dienstleistungen wie dieser. Zehn Dollar nimmt er pro Fuhre. Und die Demokratie? „Die Demokratie, die haben sie uns gegeben. Schaut sie euch an, haben sie gesagt. Es ist alles in den Händen von Polizei und Mafia. Früher konnten wir nicht reisen, aber es gab Brot. Jetzt gibt es kein Brot mehr, und wir können immer noch nicht reisen.“

Die Fahrt in dem Wagen ist halsbrecherisch, und das bei 40 Stundenkilometern. Straßensperre, Polizei. Man hatte sie gewarnt, daß es Wegelagerer gebe. Allerdins müssen nicht sie sich freikaufen, sondern der Fahrer. Der Betrag auf dem Strafzettel ist höher als der Fahrpreis. Ihn wird wahrscheinlich das Heulen ankommen. Er heult bereits. Die Reisenden kramen aus ihren Taschen, was ihnen an Lek verblieben ist. Und als der Wagen sie ein paar Meter vor dem geflickten gelben Schlagbaum absetzt, der die Grenze bildet, gibt ein rauher Bruderkuß der Illyrer dem Abschied die gehörige Feierlichkeit.

Sie laufen an deutschen, griechischen, bulgarischen, moldawischen und ukrainischen Lkws vorbei, die sich hier zu endlosem Warten eingefunden haben. Und lassen auch eine stille Menge hinter sich, die worauf hofft? Auf ein Wunder? Nicht jeder, der will, kommt in den Besitz eines europäischen Passes: Das Wunder findet nicht statt. Allein betreten sie das Niemandsland.

„Sehen Sie her, das ist ja der reine Krieg hier“, entfährt es dem Fotografen.

Die Straße ist nur noch Schlamm und Matsch. Lange Kolonnen von Gefangenen, flankiert von griechischen Soldaten mit Gewehr und aufgesetztem Bajonett, kommen ihnen entgegen. Griechenland schickt sie zurück.

Die griechische Grenzstation ist modern und die Straße nach Florina hinunter nagelneu, als warte sie nur darauf, die aus dem Westen kommenden Waren über sich rollen zu sehen. Die griechischen Taxis sind luxuriöse Mercedes, und die Fahrer verachten die beiden Fußgänger, die aus dem Land der Verlausten herübergekommen sind. Ein Konvoi von Bussen entlädt seine menschliche Fracht und fährt leer zurück. Der Taxifahrer will die Ausweise unserer beiden Reisenden sehen. Die verstehen dieses Mißtrauen nicht. Sie werden es aber gleich verstehen. Einen Kilometer bergabwärts versperrt ein Panzer die Straße. Dreimal insgesamt werden sie für langwierige und argwöhnische Personenkontrollen angehalten. Unten im Tal entspannt sich der Taxifahrer: Diese Albaner sind ein Fluch. Alles Haschischhändler.

Nach der Belebtheit der ländlichen Gegenden Albaniens wirkt die griechische Seite seltsam verlassen. Wer wohnt hier? „Deutsche, Holländer ...“ 1913 war dieses Gebiet Schauplatz der Greuel des Zweiten Balkankriegs. Bevor die Griechen es in erbittertem Kampf einnahmen, lebte hier ein Mosaik der unterschiedlichsten Gemeinschaften: makedonische Slawen, Bulgaren und Serben, Griechen, Albaner, Türken, Armenier, Juden, Aromunen, Zigeuner ... Ein Musterbeispiel ethnischer Säuberung. Die slawischen Makedonier, die verblieben sind und nicht mit dem letzten Exodus 1947, am Ende des Bürgerkriegs, ausgewandert sind, haben längst ihre Namen hellenisieren müssen. Später setzte die Landflucht ein.

Hat man sich derart geschlagen, um schließlich dieses entvölkerte, mit Zweitwohnsitzen überzogene Land sein eigen nennen zu können? Widersinn der Geschichte: ein halbes Jahrhundert lang sind Griechen zu Hunderttausenden ausgewandert, und Griechenland ist stolz auf seine Diaspora. Zur gleichen Zeit hat nicht ein Albaner sein Land verlassen dürfen. Heute ist es zu spät, dem griechischen Beispiel zu folgen, und schon gar nicht auf deren Territorium ...

Wo wollen die Reisenden hin? Der Schriftsteller sagt das schlimmste der Worte: nach Makedonien. Was heißt nach Makedonien? Na ja, nach Bitola, und weiter nach Skopje. Der Fahrer wird wütend. Er ist kurz davor, sie hinauszuschmeißen, im Straßengraben abzusetzen. Aber er entschließt sich, diesen beiden Analphabeten einen Geschichtskurs zu erteilen: Es gibt nur ein Makedonien, und zwar jenes, wo sie sich gerade befinden, und das war von jeher griechisch. Alexanders Sonne ist griechisch, die in Skopje hatten kein Recht, sie zu stehlen und auf ihre Fahne zu setzen. Das sind Slawo-Makedonier, die wesentlich später als die Griechen kamen. Ihr Präsident Gligorow will in Griechenland einmarschieren und Thessaloniki erobern. Dahinter steckt das große Komplott der USA gegen Griechenland: Was hatten denn die amerikanischen „Blauhelme“ in Skopje sonst verloren?

Sie werden nicht verraten, daß sie die Republik Makedonien gut kennen; daß, was immer die Nationalisten sagen mögen, die fünfzehntausend Mann der makedonischen Armee Griechenland nicht bedrohen können. Außerdem sind sie müde. Es dämmert, als sie in Florina ankommen, einem leeren, toten Städtchen, wie in den nebelverhangenen Filmen von Theo Angelopoulos.

Der Abend in Florina ist endlos und trist. Die Einwohner hocken wohl vor ihrem Fernseher. Ein oder zwei Restaurants, ein paar Kneipen, wo die Jugend ihrer Langeweile nachgeht. Gleichförmige Häuser, aus Beton und ohne Architekten gebaut, reihen sich am Rand der Straßen aneinander, bisweilen ist dazwischen ein älteres zu sehen, das auf die Abrißbirne wartet.

Frühmorgens steigen sie in Richtung makedonische Grenze hinauf. Wälder, Schneereste, dann tauchen sie aus dem Nebel hervor auf eine Ebene. Die Straße ist hoffnungslos leer. Plötzlich, die Ebene durchschneidend, liegt vor ihnen die Grenze. Vor der griechischen Grenzstation hält eine monumentale Statue Alexanders des Großen Ausschau nach den Barbaren. Auf der anderen Seite flattert die Fahne der Republik Makedonien, granatfarben, geflammt mit der skandalträchtigen Sonne. Ein Grenzer zählt, mangels Kundschaft, die Stunden. Die griechische Blockade gegenüber Makedonien ist vollkommen. Früher gab es hier regen Verkehr. Die Einwohner von Bitola kamen, als Nachbarn, auf den griechischen Markt.

Ein Bus, hier? Wozu, da doch alles tot ist? Der Grenzer bietet ihnen an, ein Taxi aus Bitola zu bestellen. Sie warten eine Stunde in vollkommener Stille. Das einzige lebendige Wesen, welches die Grenze passiert, ist ein Hund. Der Schmierenkomödiant passiert sie noch einmal, um ganz sicher zu gehen, daß er fotografiert worden ist. Ein metallisches Blinken am Horizont: es ist der Lada, der sie holen kommt.

Bitola präsentiert sich als klassische sozialistische Stadt, mit rechteckigen Gebäuden und Fabriken, von denen viele geschlossen zu sein scheinen. Das historische Zentrum, mit prätentiösen Bauten aus Eisen, Beton und Spiegelglas, ist unversehrt. Als die Stadt Monastir hieß, war sie Sitz eines vilayet [eines türkischen Verwaltungsbezirks, Anm. d. Ü.] und zählte ein Dutzend Konsulate, zahlreiche Banken, einen florierenden Handel. Häuser mit reich verzierten Fassaden, wie es sie auch in Florina gegeben haben muß und man sie in Korçä noch sehen kann, zeugen von diesen glücklichen Jahren. Auf der Hauptstraße stehen nebeneinander eine Moschee, eine orthodoxe Basilika und eine katholische Kirche.

In der „Tscharschia“, dem Kneipenviertel, wo sie einen Kaffee trinken, spricht der Lada-Fahrer problemlos mit ihnen serbokroatisch. Früher war er Polizist in Belgrad, aber er fühlte sich dort unwohl. Bitola lebt auf Sparflamme: Schuld an all dem ist der griechische Wahnsinn. „Wir bedrohen sie? Das redet ihnen doch die Lobby der amerikanischen und australischen Griechen ein.“ In dieser Zeit der Flaute hat er wenig Kunden. Außer den Zigeunern nimmt kaum jemand das Taxi, und die wollen nur angeben. Früher, da gab es Studenten, die in Saloniki studierten: Wenn er fünf von ihnen einlud, brachte das Geld. Er könnte auch eine Fuhre nach Belgrad machen, aber dabei würde er sein ganzes Geld wieder los, weil er unterwegs würde Lösegeld zahlen müssen: da unten sind alle bewaffnet, dort herrscht Krieg. Trotzdem besteht keine Gefahr, daß der Krieg überspringt. Natürlich ist Makedonien winzig und von feindlichen Nachbarn umgeben. Die Griechen würden es gern, Hand in Hand mit Milosevic, zerstückeln; die Albaner und Bulgaren warten nur auf das Jagdsignal. Aber die Makedonier sind friedfertig, die Makedonier drehen nicht durch, wie die da oben im Norden, in Bosnien. „Der Makedonier ist gut und rund wie eine Wassermelone.“

Der Schriftsteller denkt daran, was seine Freunde in Sarajevo ihm erzählt haben: „Wir sahen die Bombardierungen von Dubrovnik im Fernsehen und sagten uns, die sind wahnsinnig geworden, bei uns würde so etwas nie passieren ...“

Die Nationalisten des VMRO, Erben der berüchtigten Komitadschi [die in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s gegen die türkische Herrschaft kämpften, Anm. d. Ü.], wollen Groß-Makedonien umgestalten? „Sie haben sich durch ihren Wahlboykott von der Bevölkerung isoliert .“ Die albanische Minderheit macht etwa ein Drittel der Bevölkerung aus? „Dreitausend sind es in Bitola, und wir haben immer absolut friedlich zusammengelebt. Wenn ich in mein Heimatdorf fahre, besuche ich immer sofort die albanischen Familien.“ Nichts in all diesen vernünftigen Worten erinnert an die entsetzlichen Bilder aus dem Film „Before the Rain“, wo man uralten Haß sich in Blut entladen sieht. Und dennoch, was ist mit dieser Geschichte von der Universität von Tetovo, dieser albanischen Hochburg, vor ein paar Monaten? Sie wollten ihre eigene Universität und Albanisch als Unterrichtssprache. Daraufhin ist sie geschlossen worden, es gab Unruhen, Tote ... „Das war eine Provokation. Der Rektor kam aus Pristina, der war nicht von hier. Die Kosovo-Albaner sind anders, das sind hemmungslose Nationalisten, die ein Groß-Albanien wollen. Eine albanische Universität, das wäre eine Absage an die Integration gewesen. Der Rektor hat sich sechs Jahre Gefängnis eingehandelt, die hat er nicht umsonst bekommen.“ Sie werden dieselbe Darstellung in Skopje hören, und zwar nicht aus dem Munde eines einfachen Taxifahrers. Sie werden noch einmal nach Tetovo müssen, die Albaner treffen, die sie dort kennengelernt haben ...

Das unter der türkischen Herrschaft gegründete Gymnasium feiert den fünfzigsten Jahrestag des Unterrichts in makedonischer Sprache, die seit 1945 anerkannt ist. Zu Ehren dessen, dem diese Anerkennung zu verdanken ist, heißt es bis heute Broz-Tito. Vorher hatten die Serben behauptet, das, was die Makedonier sprächen, sei Serbisch, und die Bulgaren, es sei Bulgarisch. Die Sprachen sind eng verwandt, Bulgaren wie Serben können das Makedonische problemlos verstehen; es zu sprechen allerdings bereitet schon eher Probleme. Der Fotograf versucht es. Aber dann fragt er auf serbokroatisch nach dem Weg. „Woher kommst du eigentlich?“ – „Aus Slowenien.“ – „Warum sprichst du dann nicht slowenisch mit uns, statt diese beschissene Sprache?“

Die erste rückeroberte serbische Stadt

AUSSERHALB der Stadt liegt, tadellos gepflegt, der französische Friedhof. Zuaven, die die Infanterietruppen der französischen Orientarmee bildeten; siebentausend eiserne Kreuze, mit der Trikolore geschmückt, und ebenso viele Leichname übereinandergeschichtet im Beinhaus. In der Wärterloge kann man eine öffentliche Ehrung der (französischen) Nation für Bitola, ehemals Monastir, lesen: „Tapferer Ort, der im Dezember 1915 aufs schwerste die Härten der feindlichen Besatzung erlitten hat, erste rückeroberte serbische Stadt ...“ Gezeichnet: Maginot, Kriegsminister. Härten hatte Monastir schon drei Jahre zuvor erlitten: 1912 hatte eine griechisch-serbisch-bulgarische Koalition es den Türken entrissen, 1913 hatten die ehemals Verbündeten begonnen, sich die Stadt untereinander streitig zu machen, wobei jede Seite sich auf einen Teil der Einwohner stützte. Die Greuel, die von allen „Kriegsparteien“ gleichermaßen begangen wurden, gehören zu den ärgsten, die die Carnegie-Kommission bei ihren Untersuchungen auf dem Balkan erfassen mußte. Bei der Lektüre des damaligen Kommissionsberichts läßt sich feststellen, daß die jüngsten Berichte von den Verbrechen auf der anderen Seite der Drina nichts Neues lehren. Der Baron d'Estournelles de Constant, Friedensnobelpreisträger und Kommissionsvorsitzender, schrieb schon im Frühjahr 1914, daß einzig ein Schiedsspruch Europa vor der Ausweitung des Krieges bewahren könne. Drei Monate später löste in Sarajevo eine Bombe die Hölle aus.

Nach seiner Einverleibung ins Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen war es für Bitola mit den „Härten“ nicht zu Ende: im zweiten Weltkrieg wurde es von Deutschen und Bulgaren besetzt. Die Überreste des jüdischen Friedhofs erstrecken sich auf einem Hügel, wo heute Schafe weiden und Kinder zwischen Brombeersträuchern, Abfallhaufen und zerbrochenen Grabsteinen spielen. Niemand scheint hier irgend etwas unternommen zu haben seit dem Tag, an dem der Friedhof geschändet wurde. Nur vereinzelt sind noch Inschriften lesbar – die jüngste aus dem Jahre 5699, 1939 nach christlicher Zeitrechnung. Unsere Reisenden befragen einen Einwohner: Wie viele Juden gibt es noch in Bitola? Er glaubt, es gebe keine mehr. Und was ist mit den Leuten passiert, die hier zu Tausenden die Gräber ihrer Vorfahren zurückgelassen haben? Er zuckt die Achseln: „Du weißt doch, was damals passiert ist.“

In den Regentropfen glänzt die Sonne: „Hier sagt man: Da heiratet ein Zigeuner.“ Die beiden Reisenden wollen den Zug nach Prilep nehmen. Dort werden sie im Erzengelkloster erwartet. Der Fotograf macht ein Erinnerungsfoto von dem kleinen Bahnhof. Ein zärtliches Gefühl des Friedens ergreift die beiden. Sogleich spricht der Fotograf wieder vom Krieg, den er da oben, an der dalmatinischen Küste, kennengelernt hat: „Es ist merkwürdig. Alles still, die Sonne strahlt, die Vögel singen, und mit einemmal zielt einer auf dich, aus dem Blattwerk eines schönen Wäldchens hervor.“ Sie würden wohl noch eine Weile weiterphilosophieren, wäre da nicht der Polizist, der, gefolgt vom Stationschef, plötzlich auftaucht. Warum haben sie den Bahnhof fotografiert? Das ist ein strategisches Objekt. Sie haben französische Ausweise, sprechen serbisch, einer behauptet von sich, er sei Slowene, sie kommen aus Griechenland, und sie haben merkwürdige Berufe. Man wird all dies auf dem Kommissariat überprüfen. Sie werden nicht ihren Zug nehmen wie geplant.

dt. Evelyne Passet

Schriftsteller, Verfasser von „Roissy Express“, Freiburg 1994. Mit dem Fotografen Klaudij Sluban arbeitet er derzeit an einem Buch über seine Reisen auf dem Balkan, das 1996 erscheinen wird.

Le Monde diplomatique vom 11.08.1995, von Francois Maspero