Zensur und Blutgericht
Von
ALAIN
GRESH
GLAUBWÜRDIGEN Berichten zufolge werden Häftlinge in staatlichem Gewahrsam nach wie vor gefoltert und mißhandelt, Ausländer ebenso wie Bürger des Landes. Eine gebräuchliche Methode sind Schläge auf die Fußsohlen, die einen besonders heftigen Schmerz bewirken (die sogenannte fallaka). Außerdem entzieht man den Gefangenen den Schlaf.“1 Wie in jedem Jahr wird auch im neuesten Bericht des amerikanischen Außenministeriums über den Umgang der „saudiarabischen Freunde“ mit den Menschenrechten nicht mit Kritik gespart.
Gedankenfreiheit gibt es in diesem Königreich nicht. „Die akademischen Freiheiten sind eingeschränkt“, heißt es in dem Bericht. „Weder die Evolutionstheorie noch Freud oder Marx sind erlaubt, die ganze westliche Philosophie und Musik sind weiterhin verboten. (...) Der Staat wacht über alle künstlerischen Ausdrucksformen: Film, Theater und Musik sind in der Öffentlichkeit nicht erlaubt, mit Ausnahme von Folkloreveranstaltungen.“ Das Verbot von Kinos ist zweifellos eine weltweit einmalige saudische Spezialität.
Der Bericht des Außenministeriums bestätigt, was man in den europäischen Führungskreisen seit langem weiß: Im wahhabitischen Königreich sind alle Arten von Mißhandlung an der Tagesordnung, Opfer werden vor allem Ausländer aus den Ländern der sogenannten Dritten Welt.
Mohammed Kamel ist aus Ägypten in die saudische Provinz Kassem gekommen, um hier als Arzt sein Geld zu verdienen. Eines Tages kommt sein siebenjähriger Sohn weinend aus der Schule nach Hause – er ist vom Direktor vergewaltigt worden. Mohammed Kamel läßt die Spuren der Mißhandlung feststellen, erstattet Anzeige ... und wird verhaftet. Er sitzt im Gefängnis, bis es dem ägyptischen Staatspräsidenten Mubarak schließlich gelingt, bei König Fahd seine Begnadigung und Ausweisung zu erwirken. Aber unmittelbar vor seiner Abschiebung am 25. Mai 1995 wird er auf einen öffentlichen Platz gebracht, auf dem die Kinder aus allen Schulen antreten und mitansehen müssen, wie Mohammed Kamel achtzig Peitschenhiebe erhält. Der anwesende Schuldirektor (der eigentliche Schuldige) bleibt unbehelligt. In Ägypten erregt der Fall großes Aufsehen, es kommt zu heftigen Protesten sowohl von Seiten der Menschenrechtsorganisationen als auch in der Presse.2 Die Verantwortlichen in Saudi-Arabien dagegen begnügen sich mit dem Hinweis: „Wir haben die scharia angewendet.“
In einer Stellungnahme zu diesem Fall kritisiert das Londoner Komitee zur Verteidigung der Grundrechte (das zur saudischen Opposition gehört) die Abhängigkeit der Justiz von der königlichen Familie. „Die Züchtigungen, die das Regime für gerecht erklärt, treffen nur diejenigen, die sich nicht wehren können. (...) Unter den Prinzen gibt es einige, die Menschen angegriffen, vergewaltigt oder getötet haben, aber die Betroffenen wurden gezwungen, ihre Anzeigen zurückzunehmen.“3 „Für die königliche Familie und die anderen mächtigen Clans gilt nicht dasselbe Recht wie für den gewöhnlichen Bürger“, heißt es auch im Bericht des amerikanischen Außenministeriums. „Den Richtern fehlt in diesen Fällen die Macht, eine Vorladung durchzusetzen.“
Am 15. Mai 1993 hatte amnesty international seine Besorgnis wegen der entsetzlichen Häufung öffentlicher Hinrichtungen geäußert, die „nach äußerst ungerechten Gerichtsverfahren“ verhängt wurden. Von Mai 1992 bis Mai 1993 waren 105 Personen hingerichtet worden – viermal so viele wie im Jahr zuvor. Vermutlich wird diese Zahl 1995 noch übertroffen werden: in den drei Monaten vom 20. Januar bis zum 19. April haben bereits 90 Hinrichtungen stattgefunden. Die Mehrheit der zum Tode verurteilten wie auch derer, denen eine Hand abgeschlagen wird, sind ausländische Arbeiter, die wegen Rauschgifthandels oder Diebstahls angeklagt wurden.
Said al-Bichi ist der Scharfrichter der Provinz Mekka. Nach eigener Auskunft hat er über 600 zum Tode Verurteilte enthauptet und mehr als 90 Dieben die Hand abgeschlagen. „Eine besonders merkwürdige und schwierige Situation habe ich in Mekka erlebt“, erzählt er, „als ich zwei Männer hinrichten mußte, die einen Arbeitskollegen umgebracht hatten. (...) (Wir befanden uns) auf dem Sahat al-Adl [Platz der Justiz], vor der Moschee. Nachdem das Todesurteil verlesen war, schlug ich einem der Verbrecher den Kopf ab, mit einem Hieb, so daß er vom Körper fiel und direkt vor dem anderen Mann liegen blieb. Als ich auf diesen zutrat, sah er mich sehr merkwürdig an, aber ich empfand kein Mitleid, denn er war ein Verbrecher, der seine Strafe verdient hatte. Ich versetzte ihm einen Schlag (mit dem Schwert), und er stürzte zu Boden. Der Arzt untersuchte ihn und erklärte, er sei tot.“ Dem war aber nicht so, sondern „der Anblick des Kopfes seines Schicksalsgenossen hatte dem Verurteilten einen solchen Schock versetzt, daß sein Herz einige Augenblicke lang stillstand.“ Man mußte ihm also noch den Gnadenstoß geben. „In manchen Fällen braucht man zwei Hiebe, bis sie tot sind“, erläutert der Scharfrichter, „und ganz selten drei.“4
Seit die Islamisten zu einer Bedrohung geworden sind, „ergreift die Regierung Maßnahmen zur Einschränkung der Informationsfreiheit“, heißt es im neuesten Bericht der Organisation Human Rights Watch.5 „In einer Reihe von Verlautbarungen des Innenministeriums sind die Bürger des Landes und die ansässigen Ausländer darauf hingewiesen worden, daß sie sich jeder Kritik an der ,Innen-, Außen-, Finanz- und der Medienpolitik sowie allen anderen Maßnahmen‘ des Staates zu enthalten hätten und auch nicht ,mit Personen im Ausland oder mit Extremisten im Inland per Telefon oder Telefax in Verbindung treten‘ dürften. (...)“
DER Bericht stellt die vielfältigen Beschränkungen der journalistischen Arbeit dar (nicht zuletzt die beinahe systematische Ablehnung von Visumanträgen) und beschreibt dann, welch riesiges Medienimperium inzwischen von saudischem Kapital beherrscht wird:
„Die Regierung hat 1994 ihren beträchtlichen Einfluß auf internationale und bedeutende regionale Mediengesellschaften abermals ausgeweitet. Mitglieder der königlichen Familie hatten bereits früher bestimmte marktstrategisch bedeutende Unternehmen gekauft, zum Beispiel die Nachrichtenagentur United Press International, die Tageszeitung al-Hayat, eines der wichtigsten Blätter des Nahen Ostens, und den Fernseh-Satellitensender MBC, mit Sitz in London. Mit Radio Monte Carlo/Nahost, dessen Programm zu den wichtigsten Informationsquellen im Königreich gehört, hat der saudische Informationsminister eine Vereinbarung darüber geschlossen, wie die positiven Aspekte der Regierungspolitik dem Publikum besser nahegebracht werden können. Im November 1993 hat MBC den Privatsender ANA (Arab Network of America) gekauft, dessen Radio- und Fernsehprogramm in den meisten großen amerikanischen Städten zu empfangen ist. Bereits einen Monat nach dem Eigentümerwechsel wurden bei ANA mehrere Sendungen verschoben, gekürzt oder abgesetzt, die sich kritisch mit Saudi-Arabien beschäftigten. Ebenfalls 1994 kündigte die British Broadcasting Corporation (BBC) ein Programm in arabischer Sprache an, das mit finanzieller Hilfe eines Mitglieds des saudischen Königshauses realisiert werden soll, von dem die Gesellschaft auch die Übertragungsrechte für Saudi-Arabien erhalten wird.“ Muß man sich da noch wundern, daß kritische Berichte aus dem wahhabitischen Königreich in den Massenmedien kaum zu finden sind?
Seit dem 20. Juli ist der saudische Prinz al-Walid Ben Talal mit 4,1 Prozent am Aktienkapital von Silvio Berlusconis Fernsehsendern beteiligt ...
dt. Edgar Peinelt
1 „Saudi Arabia Human Rights Practices“, 1994, State Department (Washington), 1995.
2 Siehe besonders al-Moharer (Paris) vom 5. Juni 1995.
3 Kommuniqué Nr. 34, London, 4. Juni 1995.
4 Zitiert nach amnesty international, „Recrudescence des exécutions publiques“, London, 15. Mai 1993. Siehe auch das Kapitel über Saudi-Arabien im Jahresbericht 1995 von amnesty international.
5 Human Rights Watch, „Watch World Report 1995“, New York 1995. Zur saudischen Medienpolitik siehe auch: René Naba, „La guerre des ondes dans l'espace euro-méditerranéen“, al-Moharer (französische Beilage) vom 3. Juli 1995.