„Buschköter“ und Abenteurer
WIE in einigen Ländern Lateinamerikas und Asiens müssen auch im verelendeten Afrika Tausende verlassener Kinder nach dem harten Gesetz der Straße leben. Drogen, Bettelei, Gewalt sind ihr Los: Die traditionellen Gesellschaften empfinden sie als Ärgernis, und die überforderte Verwaltung kann ihnen kaum helfen. Hier und dort werden Initiativen ergriffen, doch bleibt Grund zu großer Beunruhigung, denn das Elend nimmt weiter zu ...
Von unserem Sonderkorrespondenten MICHEL GALY *
Bamako. In der „Sozialstation“ des malischen Secours catholique, einem Gebäude mit nackten Räumen. Nachts kommen die Straßenkinder, eins nach dem anderen. Ihre verrosteten, aber zu Stechwaffen geschärften Klingen, ihre Klebstofftüten und „Pillen“ werden von den Betreuern eingesammelt. Jedes Kind bekommt ein spärliches Essen, das es mit seinem erbettelten Geld bezahlt. Ali Cissé, ein kleiner zehnjähriger Peul mit feinen, aber sonnenverbrannten Zügen, erzählt seine traurige Geschichte. Er trägt einen Jutesack, der ihm bis über den halben Oberschenkel reicht, ist verstaubt und mit Wunden übersät; sich waschen und verbinden lassen würde aber sein Einkommen schmälern. Er redet mit sanfter, schüchterner Stimme in Bambara und legt dabei seinen kahlgeschorenen Kopf zur Seite: „Ich komme aus dem Massina [ehemals fruchtbares Gebiet im Nigerdelta, A. d. Ü.]. Nach der Dürre war ich mit meinem großen Bruder zusammen; vor ihrem Tod hatten unsere Eltern uns einem Marabu anvertraut. Mit ihm sind wir nach Ségou gekommen. Da wurden mein Bruder und ich in die Koranschule gesteckt. Mein Bruder hat mich überredet, zu meiner großen Schwester nach Conakry zu fahren. Als ich in Bamako am Bahnhof ankam, war ich sehr müde. Ich habe mich einfach hingelegt. Als ich aufwachte, war mein großer Bruder verschwunden, und ich bin am Bahnhof geblieben; ich war ganz nackt. Ein Mann hat mich gesehen und zum Markt mitgenommen. Er hat Kleidung für mich gekauft und mir gesagt, ich solle mich durchschlagen. Am Sonntag, als ich neben den Schienen lag und schlief, hat mich ein Lehrer aus dem Lameni So (der „Sozialstation“) gesehen. Er hat mich geweckt und gefragt, was ich hier tue. Er hat gesehen, daß ich Hunger hatte. Er hat mich an die Hand genommen und mir etwas zu essen gegeben.“
Und auch etwas Zuneigung, denn – so schildern es Annick und Jean-Jacques Combier in Bamako oder Pater Lefort in Nouakchott – das ist der „versteckte Wunsch“, der ihnen angetragen wird, eine Schuld, die keine Institution begleichen kann1. Zwei Wochen später finden die Erzieher mit Hilfe der spärlichen Angaben des Kindes seinen Onkel im Dorf Kalessegui bei Mopti.
Ali hat nicht lange auf der Straße gelebt, aber er war schon in eine Kinderbande aufgenommen worden. Da er jünger war als die anderen, diente er ihnen als Handlanger oder Sündenbock – vielleicht im Austausch für einen gewissen Schutz. Und dabei wurde er auch in die Kultur der Gewalt, der Bettelei und der Drogen eingeführt. Diese Lebenswege sind bekannt: „Vom Dorf ins Elendsviertel, von der Familie auf die Straße“, so lautet das Resümee von Danièle Poitou, die die Welt der Kinder in Westafrika seit fünfzehn Jahren für das nationale französische Forschungsinstitut CNRS erforscht.2
Die Ursachen sind immer die gleichen, nur daß sich die Situation zusehends verschärft: Durch die Bevölkerungskrise und die Verstädterung verschwindet der traditionelle Zusammenhalt: „Das Kind, das früher im Dorf den Seinen zur Ehre gereichte, wird in der Stadt zur Bürde.“3 Selbst die Schule trägt zum Machtverlust der Eltern bei. Wie die Kinder abgleiten, ist ebenfalls bekannt: Sie gehen als Dörfler in der Hauptstadt verloren oder sind auf Abenteuersuche; sie verlieren als junge Städter ihre Arbeit, begehen Straftaten und finden in einer Straßengang ihre neue Familie; sie sind als uneheliche Kinder verleugnet und ausgesetzt worden und stammen oft aus heiklen multiethnischen Verbindungen: Sie alle tragen bereits die „Wunde ihrer Familie“ in sich, sagt Pater Temple in Cotonou.4
Ein anderes Schicksal als die „Straßenkinder“ haben die arbeitenden Kinder: Sie schlagen sich in den tausend Sparten des informellen Wirtschaftssektors durch und helfen ihrer Familie, die Armut durchzustehen. Sie haben ein Heim, wohin sie abends zum Schlafen zurückkehren, es sei denn, sie übernachteten als kleine Verkäufer in Abidjan, Cotonou oder Kinshasa mangels einer Alternative unter den Marktständen.
Die Straßenkinder halten sich am liebsten an Verkehrskreuzungen, Märkten oder Bahnhöfen auf, wo die Menge ihnen ermöglicht, von Dienstleistungen oder Geschenken, von Betteln oder Stehlen zu überleben. Diese Kinder gibt es in allen Städten dieser afrikanischen Region. Hinzu kommen noch die „Grenzfälle“ von Kinderausbeutung: die kleine, des Lesens und Schreibens unkundige „Magd“, die vom Abidjaner Bürgertum aus dem Buschdorf „importiert“ wurde; die jungen ghanaischen Prostituierten, die von ihrer „Erziehungsberechtigten“ ausgebeutet werden – im besten Fall bekommen die Eltern der einen wie der anderen etwas Geld; islamische talibés, die für ihren Marabut betteln müssen, sonst drohen ihnen Schläge ... Diese Kinder ergreifen oft die Flucht, doch wen kümmert es, für ihre „Patrons“ scheint das Elendsreservoir unerschöpflich.
„Menschlicher Sperrmüll“
DER Soziologe Yves Marguerat, Begründer des Marjuvia-Netzwerks, betont die lokalen Besonderheiten gegenüber den Gemeinsamkeiten. Er sagt: „Jede Stadt hat ihre eigene Sozialstruktur und Marginalität ...“5 So hat in Lomé, das er gut kennt und wo er viele Kinder aufgenommen hat, „jede Oberklassenfamilie ein Kind auf der Straße“, das aus einer unehelichen Verbindung stammt.6 In Niamey ist es die Landflucht in Verbindung mit der Dürre in der Sahelzone, die die Jugend zunächst zeitweise und dann ständig in die Stadt führt – der Weg führt in die Gruppenkriminalität.7 Abidjan, die „Perle der Lagunen“, zeigt sich seit zwei oder drei Jahren schockiert über die Zuständen auf dem Plateau, dem zentral gelegenen Geschäftsviertel. Es ist zu einer schwärenden Wunde geworden: Tag und Nacht sind die Verkehrskreuzungen von Horden bettelnder, schlafender, streitender Kinder umlagert. Es handelt sich um eine nach Alter und Geschlecht sehr homogene Gruppe von Jugendlichen (75 Prozent Jungen zwischen 15 und 18), aber sie kommen aus unterschiedlichen Ethnien: ein Drittel stammt aus den Nachbarländern, die anderen kommen aus den Städten und Dörfern im Innern der Elfenbeinküste. Alle haben einen Zwischenstopp in den Armenvierteln Abidjans eingelegt.8
In Bamako kommen die Kinder – wie der kleine Peul Ali – zu 55 Prozent vom Land. Sie stammen entweder aus intakten, aber verelendeten Familien, oder sie sind von ihren Eltern verlassen worden; unter ihnen gibt es genauso viele arbeitende wie vagabundierende Kinder. Das Gesamtbild ist katastrophal: In Bamako „schnüffeln“ ausnahmslos alle Straßenkinder Klebstoff, 60 Prozent sind zu sexuellen Handlungen gezwungen worden, 12 Prozent prostituieren sich, 9 Prozent sind bereits von der Polizei aufgegriffen worden, 3 Prozent waren schon im Gefängnis.9
Die öffentlichen Institutionen stehen diesen frühen Abstürzen in die Hölle ohnmächtig gegenüber. Die städtische Bevölkerung benimmt sich systematisch feindselig. Gewalt ist das Los der Kinder: Gewalt um sie herum, aber auch unter ihnen, je nach Stärke und Alter. Manchmal dient sie sogar – mit den Mitteln der Bandenkriminalität – als Ausweg aus dieser Situation. Und dann ist da noch die Gewalt der Staatsorgane, die sie mitleidlos mit den „Verbrechern“ in einen Topf werfen und einkerkern.
Im Senegal hat die Presse für diese Kinder den scheußlichen Ausdruck „menschlicher Sperrmüll“ erfunden und ermuntert dazu, sie als solchen zu behandeln ... In Kinshasa hat der zairische Erzieher Kiganga Muwalanala, der mit ihnen zusammengelebt hat, nüchtern die „Unterdrückungsformen“ aufgelistet, denen sie ausgesetzt sind. Drohungen und Beschimpfungen sind geläufig: „Hexer“, „Kröten“, „Affen“, „Hundesöhne“ ... Die so benannten kleinen Vagabunden sind sich nach eigenen Aussagen ihrer Menschlichkeit nicht mehr sicher. Der Gipfel der Bösartigkeit: manche Passanten drücken ihre Zigaretten auf dem Körper eines vor Müdigkeit oder im Drogenrausch eingeschlafenen kleinen Bettlers aus, „um ihn leben zu lehren“. Nach Auskunft des Erziehers werden jeden Tag fünf bis zehn Kinder von Polizisten nach allen Regeln der Kunst grausam zusammengeschlagen, wie in einem Ritual, um ihnen „ihre schlechten Neigungen“ auszutreiben.
Sie werden wie Erwachsene in Handschellen abgeführt, aber auch – wie im Dorf die unruhigen Kinder – „gepfeffert“, mit Pfeffer oder machacha auf Augen, Geschlecht oder Mund. Die Liste der Qualen ist unendlich. Manche werden gezwungen, mit dem Kopf oder der Faust gegen Bäume oder Zementmauern zu schlagen; andere müssen sich mit einem Finger im Boden und zur Seite geneigtem Kopf so lange um sich selbst drehen, bis ihnen schwindelt: das ist der „Zekete-Zekete- Tanz“. Oder aber sie müssen den kafash mitmachen, eine homosexuelle Vergewaltigung durch einen Älteren.10 Das „Schnüffeln“ macht die Kinder halbverrückt und gefährlich. Aber ist dadurch der Terror des berüchtigten „Artikels BV 320“ zu rechtfertigen? „BV 320“, das heißt brûlés vifs (lebendig verbrannt) zum Preis von dreihundert Francs Benzin und zwanzig Francs Streichhölzer. Seit 1991 haben die Geschäftleute von Bamako ein halbes Dutzend Kinder mit einem brennenden Autoreifen um den Hals hingerichtet.
Gewalt auf der Straße oder Verrotten im Gefängnis? Angesichts dieser Alternative haben einige Initiativen Hoffnungsschimmer geschaffen. Für die Kinder folgt auf eine überraschende Entdeckung eine langsame Zähmung. In Cotonou erinnert sich der Erzieher Jean-Baptiste Babo an seine ersten Schritte wie an ein Überschreiten unsichtbarer Grenzen: 1980 machte der alte Mann im Viertel Zohoungo die Kinder mit einem Fußball auf sich aufmerksam. Nach zehn Tagen, an denen er täglich mit ihnen spielte, waren bereits acht von ihnen bereit, ihm zu vertrauen und gemeinsam einen kleinen Gemüsegarten an der Straße zum Flughafen anzulegen. Heute sind es etwa fünfzehn Kinder, die auf einem Hektar Land arbeiten. Auf dem großen Markt von Dantokpa gibt es einen Stand und einen Holzschubkarren, die den Kindern zu einem Status und zu Arbeitswerkzeugen verhelfen. Mit jedem Kind tritt Jean-Baptiste Babo in einen Dialog, in dem er ihm – als eine Art Hebamme des Bewußtseins – zu einer eigenständigen Reflexion über seine Stellung in der Gesellschaft verhelfen will, so daß es am Ende selbst realistische Vorschläge zu ihrer Verbesserung machen kann.11
Das gleiche tut der Jesuitenpater Michel Guéry in Abidjan im Auftrag des Afrikanischen Instituts für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (Inades) im Viertel Abobo. Dafür braucht er eine solide Kenntnis der Nachbarschaft und der Stadt, der Abläufe der informellen Arbeit und der familiären Situation. 12
In Cotonou hat Pater Claude Templé im Armenviertel Sainte-Rita im Auftrag des Erzbistums ein Heim aufgebaut, in dem Straßenkinder aufgenommen werden und in dem sie vor allem einen Beruf erlernen. Nunmehr können die Polizeikommissariate der Hauptstadt oder das Jugenddezernat die aufgegriffenen Kinder in dieses Heim bringen und ihnen somit den Kontakt mit den erwachsenen Häftlingen im Gefängnis ersparen. Der Erzieher wird zum Mittler, damit diese Kinder erneut in die Familie aufgenommen werden. Wenn das nicht möglich ist, werden sie ausgebildet als Schweißer, Elektriker oder Radiomechaniker. Nach drei Lehrjahren unterstützt das Heim sie beim Eröffnen einer kleinen Werkstatt. Das Heim selbst ist Arbeitsstätte: Die Kinder zeigen stolz einen 40-Watt-Verstärker, dessen Stromkreise sie selbst nach Beobachtungen an einem Originalverstärker gezeichnet haben; sie werden ihn für 55 000 CFA-Francs verkaufen, während das gleiche Produkt – auf dem Schwarzmarkt, aus Nigeria kommend und folglich „unter Preis“ gehandelt – in Cotonou mehr als 70 000 CFA-Francs wert ist. Die ersten dieser „kleinen Häuser“ hat Pater Lefort in Mauretanien eröffnet, Zufluchtsstätten, in denen die Kinder nach einer Aufnahmephase einen Beruf erlernen können. Annick Combier hat in Bamako (Mali) ein solches Heim eingerichtet. Nach dem harten Leben auf der Straße und dann dem Empfang im Lamine So – der ersten Unterkunft – werden die Kinder in einem traditionellen Innenhofwohnkomplex in Lafiabougou am Stadtrand untergebracht, der wie eine Insel des Friedens wirkt. Tagsüber bereitet eine Hausfrau aus der Nachbarschaft das Essen im Lehmhaus zu. Nachts überraschen wir die Kinder mit unserem Besuch. Sie sitzen ruhig im Halbkreis unter dem Mangobaum um den Erzieher herum: Wie ein großer erfahrener Bruder erzählt er ihnen vor dem Einschlafen traditionelle Geschichten in bambara. In zwei oder drei Jahren – nach der „Befreiung“, dem Fest zum Abschluß der Lehre – werden sie Männer sein.
DIE Straße wird für sie dann nur noch eine Erinnerung sein. Vielleicht werden einige ihr trotz allem nachtrauern. Die Literatur zu diesem Thema fällt häufig sozialkitschig aus. Nur wenige Texte geben das Denken der Kinder oder ihre Sicht der Stadt wieder. Der Brasilianer Jorge Amado hat ein lebhaftes Porträt der kleinen „Herren des Strandes“ von Bahia gezeichnet13, Yves Marguerat spricht in bezug auf Lomé im Jahre 1984 von „pfiffigen Kerlchen, die ihre Kindheit, ihre Spiele und Träume voll ausleben“. Sicher, sie müssen vor den Kinos und Nachtklubs betteln, doch gleich danach können sie sich für einige Pfennige auf der Straße ausgezeichnete Reis- und Fleischgerichte kaufen, billig Gebrauchtkleidung besorgen und tolle Filme reinziehen, manchmal über die Grenze streunen.14
Ein freies Leben, das die Erwachsenen in Togo zugleich verachten und beneiden. Sie nennen diese Kinder abwertend „Buschköter“, während die sich untereinander stolz als „Abenteurer“ betiteln – auch das ist wiederum Bestandteil einer bestimmten afrikanischen Tradition steht. Seither haben auch in Lomé die Drogen ihre Spuren hinterlassen: „Schnüffelstoff“, „Crack“, vor allem Haschisch; die Dealer werden in Naturalien bezahlt und heuern, den Marktgesetzen folgend, immer jüngere Nachahmer an.
Als Dorfbewohner, die es in die Stadt verschlagen hat, sehen die jungen Ebries der Dörfer Azito und Niangon Lokoa am westlichen Stadtrand von Abidjan die Hauptstadt wie einen riesigen Busch und bewegen sich darin auch dementsprechend. Tagsüber vagabundieren sie durch die Stadt, lassen sich vom unermüdlichen städtischen Spektakel treiben, treffen in Glücksfällen auf allmächtige Beschützer. So beschreibt der 27jährige Lancelot seine Abenteuer und seinen „Retter“ – der ihm eine Stelle besorgt hat, fast wie einen Initiationsritus.15 Tatsächlich ist ein Großteil der afrikanischen Jugend heimlich – wie die im Westen? – fasziniert von den „aufmüpfigen Vorbildern“, wie der Rasta- Mode, deren bestes Beispiel der Sänger Alpha Blondy ist, der den neuen Hintergrund des Rap und des Großstadtdschungels auf amerikanische Art mitbringt. Seit den Filmen von Jean Rouch aus den sechziger Jahren weiß man, daß in Afrika auch die Straße und die Gewalt Legenden hervorbringen.
Hilfsorganisationen prangern die Gefahren der Straße an und handeln aus einem Gefühl des Notstands, genau wie auf anderen Ebene die humanitären Aktionen oder die Entwicklungshilfeprojekte. Die Haltung der Hilfsorganisationen ist manchmal zwiespältig und entstammt einem Unverständnis der islamischen Werte oder des afrikanischen Begriffs von Kindheit. Die allzu idealisierte Rückkehr der Kinder „in den Schoß der Familie“ konfrontiert die westlichen „Freiwilligen“ mit einigen lokalen Besonderheiten: Polygamie oder Abwesenheit des Vaters, Wiederheirat und schlechte Behandlung, der Hexerei beschuldigte Kinder, die einem Marabut „gegeben“ oder einem uninteressierten Erziehungsberechtigten in der Stadt „anvertraut“ werden, sind oft Ursache des Scheiterns.
Was die Sexualität – einschließlich der Homosexualität in den Jugendbanden – betrifft, so kann man sich nur wundern über die skandalisierte Schockreaktion mancher „Helfer“ von außen, die die psychologische Situation der Kinder oder die vor Ort veröffentlichten Arbeiten dazu nicht kennen. Eine Untersuchung der afrikanischen regierungsunabhängigen Organisation ENDA-Dakar belegt die Nachsicht von Müttern für ihre Töchter, die mit neun bis zwölf Jahren zum ersten Mal mit einem Mann schlafen. Das wird sogar unterstützt, solange es diskret verläuft. Die Mütter selbst sind nicht selten als Zehnjährige verheiratet worden.16 Westliche Organisationen sollten es sich nicht zur Aufgabe machen, die monogame Ehe, die Schulpflicht und das Alter des ersten Geschlechtsverkehrs vorzuschreiben – auch wenn sie damit die Lippenbekenntnisse der afrikanischen Regierungen erlangen. Insbesondere die Kritik an der jahrhundertealten, sicherlich harten Institution der islamischen talibés kann für Organisationen, die eng mit der katholischen Kirche verbunden sind, zu gefährlichen Rückschlägen führen – die Arbeit Pater Leforts in Mauretanien mußte deshalb eingestellt werden.17 In einer Zeit des aufsteigenden Fundamentalismus sind solche Dinge gefährlich.
Sicherlich ist es schlimmer, tatenlos zuzusehen. Für Yves Marguerat liegt das Wesentliche in „dem Versuch, ein Kind zu retten“. Die Opfer der Wirtschaftskrise strömen bereits lange aus den Dörfern in die afrikanischen Metropolen. Diese Landflucht war schon immer ein verläßlicher, unmittelbarer Indikator für die soziale Misere. Heute kann man täglich sehen, wie immer mehr „CFA-Kinder“ – Opfer der Abwertung der westafrikanischen Währung – auf der Straße landen ...
dt. Christiane Kayser
1 Siehe dazu François Lefort und Carmen Bader, „Mauritanie: la vie réconciliée“, Fayard, Paris 1990; Annick Combier, „Les Enfants de la rue en Mauritanie“, L'Harmattan, Paris 1994.
2 Danièle Poitou, Konferenz „Les Jeunes en Afrique, évolution et rôle, XIXe et XXe siècles“ in Paris, veröffentlicht bei L'Harmattan, Paris 1992. Von der gleichen Autorin auch: „Délinquance juvénile et urbanisation au Niger et au Nigeria“, Sondernummer „Les villes africaines“, Cahier d'études africaines, Nr. 81-83, XXI, Seiten 111-127; und „La rue squattée en Afrique“, Annales de la recherche urbaine, Nr. 27, 1985.
3 Yves Marguerat, „Les Enfants et jeunes de la rue dans la ville africaine“, Zusammenfassung des Berichts des Forums von Grand-Bassam (Elfenbeinküste), März 1985.
4 Gespräch mit dem Verantwortlichen der „Sozialstation“ (Projekt „Kinder in Schwierigkeiten“ des Erzbistums Cotonou, Benin), 24. Februar 1994.
5 Gespräch mit Yves Marguerat, 11. August 1994. Marjuvia (Marginalisation des jeunes dans les villes africaines – Marginalisierung der Jugendlichen in den afrikanischen Städten) ist eine Vereinigung von Soziologen und hat Ende 1994 einen Sammelband herausgegeben: „A l'écoute des enfants de la rue en Afrique noire“, Fayard, Paris.
6 Yves Marguerat, „Histoire de la marginalité juvénile a Lomé, Togo“, in: „Les Jeunes en Afrique“, L'Harmattan, Paris 1992.
7 Danièle Poitou, „Intégration et inadaptation sociale de la jeunesse au Niger et Nigeria“, Psychopathologie africaine, 1983, XIX, 1.
8 Statistiken des Justizministeriums der Elfenbeinküste, vorgelegt von Yves Marguerat, „Les jeunes delinquants d'Abidjan“, Cahiers ORSTOM, Sciences humaines, Band XXI, Nr. 2-3, 1985.
9 Jean-Jacques und Annick Combier, „Action enfants dans la rue sans famille à Bamako“, Tätigkeitsbericht 1992-1993, Secours catholique malien, September 1993.
10 Kisanga Muwalanala, „Les formes d'oppression subies par les enfants de la rue à Kinshasa (Zaire)“, Sozialschulabschlußarbeit, Kinshasa 1986.
11 Gespräch mit Jean-Baptiste Babo vom 27. Februar 1994. Babo, den die Kinder von Cotonou „Vater der Gauner“ nannten, ist kürzlich verstorben und hat viele Waisen hinterlassen. Die Synthese seiner zwanzigjährigen Arbeit in Benin findet sich unter anderem in: „Enfants de la rue à Cotonou“, ENDA-Dakar, Oktober 1988.
12 Michel Guéry, „La Problématique de l'éducation des jeunes en zone urbaine“, Seminar von Inades, September 1989.
13 Jorge Amado, „Die Herren des Strandes“, Hamburg 1951.
14 Siehe dazu Yves Marguerat, „Les enfants de Lomé“, Autrement, Paris 1984, und Frédéric Fritscher, „Enfance errante au Sénégal“, Le Monde, 17. Juni 1994.
15 Michel Galy, „Scènes de chasse urbaines. La quête du travail des jeunes d'Abidjan“, Annales de l'université d'Abidjan, 1994.
16 ENDA-Dakar, Unicef, Konferenz „Enfants et jeunes de la rue“, Forschungsarbeit über die Sozialität der Kinder in Dakar, Februar-März 1983.
17 François Lefort, „Le Désert de l'homme fou“, Plon, Paris 1994.
* Soziologe