11.08.1995

Der Niedergang der Kibbuzim

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Der Niedergang der Kibbuzim

VOR allem in fortschrittlich gesinnten Kreisen war man einst fasziniert von den Ideen der israelischen Kibbuz-Bewegung: einfaches Leben, körperliche Arbeit, kollektive Organisation und gemeinsame Verwaltung – das Modell des Zusammenlebens in diesen modernen Gemeinschaften brachte begeisterte Freiwillige aus der ganzen Welt nach Israel. Aber die Zeiten haben sich geändert, und die Ideale von gestern versinken allmählich in einer eisigen Flut von Eigennutz. Es geht zu Ende mit dem Kibbuz – aber warum?

Von AMNON KAPELIUK *

Vier typische Institutionen fallen den meisten ein, wenn sie an Israel denken: der Zionismus, die Armee, die Gewerkschaften und die Kibbuzim. Aber alle vier sind in der Krise.

Das Ideal des Zionismus ist durch die Arbeiten der „neuen Schule“ unter den Historikern ramponiert worden, die der von Theodor Herzl begründeten Bewegung vorwarfen, die historischen Rechte der Palästinenser mißachtet und geleugnet zu haben. Die Armee ist zur Besatzertruppe geworden, zum Instrument brutaler und arroganter Unterdrückungsmaßnahmen. Der Gewerkschaftsbund Histadrut hat viel von seinem Einfluß verloren, gegen die ehemaligen Spitzenfunktionäre laufen Ermittlungen wegen Korruption. Und der Kibbuz (hebräisch: Gruppe), jenes Siedlerkollektiv, das angeblich mehr „Gleichheit und Gerechtigkeit als jede andere Gesellschaft“ verbürgt? Hält dieser Gründungsmythos einer näheren Betrachtung stand?

Volle Gleichberechtigung aller Mitglieder, gemeinschaftliches Eigentum an allen Gütern, kollektive Nutzung der Produktionsmittel – diese Prinzipien bestimmten die Kibbuzim, die seit Anfang des Jahrhunderts in Palästina geschaffen wurden. Sie waren die Speerspitze der zionistischen Bewegung, die dort erst einmal Fuß fassen wollte, um auf die Gründung eines jüdischen Staatswesens hinzuarbeiten. Degania, der erste Kibbuz, entstand bereits 1909, als Palästina noch unter türkischer Verwaltung stand. Damals waren produktive Arbeit, Dienstleistungen und Verwaltung gemeinsame Sache. Später, in der Zeit des britischen Mandats, sagte man den Siedlern nach, sie hätten kein persönliches Eigentum außer ihrer Zahnbürste und ihren Schuhen. Das war ironisch gemeint, aber nicht ganz unzutreffend: Ein Kibbuznik erhielt seine Kleidung aus dem kollektiven Fundus und nahm seine Mahlzeiten im gemeinsamen Speisesaal ein.

Alles war bestimmt vom Geist der Gemeinschaft: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Die körperliche Arbeit spielte eine zentrale Rolle. Meir Yaari, der legendäre Führer der Bewegung Hakibbuz Ha'arzi und der Mapam-Partei, hatte die Parole ausgegeben: „Das Wichtigste sind die Hände.“ Wer einer „unproduktiven“ Tätigkeit nachging – wie die Lehrer, die Verwaltungsangestellten oder die Intellektuellen – konnte damals tatsächlich Minderwertigkeitskomplexe bekommen ... Jeder war Vollmitglied, mit allen Rechten, in einem selbstverwalteten Kollektiv, und aus dem gemeinsamen Budget wurden auch alle bezahlt. Jede Woche trat die Vollversammlung der Mitglieder zusammen – ein klassisches Beispiel für Basisdemokratie.

In der Zeit des britischen Mandats über Palästina (1923-1948) wurden zahlreiche Kibbuzim gegründet, in denen vor allem Einwanderer aus Osteuropa Aufnahme fanden. Diese Gemeinschaften spielten am Ende der Mandatszeit eine wichtige Rolle im militärischen Konzept der Haganah (der jüdischen Untergrundbewegung) – aus ihren Reihen kamen die Kämpfer der Palmach-Einsatzkommandos. Außerdem war den Siedlungskollektiven eine besondere soziale Funktion zugedacht: Hier sollten die Einwanderer die Chance bekommen, sich von den traditionellen Tätigkeiten der Juden der Diaspora – als Händler, Bankiers, Makler und in freien Berufen – abzuwenden und statt dessen in Industrie und Landwirtschaft produktive Arbeit zu leisten, damit die Juden „ein Volk wie jedes andere werden“1.

Diese Aufgabe sicherte den Mitgliedern der Kibbuzim ihren besonderen Rang innerhalb des ischuv, der jüdischen Gemeinschaft im britischen Mandatsgebiet Palästina. Als im Januar 1949 die erste Nationalversammlung (knesset) zusammentrat, waren dreiundzwanzig der hundertzwanzig Abgeordneten Kibbuzniks. Zwei, drei Jahrzehnte lang besetzten sie wichtige Posten in Regierung und Armee, in der Histadrut und in der zionistischen Bewegung. Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil hatten sie sehr hohen Einfluß in der israelischen Gesellschaft.

Die jungen Kibbuzniks haben sich stets als Freiwillige zu den Eliteeinheiten der Streitkräfte gemeldet. Obwohl sie nur vier Prozent der Bevölkerung ausmachten, kamen im Sechstagekrieg von 1967 neunzehn Prozent der Gefallenen aus ihren Reihen, im Jom-Kippur-Krieg von 1973 waren es zwölf Prozent.

Auf beschlagnahmtem Land

EIN Kibbuznik zeichnet sich durch besondere Einsatzfreude und Opferbereitschaft aus. Diese hochherzige Haltung ist allerdings nur eine Seite des widersprüchlichen zionistischen Konzepts. So hatten schon die prinzipienstrengen Pioniere in der Zeit des britischen Mandats nicht gezögert, Land zu besiedeln, daß sie arabischen Eigentümern abgekauft hatten. Daß die palästinensischen Tagelöhner vertrieben wurden, die dort gearbeitet hatten, war ihnen gleich. Nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 beschlagnahmte der jüdische Staat riesige Ländereien, die Palästinensern gehört hatten, und viele Kibbuzim hatten keine Bedenken, sich auf diesem Land niederzulassen. In manchen Fällen lebten die enteigneten Palästinenser sogar noch in Israel.

Ein besonders drastisches Beispiel gab es in Galiläa: Die Bewohner der Dörfer Bir'im und Ikrit – maronitische Christen – waren 1948 aus „Sicherheitsgründen“ von der Armee evakuiert worden. Man hatte ihnen gesagt, sie würden „in ein paar Wochen“ wieder zurückgebracht. Als dieses Versprechen nicht eingehalten wurde, klagten die Dorfbewohner beim Obersten Gerichtshof – und sie bekamen recht. Doch die Armee überging diese Entscheidung und riß am Neujahrstag 1951 sämtliche Häuser von Ikrit ab, nur die Kirche blieb stehen. Bir'im, das zweite Dorf, wurde im September 1953 dem Erdboden gleichgemacht. Hier entstand ein Kibbuz der Bewegung Hashomer Hatzair, deren Wahlspruch lautet: „Für Zionismus, Sozialismus und Völkerfreundschaft!“

Die letzte große Welle von Kibbuz- Gründungen gab es 1953. Diese Siedlungen wurden vor allem an der Grenze zum Gaza-Streifen errichtet, der damals noch unter ägyptischer Verwaltung stand. Sie bildeten eine Art Verteidigungslinie. Nach 1967 haben sich übrigens die Kibbuz-Bewegungen unverzüglich aufgemacht, auch in den besetzten Gebieten Siedlungen zu gründen, allen voran die Bewegungen der Arbeiterpartei. Es entstanden aber auch Kibbuzim der religiösen Bewegungen und sogar der zionistischen Linken. Ursprünglich hatten die Kibbuzim es abgelehnt, Lohnarbeiter einzustellen, und so machte man nach 1948 den ins Land strömenden Einwanderern das Angebot, sich den Kollektiven anzuschließen. In den sechziger Jahren wurde dieses Prinzip jedoch allmählich aufgegeben, die Kibbuzim fingen an, Lohnarbeiter in großer Zahl zu beschäftigen – ein erstes Anzeichen für den Niedergang.

Ab dann setzt der große Wandel ein: Die Landwirtschaft, die wichtigste, die „erlösende“ Tätigkeit in den Kibbuzim, muß der industriellen Produktion weichen. Bald ist man in verschiedenen Branchen erfolgreich tätig: Kunststoff, Konserven, Metallverarbeitung, Holz, Textil, Tourismus und so weiter. Die Kibbuzim entwickeln sich zu agrarindustriellen Zentren, und zwar in einem Maße, daß Anfang der neunziger Jahre rund achtzig Prozent der Einnahmen aus ihrer Industrieproduktion stammen, die ihrerseits sieben Prozent der nationalen Produktion ausmacht.

Diese Industrialisierung war ohne Lohnarbeit natürlich nicht machbar. Ungelernte Arbeiter wurden eingestellt, deren bescheidenes Salär ihnen bei weitem nicht den komfortablen Lebensstandard der Kibbuzniks erlaubte. Es kam zu Spannungen nicht zuletzt mit ethnischem Hintergrund, denn die meisten Arbeiter waren orientalische Juden. Nun kam es zu Streiks und sozialen Kämpfen, was früher undenkbar gewesen wäre. In den achtziger Jahren war es endgültig vorbei mit dem Geist der Gründerjahre.

Danach wurden die jüdischen Arbeiter zum Teil durch Palästinenser ersetzt, und als 1994, nach den Verträgen von Oslo, die besetzten Gebiete abgeriegelt waren, warfen die Kibbuzim ihre alten Ideale über Bord und zögerten nicht, die Palästinenser durch Arbeiter aus Thailand, Rumänien und anderen „sozialen Paradiesen“ zu ersetzen, die für einen Hungerlohn arbeiteten. Seit kurzem gibt es sogar zwei Agenturen, die im Ausland Arbeitskräfte für die Kibbuzim anwerben. Und noch ein Grundsatz ist aufgegeben worden: das Prinzip des gleichen Lohns. Die neue Lohnskala hat erhebliche Auswirkungen auf das Leben im Kollektiv gehabt. Zwar heißt es noch immer: „Jeder nach seinen Fähigkeiten“, aber nicht mehr: „Jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Jetzt gilt: „Jedem nach dem Wert seiner Arbeit.“ Der Lebensstandard eines Kibbuzniks wird heute bestimmt von seiner Leistung – ein schwerer Schlag gegen den inneren Zusammenhalt des Kollektivs.

Das Unvorstellbare ist Wirklichkeit geworden: Reiche und Arme wohnen zusammen in einem Kibbuz. Vierzig Kibbuzim der Bewegung Takam haben diesen Schritt bereits getan. Der Nationalrat von Hakibbuz Ha'arzi hingegen hat die Lohndifferenzierung zwar mit einer satten Zweidrittelmehrheit abgelehnt, aber keine Sanktionsmaßnahmen eingeleitet. So erklärt sich die Reaktion des Leiters eines der „nichtegalitären“ Kibbuzim: „Uns ist das egal. Unsere Mitgliedschaft in der Takam war schon mal suspendiert, weil wir beschlossen haben, die Gemeinschaftsschlafsäle für die Kinder abzuschaffen und sie bei den Eltern schlafen zu lassen. Einige Zeit später hat sich die ganze Bewegung unserer Entscheidung angeschlossen. So wird es auch diesmal sein.“2

Lange Zeit genossen die Kibbuzim besondere Protektion, denn die Regierungen der Arbeiterpartei sorgten stets dafür, daß sie den Gesetzen des Marktes und der Konkurrenz nicht unterworfen waren. Sie erhielten Bankkredite und konnten ihre Wirtschaftsunternehmen ausbauen – für Verluste kam der Staat auf. So machten es sich viele Kibbuzim allmählich im Luxus bequem. Moderne Villen wurden gebaut, opulente Speisesäle, Kulturhäuser, Sportplätze und Sporthallen, oft ohne Rücksicht auf die Kosten.

1977 kommt der Likud (die nationale Rechte) an die Macht, und die neue Regierung setzt andere politische Prioritäten. Plötzlich werden die Kibbuzim nicht mehr liebevoll gehegt und gepflegt, sondern mit dem gnadenlosen Kapitalismus konfrontiert. Für die Kollektive bricht eine Welt zusammen. 1984 gilt allgemein als das Jahr, in dem die Krise einsetzt. Einige Kibbuzim machen Verluste von mehreren hundert Millionen Schekel (100 Schekel = 4,50 Mark). Im Jahr darauf ist die Katastrophe da: neunzig Prozent der Kibbuzim schreiben rote Zahlen. Die meisten stellen einfach neue Kreditforderungen, so als sei die Arbeiterpartei noch an der Macht, andere gehen gleich richtig ins kapitalistische Rennen, stürzen sich in finanzielle Transaktionen und fangen, ohne alle Gewissensbisse, die wildesten Börsenspekulationen an. Einige haben gewonnen, die meisten haben viel verloren.

Regierung und Banken fanden sich nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der Kibbuzim zwar bereit, einen Teil der gewaltigen Schulden zu erlassen, aber diese Maßnahme war nicht ausreichend – bis 1995 sind die Verluste auf 16 Milliarden Schekel gestiegen. Im April ist ein neues Schuldenabkommen unterzeichnet worden, das abermals einen Teil der Schulden tilgt, allerdings zu verschärften Bedingungen. Vor allem soll Land an den Staat und die Banken verkauft werden, die dort Wohnsiedlungen bauen wollen. Die Lage ist so ernst, daß viele Kibbuzniks sich Sorgen um ihre Zukunft machen, wie die folgende Anekdote belegt: Ein Kibbuznik aus Mevo Hama am See Tiberias hat kürzlich das große Los in der staatlichen Lotterie gewonnen – 18 Millionen Schekel. Nach der Kibbuz-Ordnung müßte er das Geld in die Kasse des Kollektivs einzahlen. Aber der Kibbuz- Sekretär selbst hat ihm geraten, es auf ein Privatkonto zu legen, damit es nicht sofort den Gläubigern in die Hände fällt ...

Als Folge der Krise ist auch der Lebensstandard drastisch gesunken. Nach Informationen aus dem Arbeitsministerium lebt derzeit etwa die Hälfte der Kibbuz-Mitglieder unterhalb der Armutsgrenze. In ihrer Not wenden sich viele von den alten Überzeugungen ab – das Wort „Sozialismus“ ist verschwunden, der 1. Mai hat ausgedient ... Ein deutliches Zeichen: im März 1995 hat Al-Hahmishmar, die Tageszeitung der Kibbuzbewegung Ha'arzi und der Mapam-Partei, nach zweiundfünfzig Jahren ihr Erscheinen eingestellt. Die Kibbuzniks lesen inzwischen lieber die „unpolitischen“ Boulevardzeitungen der rechten Mitte.

Geschäftssinn ist jetzt gefragt. Es gibt Bars und Diskotheken für die jungen Leute aus der Gegend – sofern sie zahlen können – und sogar Heiratsvermittlungen. Inzwischen werden auch überall Zimmer an Touristen vermietet, fünftausend sollen insgesamt im Angebot sein. Wer einen Aufpreis zahlt, darf den Sportplatz und das Schwimmbad des Kibbuz benutzen. Alles ist zu verkaufen, sogar ein Platz auf dem Friedhof: nichtreligiöse Kibbuzim bieten weltliche Beerdigungen an (die es offiziell in Israel nicht gibt, weil keine Trennung zwischen Kirche und Staat besteht). Dieses Angebot zielt auch auf die nichtjüdischen Einwanderer, die mit der großen Welle nach 1989 aus der ehemaligen UdSSR gekommen sind. Das Großrabbinat, das alle jüdischen Friedhöfe verwaltet, weigert sich, diese Menschen zu beerdigen. Für ein „weltliches Grab“ in einem Kibbuz zahlt man rund 5 000 Schekel (etwa 2 300 Mark).

Auch die Basisdemokratie liegt danieder. In den besten Zeiten ging es auf den Vollversammlungen äußerst lebhaft zu, und es wurde wirklich alles gemeinsam entschieden: wer welchen Posten bekam, welche jungen Leute an die Universität gehen sollten, wer ins Ausland fahren durfte und so weiter ... Heute kommt nur ein Zehntel der Mitglieder zur Versammlung. In einigen Kibbuzim werden die Diskussionen auf Video aufgenommen und auf dem internen Fernsehkanal gesendet; die Abstimmung findet dann am nächsten Tag statt. Andere Siedlerkollektive haben die Entscheidungsbefugnis von der Vollversammlung auf ein kleineres Gremium übertragen: auf die Ratsversammlung, der höchstens vierzig Mitglieder angehören. Wie überall haben auch hier am Ende die Funktionäre die Macht an sich gezogen.3

Die Jugend wandert ab

SEINE Anziehungskraft hat der Kibbuz längst verloren. Die neuen Einwanderer zeigen wenig Neigung, dort zu leben. In den letzten zehn Jahren ist nur ein einziger neuer Kibbuz entstanden, die Siedlung Ravid in Galiläa. Die orientalischen Juden (Einwanderer aus Asien und Afrika), die immerhin etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, stellten nie mehr als 20 Prozent der Kibbuzniks, es waren vor allem die Aschkenasim (Juden aus Europa und Amerika), die sich von den Kibbuzim angezogen fühlten. Die Mehrheit der orientalischen Juden findet das Programm nach wie vor zu weltlich und zu kollektivistisch.

Und die jungen Leute wandern in Scharen ab. 45 Prozent derer, die im Kibbuz geboren sind, gehen fort, die meisten nach dem dreijährigen Wehrdienst. Und seit Jahrzehnten sind neue Mitglieder eigentlich nur aus zwei sozialen Bereichen gekommen: zum einen aus den Jugendbewegungen, die einst allgegenwärtig waren und heute fast verschwunden sind, und zum anderen aus der „Nahal“ (eine Abkürzung für „Kämpfende Junge Pioniere“), einer Organisation von Gruppen junger Soldaten, die ihren Wehrdienst gemeinsam absolvieren und danach in einen Kibbuz eintreten. Lange Zeit galt Nahal als eine Eliteorganisation: Es war ein Privileg, ihr anzugehören. Aber auch damit ist es vorbei. Im Juni 1995 sprach der außen- und sicherheitspolitische Ausschuß des Parlaments die Empfehlung aus, die Organisation Nahal aufzulösen, weil sie „ihren geschichtlichen Auftrag erfüllt hat und zu einer wirkungslosen Einrichtung geworden ist, die den Zielen nicht mehr dient, für die sie geschaffen wurde.“4

Die jungen Leute gehen fort, die Alten müssen bleiben, weil sie nicht anders können. Sechzig Prozent der Kibbuzbewohner sind im Rentenalter, sie haben etwas aufgebaut, und nun sitzen sie da, alleingelassen und enttäuscht. Ihre Zukunft ist nicht gesichert, niemand weiß, wer für ihre Altersversorgung aufkommen soll. Alle erinnern sich an das harte Los ihrer Genossen im Kibbuz Beit Oren. Dort hatte die Führung der Takam-Bewegung im Mai 1987 dreißig Veteranen, die allesamt über sechzig waren, empfohlen, sich mit einer Abfindung zufriedenzugeben und den Kibbuz zu verlassen, weil ihr Unterhalt nicht mehr gesichert sei.5

„Wir tragen die Kibbuz-Ideologie zu Grabe“, heißt es in einem Wochenblatt der Bewegung.6 Arik Reichman, der Generalsekretär von Takam, stellt fest: „Das System ist am Ende. Nur durch rasche und tiefgreifende Umstellungen wäre es noch zu retten.“7 Und der Schriftsteller Amos Oz kommt zu dem Schluß: „Den Bodenspekulanten und den Rabbinerschulen der Ultra-Orthodoxen wird ein solches Unglück wie den Kibbuzim nicht zustoßen. Sie werden im Israel der Post-Kibbuz-Ära weiterhin Erfolg haben.“8

dt. Edgar Peinelt

1 In seinem Roman „Diebe in der Nacht“ (Berlin 1983) beschreibt der Schriftsteller und Publizist Arthur Koestler (1905-1983), wie eine Handvoll Pioniere 1937 einen Kibbuz aufbauen. Bei Koestler wird der Kibbuz zum Symbol eines zweifelhaften Kampfes für eine kommunitäre Gesellschaft und um die Inbesitznahme des Bodens, zum selbstgewählten Ort erlittener Geschichte, einer Geschichte, die sich in Gewalt und Mißverstehen vollzieht.

2 Yediot Aharonot, 16. Juni 1995.

3 Siehe Haim Darin-Drabkin, „Le Kibboutz, société differente“, Paris, Le Seuil 1970, S. 334.

4 Ha'aretz, 21. Juni 1995

5 „Se renouveler. Le kibboutz devant son avenir“, Tel Aviv, Ed. Hakibbuz Hameuhad 1992, S. 55.

6 Die Wochenzeitschrift der Kibbuzbewegung Takam, 21.-28. Mai 1995.

7 [Die grüne Seite], Wochenzeitschrift der Bewegung Hakibbuz Ha'arzi, Jerusalem, 21. Juni 1995.

8 Yediot Aharonot, 3. April 1995.

* Journalist, lebt in Jerusalem. Autor des Buches „Hébron: un massacre annoncé“, Paris, Le Seuil 1995.

Le Monde diplomatique vom 11.08.1995, von Amnon Kapeliuk