11.08.1995

Wie man der Unvernunft in Bosnien zum Siege verhilft

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Wie man der Unvernunft in Bosnien zum Siege verhilft

Von

CLAUDE

JULIEN

IN großem Stile hat die Nato Ende Juni 1995 einen Plan verkündet, der dem bosnischen Serbenführer Karadžić und seinen Belgrader Unterstützern, die diese Unterstützung natürlich stets bestreiten, neuen Mut einflößen wird. Diesem Plan zufolge könnte eine Armee von 60 000 Mann die UN-Blauhelme innerhalb von sechs Monaten evakuieren – 60 000 Soldaten, um sich von den Prinzipien zu verabschieden, denen man eigentlich dienen wollte. „Wenn der Westen vor vier Jahren 60 000 Mann nach Ex-Jugoslawien geschickt hätte, dann gäbe es dort heute keinen Krieg“, schreibt William Pfaff.1 Wahrlich! Nur noch ein paar Monate, und die internationalen Organisationen haben ihr Ansehen definitiv verloren.

Von Anfang an waren die Kontingente zu gering und der Einsatz zu ungenau umrissen. Und zu allem Übel haben erfahrene Minister und Diplomaten, denen man weitaus mehr zugetraut hätte, zahlreiche öffentliche Äußerungen getan, die nachgerade zur Fortsetzung des Krieges animierten. Das letzte Beispiel hierfür war die Erklärung, die der kläglich gescheiterte Jugoslawienvermittler Lord David Owen im Juni vor dem britischen Unterhaus abgab: „Wenn bis zum Herbst keine Übereinkunft erzielt wird, dann bleibt der Unprofor nur noch der Rückzug.“2 Radovan Karadžić weiß also, daß er sich nur noch einige Wochen gedulden muß ...

Die New York Times erinnert daran, daß die Vereinigten Staaten ihrerseits die ganze Zeit hindurch – abgesehen von der Zeit, als Bill Clinton noch Präsidentschaftskandidat war – immer wieder gesagt haben, daß „es nicht zu rechtfertigen wäre, das Leben amerikanischer Soldaten in einem Konflikt aufs Spiel zu setzen, der für die Vereinigten Staaten nicht von vitalem Interesse ist“3. Das gleiche hörte man in den beiden Weltkriegen, im ersten bis 1917, im zweiten bis zum japanischen Angriff auf Pearl Harbour. Die kriegführenden Parteien in Ex-Jugoslawien werden seit vier Jahren offiziell davon in Kenntnis gesetzt, daß sie von den USA nichts zu befürchten haben.

Mußte man sich in seiner Unvernunft auch noch lächerlich machen? Anfang Juni hat das Weiße Haus eine Woche lang „rhetorische Schlangenlinien“4 produziert, wie die Washington Post das sprachgewaltige Hü und Hott des Präsidenten sarkastisch kommentierte.

Um das Bild noch ein wenig auszuschmücken, bekräftigt das Repräsentantenhaus zur gleichen Zeit seine Absicht, der Entsendung der boys in den jugoslawischen „Dschungel“ keinesfalls zuzustimmen. Mit einer erdrückenden Mehrheit (318 gegen 99 Stimmen) spricht es sich am 8. Juni für die einseitige Aufhebung des Embargos gegen Bosnien aus. Aber woher nimmt man das Recht, den amerikanischen Kongreß zu verdammen, wenn gleichzeitig im französischen Parlament die Debatte über Ex-Jugoslawien vor fast leeren Rängen stattfindet? Und dies ist wahrlich kein Einzelfall.

Dabei würden es die Bürger sicher begrüßen, wenn ihre Abgeordneten Verantwortungsgefühl zeigten, statt sich blind auf ihre Regierung zu verlassen. Ohne Gefühl für die Absurdität dieser Situation geben sich schließlich dieselben Abgeordneten viel aufmerksamer und kämpferischer, wenn es darum geht, die Stellung des Parlaments gegenüber der Regierung zu stärken. Eine Ausnahme ist der frühere Minister und jetzige UDF-Abgeordnete Jean-François Deniau5, dessen Warnungen aber von der Regierung überhört werden. Diese beruft sich auf die Kompetenz und Erfahrung ihrer Spezialisten und Experten und auf deren großen Wissensschatz und messerscharfes Denkvermögen. Klaglos tragen sie die Bürde ihrer schweren Verantwortung. Soviel Geist, der nichts als Mißerfolge und Fehlschläge produziert, die dann später in Siege der Vernunft umgemodelt werden!

Im Vollbesitz ihrer Macht haben sie immerneue Sanktionen verhängt, die wirkungslos verpuffen. Sie haben die UNO dazu gebracht, Entscheidungen zu treffen, die niemand in die Tat umzusetzen wagt. Sie haben humanitäre Konvois auf den Weg gebracht, von denen sie wußten, daß man sie aufhalten und plündern würde. Sie haben mit den als Kriegsverbrecher angeklagten Herren Karadžić und Mladić verhandelt. Sie haben Schutzzonen festgelegt, die man nicht verteidigen kann, und Sperrzonen, in die ungehindert schwere Waffen und Flugzeuge vordringen. Sie haben die Truppen auf unsinnigste Art und Weise über das ganze Land verteilt und sie dadurch angreifbar gemacht. Aber wir wollen nicht ungerecht sein: Sie sind sich „ihrer moralischen Verpflichtungen“ bewußt, haben selbstverständlich die ethnischen Säuberungen „nachdrücklich verurteilt“ und sich mündlich über die Nichteinhaltung bestehender Abkommen beschwert. Gleichzeitig haben sie sich mit chirurgischer Präzision über das grausame Puzzle eines Teilungsplans gebeugt, von dem sie wissen – natürlich wissen sie es! –, daß er von denen, die ihm heute zustimmen, morgen schon nicht mehr respektiert wird. Aber auf eine Lüge mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an. All das kann man nachlesen6. Und man könnte es dabei bewenden lassen ...

Ist es unangebracht, an dieser Stelle zu zitieren, was der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt im Januar dieses Jahres in der Zeit schrieb, daß nämlich heute eine neue Garde von Karrieristen an die Stelle der früheren engagierten Politikergeneration getreten ist, die vor allem auf ihre Medienwirkung schielen und an der Oberfläche bleiben?

Wie sehr es auf die „Wirkung in den Medien“ ankommt, konnte man bei der Rettung von Captain Scott F. O'Grady verfolgen, der am 2. Juni mit seiner F-16 bei einem Überwachungsflug in einem Luftwaffensperrgebiet abgeschossen wurde. In den Vereinigten Staaten gab es riesige Schlagzeilen in den Tageszeitungen, Titelgeschichten in den Magazinen, Interviews und Reportagen im Fernsehen. Der Präsident persönlich war betroffen und voller Stolz ... Nicht zu vergessen den human touch der folgenden Schlagzeile: „Riesenfreude für

die Familie des Piloten“7 ... Einige Tage später siegt die Vernunft, in Form einer bösen Karikatur: Ein in einem Treppenhaus hingekauertes Kind beobachtet einen Mann, der zwei Kanister trägt, die er unter Heckenschützenbeschuß mit Wasser gefüllt hat. Hinter einer Mauer sieht man eine Frau, die auf ihren Knien folgenden Brief schreibt: „Lieber Captain O'Grady, wir freuen uns sehr, daß Sie es geschafft haben, hier herauszukommen ...“8.

Zurück in die Wirklichkeit: Die gegen Belgrad verhängten Sanktionen sind vor kurzem abgeschwächt worden, und Washington schickt Robert Frasure zu Verhandlungen mit Milošević. Der gegenwärtige Staatssekretär im Außenministerium hat natürlich nicht vergessen, daß sein Amtsvorgänger denselben Milošević als Kriegsverbrecher in Den Haag vor Gericht bringen wollte. Aber die Europäer und die Amerikaner setzen auf Milošević, damit die bosnischen Serben den Teilungsplan akzeptieren, dem Milošević offiziell zugestimmt hat. Sie tun trotz aller gegenteiligen Erfahrungen so, als vertrauten sie dem Regime in Belgrad. Um nicht allzu lächerlich zu erscheinen, halten sie Material in der Hinterhand, mit dem sie Milošević belasten können: Er unterstützt die Serben in Bosnien und Kroatien, indem er ihnen Brennstoffe, Kriegsmaterial, Ersatzteile und Munition liefert und den Sold für die serbischen Offiziere in Pale bezahlt.9 Die jungen Serben, die an den blutigen Kämpfen nicht teilnehmen wollen und sich im Einflußbereich Belgrads versteckt halten, werden von Miloševićs Polizei aufgespürt und den serbischen Verbänden in Bosnien und Kroatien übergeben.

Aber es kommt noch besser: Das Pentagon in Washington verfügt über Beweise, daß die bosnischen Serben die F-16 von Captain O'Grady nur abschießen konnten, weil sie in direkter Verbindung zur Luftüberwachung in Belgrad stehen. Und das, nachdem dieser angeblich die Unterstützung der bosnischen Serben längst eingestellt hat!

Die Gespräche, die die UNO-Mission unter der Leitung von Yasushi Akashi, der bisher noch alle Generäle der Unprofor gegen sich aufgebracht hat, mit Milošević führt, beschränken sich nicht aufs Verhandeln: Sie hofieren ihn und betteln, er möge sie unterstützen. Wie kommt es nur, daß London und Paris, die die größten Blauhelm-Kontingente stellen, die Ablösung Akashis nicht durchsetzen konnten? Haben sie es überhaupt versucht?

London, Paris und Washington wissen zum Beispiel sehr wohl, daß Milošević, der unverändert an seinem Plan festhält, die Serben der einzelnen Republiken in einem Staat zusammenzufassen, am 18. Mai persönlich entschieden hat, den offensichtlich zu zaghaften General Celektić an der Spitze der kroatisch-serbischen Armee durch den energischeren General Mrksić zu ersetzen, der bis dahin in Belgrad stationiert war. Aber der Westen tut so, als ob er es nicht wüßte: Man scheint zu glauben, daß es genügt, wenn man fest an das Trugbild glaubt, Slobodan Milošević habe seine großserbischen Pläne aufgegeben ...

Im zweiten Weltkrieg, als Belgrad von den Nazis besetzt war, schrieb der 1961 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Ivo Andrić die Erkenntnis nieder, daß, wer herrschen will, zwangsläufig – selbst in der Unterdrückung – Vernunft walten lassen müsse. Wer, mitgerissen von der eigenen Leidenschaft oder getrieben vom Gegner, die Grenzen des vernünftigen Verhaltens außer acht lasse, gerate auf eine schiefe Ebene und leite damit den eigenen Sturz ein.10

Eine zentrale Voraussetzung für den Friedensschluß mit Belgrad ist nicht so sehr eine Übereinkunft mit Milošević als vielmehr eine mit den serbischen Demokraten, die zahlreicher sind, als man denkt, und die Milošević als ihren Gegner betrachten. Wer Milošević als „wertvollen Verhandlungspartner“ akzeptiert, stützt dessen Regime. Warum um alles in der Welt muß man die Serben mit ihren Führern gleichsetzen? Immer wieder, namentlichlich von seiten Madeleine Albrights, der US-Vertreterin bei den Vereinten Nationen, werden „die Serben“ als Aggressoren angeprangert. Aber nicht „die Serben“ sind die Aggressoren, sondern Milošević und seine Mitstreiter. Ein Frieden mit Partnern, die schon hundertmal ihr Wort gebrochen haben, wird nicht von Dauer sein. Man verliert damit nur das Vertrauen der serbischen Demokraten und verstrickt sich in seinen überaus durchsichtigen Schachzügen.

Die westlichen Demokratien opfern mit Bosnien-Herzegowina einen „Staat“, den sie – zu Recht oder zu Unrecht – diplomatisch anerkannt und in die UNO aufgenommen haben. Und sie opfern die Bevölkerung dieses Staates, weil sie für den versprochenen Schutz kein Risiko eingehen wollen. Schlimmer noch – die Opfer mögen diesen Hinweis verzeihen –: Sie verletzen das in der Schlußakte von Helsinki feierlich beschlossene Prinzip, welches es verbietet, bestehende Grenzen unter Einsatz von Gewalt zu verändern. Wenn die UdSSR gegen dieses Abkommen verstoßen hätte, dann hätte dies eine militärischen Auseinandersetzung ausgelöst. Wenn die Milizen des General Mladić dagegen verstoßen, dann zeigt sich, daß dieses Abkommen nicht einmal das Papier wert ist, auf dem es steht.

UNO, Nato und EU geben damit grünes Licht für all jene, die vom Nationalismus besessen davon träumen, daß in Europa – und nicht nur dort – kulturelle, resp. ethnische Grenzen auch Staatsgrenzen sind. Als ob man es darauf anlegen wollte ...

dt. Christian Voigt

1 William Pfaff, „Headed towards a disastrous break in the Balkans“, International Herald Tribune, 6. Juli 1995.

2 US News & World Report, 12. Juni 1995.

3 Leitartikel der New York Times, 2. Juni 1995.

4 The Washington Post, 6. Juni 1995.

5 Vgl. seinen Artikel: „Bosnie: l'enlisement“; Le Monde, 21. Juni 1995.

6 Vgl. Manière de voir, Nr. 17, „La tragédie yougoslave“, Februar 1993; und Claude Julien, „L'amoralisme des pouvoirs“, Le Monde diplomatique, März 1994.

7 International Herald Tribune, 9. Juni 1995.

8 ebd., 16. Juni 1995.

9 ebd., 12. Juni 1995.

10 Ivo Andrić, „Die Brücke über die Drina“, Zürich 1953.

Le Monde diplomatique vom 11.08.1995, von Claude Julien