11.08.1995

Zwischen den Ruinen des Aufstands

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Zwischen den Ruinen des Aufstands

■ Von einer einzigen Ausnahme abgesehen, gibt es in Rußland keine geschlossenen Städte mehr. Selbst Murmansk, Kaliningrad und Wladiwostok, als Militärstützpunkte noch vor ku

Von einer einzigen Ausnahme abgesehen, gibt es in Rußland keine geschlossenen Städte mehr. Selbst Murmansk, Kaliningrad und Wladiwostok, als Militärstützpunkte noch vor kurzem unzugänglich, stehen nunmehr den Besuchern offen. Die Ausnahme ist Kronstadt, wo im Februar/März 1921 der berühmte Matrosenaufstand stattfand. Niemand darf die Insel betreten. Nicht einmal Russen, geschweige denn Ausländer, nur die Bewohner. Und wohnen kann dort nur, wer auf den Werften oder in den Waffen- und Warenlagern des Marinestützpunktes arbeitet.

Von IGNACIO RAMONET

KRONSTADT bleibt ein mythischer Ort. Malerisch (doch reichlich baufällig), geometrisch gegliedert und voller Prachtbauten, wurde die Stadt 1703 im Auftrag Peters des Großen – des Gründers von St. Petersburg – angelegt, und zwar im äußersten Osten der Insel Kotlin, die knapp dreißig Kilometer vor der einstigen Hauptstadt im östlichen Teil des Finnischen Meerbusens liegt. Über lange Zeit hinweg war die Stadt der einzige Militärhafen des Russischen Reichs.

Und so wird die von Geschäftigkeit überbordende Stadt in einem Werk aus dem 19. Jahrhundert beschrieben: „Gewaltige und perfekt angeordnete Speicher, unermeßliche Magazine, reiche Warenhäuser, ein Zeughaus, das einer beträchtlichen Zahl von Arbeitern Brot gibt, schöne Hafenbecken, Kanäle, von denen die einen der Handels-, die anderen der Kriegsmarine vorbehalten sind; mit einem Wort, alle Einrichtungen, die für eine Hafenstadt ersten Ranges unentbehrlich sind und die dem Reisenden, der im Hafen anlangt, eine beeindruckende Ansicht von Kronstadt bieten.“1

Darüber hinaus ist es eine uneinnehmbare Festung: „Die Stadt ist von ausgezeichneten Schanzen und Bastionen umgeben, die bewehrt sind mit Artillerie; die kleineren Inseln im Norden und Süden der Insel Kotlin sind alle befestigt, und zahllose Batterien, deren Feuer sich kreuzen, bewachen jede passierbare Durchfahrt. Das ganze Ufer längs der Stadt und der drei Häfen ist befestigt mit Granitwerken, welche bestückt sind mit Geschützen, die, wenn sie das Wasser bestreichen, jeder Kanone zu spotten scheinen. Zahlreiche der kleinen, vor der Stadt gelegenen Inseln sind zu gefürchteten Zitadellen geworden. Im Osten erhebt sich das Fort Risbonk, ausgerüstet mit 217 Kanonen. Daneben liegt das nicht minder gefürchtete Fort Konstantin mit seinen mächtigen Batterien. Wer sich auf dem Seewege der Stadt Peters nähert, der muß an der gewaltigen Artillerie von Kronstadt vorbei, denn an anderer Stelle ist der Golf hier von Sandbänken übersät, die eine Schiffspassage unmöglich machen.“2

Heute gelangt man nach Kronstadt auf dem Landweg. Ein Deich von immensen Ausmaßen verbindet die Insel Kotlin mit dem Nordufer des Finnischen Meerbusens; gekrönt ist er von einer nicht fertiggestellten Autobahn. Der Bau der Anlage, Ende der achtziger Jahre von der sowjetischen Regierung beschlossen, ließ homerische Kämpfe entbrennen: Umweltorganisationen warnten vor der Gefahr einer Verschlammung der Bucht. Eine Eisenbahnlinie – inzwischen vergessen, verbogen, verrostet – war speziell für diesen Zweck gebaut worden, sie verband die gewaltige Baustelle mit dem fernen Karelien nahe dem Polarkreis, von wo man den Granit (jenen, aus dem Napoleons Sarkophag im Dôme des Invalides gefertigt ist) für die Aufschüttung heranschaffte.

Sobald man einen Fuß auf den Deich setzt, stößt man auf Warntafeln, die ankündigen, daß man Militärgebiet betritt. Am ersten Kontrollposten – es gibt ihrer drei auf dem Wege bis Kronstadt – wollen bewaffnete Soldaten und Polizisten den Passierschein sehen. Jeder Inselbewohner muß ihn vorweisen können. Die Russen, die nicht dort wohnen, brauchen eine Sondererlaubnis des Militärkommandanten und des Bürgermeisters von Kronstadt. Für Ausländer gibt es keine Sonderregelung. Schon gar nicht für Journalisten. Die Angst vor feindlicher Infiltration beziehungsweise vor tschetschenischen Anschlägen sorgt dafür, daß das Militärpersonal mit besonderer Genauigkeit alle Fahrzeuge und Ausweispapiere kontrolliert.

Bei der Ankunft auf der Insel sieht man zunächst ein großes Schild: „Kronstadt, die Geburtsstätte des Radios, begrüßt Sie.“ Geburtsstätte des Radios? Ja, hier war es, an der Schule für Torpedooffiziere, daß der Ausbilder und Ingenieur Alexander Popow 1889 die Radioantenne erfand und im März 1896 die erste drahtlose Nachricht über 250 Meter hinweg übermittelte.

Ein wenig weiter ist der Sowchos kronstadtski unverändert in Betrieb, offenbar wird hier Gemüse und Obst für die sechzigtausend Einwohner der Insel Kotlin erzeugt. Die Landschaft ist ohne Reiz, karg und baumlos. Die Insel, dreizehn Kilometer lang und drei Kilometer breit, ist völlig eben, hat keine Erhebung und liegt nur knapp über dem Meeresspiegel. Die Zitadelle befindet sich im äußersten Osten. Auf dem Wege dorthin durchquert man häßliche Neubauviertel, die 1984 errichtet wurden: zehn-, zwölfstöckige, schäbig aussehende Türme, auf Schlamm gebaut, das umgebende Gelände eine müllübersäte Brache.

Es gibt nur ein einziges Tor in der beeindruckenden Stadtmauer, durch das man in die befestigte Stadt gelangen kann. Die mächtigen Granitblöcke, die als Grenzwall fungieren, verleihen ihr das megalithische Aussehen einer Inka-Festung. Auf den ersten Blick erinnert die kleine Stadt an die Viertel des alten Sankt Petersburg. Derselbe holländische Baustil, dieselbe Aufmerksamkeit für die Perspektive. Breite, im rechten Winkel sich schneidende, baumbestandene Straßen. Blumenbepflanzte Plätze. Aber die meisten Gebäude sind baufällig oder bereits eingestürzt – unrettbare Baudenkmäler.

Die Stadt drängt sich dicht um ihr neuralgisches Zentrum: die drei Hafenbecken mitsamt den Lagerhäusern. Kanäle, die von prächtigen Alleen gesäumt sind, dienten noch unlängst dazu, Munition in aller Ruhe aus den Fabriken zu den im Hafen vor Anker liegenden Schiffen zu transportieren.

Im Herzen der Festung: der berühmte Anker-Platz. Streng genommen ist er der Vorplatz der Kirche der Seeleute, ein imposantes Bauwerk mit goldener, schon von weitem sichtbarer Kuppel. Zur Zarenzeit erhielten hier die Feldgeistlichen der Flotte ihre Einweisung. Nach der Revolution von 1917 wurde das Hauptschiff der orthodoxen Basilika in ein Theater umgewandelt; und die Galerie, die im vierten Stock die gewaltige Kuppel umrundet, nahm ein Museum auf, das sich (aus sowjet-offizieller Sicht) der Geschichte der Kronstädter Matrosen widmet.

Dreimal haben die Matrosen rebelliert. Jedesmal gingen davon Erschütterungen für die russische Geschichte aus. Der erste Aufstand fand 1905/1906 statt (Eisensteins „Panzerkreuzer Potjomkin“ bringt diese Ereignisse in Erinnerung, wenngleich der Film den Aufstand der Mannschaften der Schwarzmeerflotte schildert). 1917 dann spielte Kronstadt während der bolschewistischen Revolution eine herausragende Rolle. Hier wurde die Losung ausgegeben: „Alle Macht den Räten!“. Hier lichtete der berühmt gewordene Panzerkreuzer Aurora seine Anker. Hier brachen schließlich mehr als fünftausend Matrosen auf, um am Oktober-Aufstand und an der Erstürmung des Winterpalastes teilzunehmen.

Aber es ist die dritte Erhebung gewesen, die sich den Revolutionären aller Welt am stärksten eingeprägt hat: jener Aufstand des Jahres 1921 gegen das Machtmonopol der Kommunistischen Partei und für das Recht der Bauern auf Landbesitz. Die „Commune“ von Kronstadt, die Lenins Macht erschütterte, dauerte vierzehn Tage. Aus Furcht vor einer Ausweitung der Rebellion auf ganz Rußland machte die Regierung das Zugeständnis einer „Neuen Ökonomischen Politik“ (NEP). Vergeblich. Trotzki, damals Kriegskommissar, hatte gesagt, die Matrosen von Kronstadt seien „der Ruhm und der Stolz der Russischen Revolution“ – was ihn nicht daran hinderte, dem Oberbefehlshaber der Roten Armee, Tuchatschewski, den Befehl zu geben, den Aufstand niederzuschlagen. Am 18. März 1921 war die in ihrem Kern freiheitliche und idealistische Revolte in Blut ertränkt. Grausame Strafen wurden verhängt.3 Die Ereignisse dienten den bolschewistischen Machthabern als Vorwand, alle anderen Parteien nun endgültig zu verbieten und innerhalb der Kommunistischen Partei ein Fraktionsverbot zu verhängen.

Im Museum, das niemand mehr besucht, gibt es eine versteckte Vitrine, die diesem „Putsch“ (wie es hier heißt) gewidmet ist: Erwähnt wird einzig „der Heldenmut jener, die den Verrat erstickten“. Die damaligen Schlächter werden nicht ausführlicher genannt, schließlich wurden sie später selbst von der Sowjetherrschaft liquidiert: Trotzki in Mexiko ermordet, Tuchatschewski während der Säuberung 1937 erschossen. Ist es nicht, vier Jahre nach dem Ende des Sowjetregimes, an der Zeit, der historischen Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen? „Derzeit sitzen mehrere Historiker daran, die ,weißen Flecken‘ der russischen Geschichte seit 1917 wissenschaftlich aufzuarbeiten“, sagt Igor, Professor an der Petersburger Universität. „Die Geschichte des Kronstädter Aufstands muß vollkommen neu geschrieben werden. Nicht zuletzt, weil man bei einer objektiven Analyse deutlich den Einfluß erkennt, den er auf das Ende des ,Kriegskommunismus‘ hatte und auf die Ausformulierung der NEP durch Lenin, die, wäre sie dauerhaft umgesetzt worden, der UdSSR die stalinistischen Exzesse hätte ersparen können.“

Beim Verlassen des Kathedralen- Museums ragt linkerhand das Denkmal des Admirals Makarow auf, Erfinder des Eisbrechers sowie der Seemine, der 1904 während der Seeschlacht um Port Arthur (heute Lu Shun in China) im Kampf gegen die Japaner den Tod fand. Auf einem gewaltigen Granitblock steht er, in beeindruckender Kraft und Stärke und in voller Uniform, und weist mit ausgestrecktem Arm auf einen unbestimmten Punkt am anderen Ende des Platzes. An ebenjenem Punkt hat das Sowjetregime den revolutionären Matrosen ein pyramidenförmiges Denkmal errichten lassen (ausgenommen sind jene von 1921).

Überall Patrouillen der Militärpolizei

Die Statue Makarows überragt den gesamten Platz, der fünfundzwanzigtausend Menschen aufnehmen kann. Auf ihr standen 1921 die Führer der Aufständischen und wandten sich an die Matrosen. Insbesondere sprach hier Stepan Petritschenko, Anführer der Kronstädter „Commune“.

Es herrscht eine ruhige, friedliche Atmosphäre. „Hier ist es wie früher in einer sowjetischen Stadt“, sagt Tatjana, zweiundfünfzig. „Es gibt keine Kriminalität. Und keine Werbetafeln wie in Petersburg. Keine Unordnung. Alles ist ruhig.“ Überall drehen Niva-Jeeps ihre Runden: Militärpolizei oder Grenzschutz auf Patrouille. Ansonsten fährt nur selten ein Auto über eine der drei schnurgeraden Hauptstraßen, deren Namen die alten geblieben sind: „Karl Marx“, „Lenin“ und „des Kommunismus“.

Der Sommer beginnt in diesem Jahr mit Nieselregen und Wind. „Im Winter herrscht hier Eiseskälte“, sagt Juri, dreiundvierzig, Arbeiter im Arsenal. „Der Wind bläst vom Nordpol herüber, und nichts hält ihn auf. Die Insel ist vollkommen flach, wir leben hier wie auf einer Schiffsbrücke. Bei Minus 30°C friert das Wasser in der Bucht, und man kann auf Schlitten oder zu Fuß hinüber nach Lomonossow oder Petrodworez. Aber dann wird es wärmer, und das Eis trägt nicht mehr. Es hat schon mehrere Unfälle gegeben.“

Zu Fuß übers Eis hatte auch Petritschenko nach Finnland fliehen können, zusammen mit einigen aufständischen Gefährten. Allerdings, vom Eis aus griffen auch die Truppen Tuchatschewskis Kronstadt an, vom Eis aus konnten sie den Widerstand der Matrosen brechen. Eine militärische Leistung, die den deutschen Offizieren im zweiten Weltkrieg nicht gelang. Während der gesamten Dauer der Kämpfe blieb die Insel (ebenso wie Leningrad) von den Hitlertruppen umzingelt. Kronstadt ergab sich zu keinem Zeitpunkt, und die Unterseeboote verließen – unter einer dicken Schicht von Eis – ihre Stützpunkte, um die Schiffe der deutschen Kriegsmarine anzugreifen.

So viele Heldentaten – und was spürt man heute davon? „Seit Ende des 19. Jahrhunderts haben die Matrosen der Baltischen Flotte während jeder bedeutenden Phase der russischen Geschichte entscheidende Fragen gestellt“, erklärt Boris, sechzig, Schriftsetzer beim Lokalblatt Kronstadski Westnik. „Der Geist von Kronstadt ist unbesiegbar. Aber die augenblickliche Situation ist finster. Auch wenn hier weiterhin Unterwasser-Minen und -Raketen hergestellt werden, so ist doch die Produktion in den Arsenalen stark gedrosselt worden. Das gleiche gilt für die Werften. Es werden gerade noch ein paar kleine Minenleger gebaut. Die Arbeitslosigkeit ist groß. Heute glaubt man, die wesentliche Heldentat bestehe darin, daß es einem gelingt, zu überleben.“

Sascha, vierzig, Schweißer, hat Arbeit in St. Petersburg gefunden. Er kommt nur zu den Wochenenden auf die Insel zurück – mit einer Sondererlaubnis, denn die Familie seiner Frau lebt hier: „Die Lösung wäre, aus Kronstadt eine Zone mit wirtschaftlichem Sonderstatus zu machen“, meint er, „und die Insel dem Tourismus zu öffnen.“ Er zeigt uns ein altes Schleusen- und Trockendocksystem, ein Meisterwerk der Ingenieurskunst aus dem 18. Jahrhundert, in dem man bis zu vier Schiffe gleichzeitig überholen konnte. Auf der Wand einer der Schleusen zahlreiche Graffiti. Daraus heben sich, obwohl Dutzende von Wintern darüber hinweggegangen sein müssen, zwei Namen deutlich hervor, in großen und roten Buchstaben: „Petropawlowsk“ und „Sebastopol“. Was bedeuten diese Namen? „Wahrscheinlich die Heimatstädte von Männern, die hier gearbeitet haben“, vermutet Sascha.

Er täuscht sich. Petropawlowsk und Sebastopol sind die Namen der beiden Schiffe, von denen der Aufstand von 1921 ausging. An Bord des Schlachtschiffs Petropawlowsk verfaßten Petritschenko und seine Gefährten die politische Charta des Aufstands, jene fünfzehn berühmten Thesen, die der Welt unter der Bezeichnung „Resolution der Petropawlowsk“ bekannt wurden.

So ist also hier, in dieser erloschenen und resignierten, in dieser von der Welt abgeriegelten und auf die eigene Zukunftsangst zurückgezogenen Stadt, eine Mauer der Wachsamkeit mehrerer Generationen sowjetischer Zensoren entgangen. Nach wie vor und laut und kraftvoll ruft sie die Erinnerung an jene Kommunarden von Kronstadt wach, die versucht haben, Revolution und Freiheit, Sozialismus und Demokratie zu verbinden.

dt. Evelyne Passet

1 Grand Dictionnaire universel, Paris 1869, S. 584.

2 ebd.

3 Vgl. Paul Avrich, La Tragédie de Cronstadt 1921, Paris 1975, und Henri Avron, La Révolte de Cronstadt, Brüssel 1980.

Le Monde diplomatique vom 11.08.1995, von Von IGNACIO RAMONET