Eine Herrschaft geht zu Ende
■ Da Saudi-Arabien in der unsicheren und gefährlichen Nahostregion einer der wichtigsten Verbündeten des Westens ist, werden die Menschenrechtsverletzungen, die dort an der Tagesordnung si
Da Saudi-Arabien in der unsicheren und gefährlichen Nahostregion einer der wichtigsten Verbündeten des Westens ist, werden die Menschenrechtsverletzungen, die dort an der Tagesordnung sind, geflissentlich übersehen. Finsterer Absolutismus herrscht im saudischen Königreich. Das Land gehört der Herrscherfamilie Saud, die über seine Reichtümer nach Gutdünken verfügt und keiner Kontrolle unterworfen ist. Die Monarchie zwingt der Gesellschaft ein rückständiges Religionsgesetz auf, das die Frauen in Unmündigkeit hält; ausländische Arbeitskräfte werden häufig wie Zwangsarbeiter behandelt.
Neuerdings sieht sich die saudische Gerontokratie allerdings wachsendem Widerstand konfrontiert. Vor allem den religiösen Extremisten gelingt es, die Grundfesten der königlichen Macht zu erschüttern. Muß auch dieser Thron erst von einer islamischen Revolution gestürzt werden, wie 1979 der Thron des Schahs im Iran, bevor man sich im Westen fragt, welche Fehler gemacht wurden und ob man nicht mitschuldig geworden ist, weil man geschwiegen hat?
Von ALAIN GRESH
DIE Kamera vermeidet die Gesichter, außer denen der Polizisten. Die Schwarzweißbilder sind unscharf und verwackelt, sie wirken seltsam ungeschickt, wie alle diese Dokumente, die an der Zensur und am Zoll vorbeigeschmuggelt werden. „Die Szene könnte sich in vielen Ländern abgespielt haben“, erläutert die Stimme des Sprechers, in Chile unter Pinochet, in Birma unter dem Militärregime ... Aber hier tragen die versammelten Männer lange weiße Gewänder und schwarzweiß karierte Kopftücher, die von einem egÛl gehalten werden, einem aus Seidenschnüren geflochtenen Band, zumeist in Schwarz. Frauen sind nicht zu sehen.
Wir befinden uns in Saudi-Arabien, auf jener Halbinsel, die den Islam hervorgebracht hat und die ein Viertel der Welterdölreserven birgt. Zum ersten Mal ist es einem Regimegegner gelungen, eine Demonstration zu filmen. Im allgemeinen dringen aus dem saudischen Königreich nur erstickte Protestschreie. Die Bilder zeigen den Abend des 10. September 1994. Hunderte von Fahrzeugen begleiten den Scheich Salman al-Audah auf seinem Rückweg von der Hauptstadt Riad, um zu verhindern, daß er mitten in der Nacht verhaftet wird oder einfach „verschwindet“. Die Wagenkolonne eskortiert ihn bis zu seinem Wohnort nach Buraida, einer Stadt von hunderttausend Einwohnern, Hauptstadt der Provinz Kassem. Am nächsten Morgen zieht die Polizei vor seinem Haus auf, aber auch seine Anhänger sind zahlreich erschienen. Sie bewachen das Haus und begleiten den jungen Scheich (er ist noch keine vierzig) zum Gouverneur. Dort wird er aufgefordert, seine politischen Aktivitäten einzustellen – ohne Erfolg: Die nächste Filmsequenz zeigt ihn am 13. September in einer Moschee, er spricht zu einer dichtgedrängten Menge.
Salman al-Audah zitiert die Verse eines saudischen Dichters:
„Sie haben das Wort und die Schrift verboten. Schweig! Das Unrecht soll nicht genannt sein.
Wenn die Sprache vergeht, wird sie brennen wie der Schmetterling in der Flamme.
Denn die Meinungen sind Abfall geworden, den man aufkehrt und in den Müll wirft.
Fortsetzung auf Seite 6
Fortsetzung von Seite 1
Reden ist ein Verbrechen geworden. Wehe dem Anstifter des Streitgesprächs.“1
Am nächsten Morgen wird er verhaftet und ins Gefängnis gebracht, zusammen mit Dutzenden von Anhängern. Die Menschen in der Stadt strömen zu Protestkundgebungen zusammen. Die Auseinandersetzungen dauern mehrere Wochen an, vor allem im Umkreis der Moscheen. Ein Jahr nach dem „Aufstand von Buraida“ sitzt Scheich al-Audah noch immer hinter Gittern.
Die Monarchie hat sich zum harten Durchgreifen entschlossen. Längst ist ihre Hoffnung, die Ausbreitung der Islamisten einzudämmen, gescheitert.2 Im September 1992 wandten sich 107 Persönlichkeiten in einer (nicht öffentlichen) Denkschrift von 45 Seiten an Scheich Abdelasis Ben Bas, den höchsten religiösen Würdenträger des Königreichs. Zwar richteten die Unterzeichner keine direkten Angriffe gegen den König, aber ihre Forderungen waren geradezu revolutionär: Gleichheit vor dem Gesetz, Rechenschaftspflicht von Amtsinhabern, Abschaffung der Korruption, Umverteilung des Reichtums, Stärkung der Armee und der nationalen Souveränität, Beschränkung der Macht der Polizei. In Verbindung damit wurden weitere Forderungen erhoben, die deutlich geprägt waren von muslimischer Glaubensstrenge: Ausweitung der religiösen Lehrveranstaltungen und Verbot westlicher Lehren an der Universität, Verbot westlicher Sendungen im Fernsehen und so weiter.
Das Golfkriegs-Trauma
MEHR noch als der Inhalt dieser gemeinsamen Erklärung beunruhigte die saudischen Machthaber die Herkunft und soziale Stellung der Unterzeichner: über zwei Drittel stammten aus der Region Nedschd, und die Hälfte von ihnen waren Religionsgelehrte.3 Man muß wissen, daß in Saudi-Arabien seit altersher ein Bündnis zwischen der Familie as-Saud (die zu den Stämmen des Nedschd gehörte) und den ulema besteht (die meist aus der Sippe von Mohammed Ibn Abdel Wahhab kommen, dem Begründer der strengen wahhabitischen Glaubensrichtung) – auf diese traditionelle Allianz gründet sich die Macht im Staat.
Die Oppositionsbewegungen, die in den fünfziger und sechziger Jahren gegen das Königshaus angetreten waren, hatten sich an sozialistischen Ideen oder am Programm des arabischen Nationalismus orientiert und ihren Rückhalt bei der schiitischen Minderheit oder in den Randprovinzen des Landes gefunden. Die Machthaber behielten stets die Oberhand, zum einen weil ihnen die Loyalität der Bevölkerung im Nedschd sicher war, und zum anderen weil sie mit Hilfe der Geistlichkeit das mächtige Banner des Islam entrollen konnten. Heute kommen die deutlichsten Mißfallensäußerungen aus den Reihen der ulema, die für eine Läuterung des Islam eintreten, und sie finden damit vor allem bei den Bewohnern des Nedschd große Zustimmung.
Der Konflikt zwischen den Machthabern und ihren Kritikern verschärfte sich, als diese dazu übergingen, ihren Protest öffentlich zu erheben. Am 3. Mai 1994 erlaubten sich sechs bekannte Persönlichkeiten aus den Reihen der Geistlichkeit und der Intellektuellen einen beispiellosen Angriff gegen König Fahd, indem sie öffentlich die Gründung eines „Komitees zur Verteidigung der Grundrechte“ bekanntgaben – in einem Land, das seinen Bürgern keine politische Betätigung erlaubt! Das Komitee, bekannt geworden unter seiner englischen Abkürzung CDLR, will „dazu beitragen, das Unrecht zu beseitigen, den Unterdrückten zu helfen und die Rechte zu verteidigen, die dem Menschen durch die scharia gegeben sind“. Dieser Schritt, so beeilten sich die Gründer zu versichern, sei von der Absicht bestimmt, „den Prozeß des Verfalls aufzuhalten, der die Gesellschaft ins Chaos stürzt. Nur ein Weg der gemäßigten und ausgewogenen Reformen (...) kann die Gewaltmethoden ablösen.“
Den königlichen Zorn konnten die gemäßigten Formulierungen nicht besänftigen. In den folgenden Tagen wurden die Organisatoren des Komitees ihrer öffentlichen Ämter enthoben, verhört und verhaftet. Ihr Sprecher, Mohammed al-Masra'i, ging einige Monate später heimlich über die Grenze in den Jemen. Im April 1994 kam er nach London und beantragte politisches Asyl. Bislang ist er nicht ausgewiesen worden, obwohl die konservative britische Regierung, unter Druck aus Riad, einige Anstrengungen unternommen hat.
Der ehemalige Professor der Physik mit dem schwarzen Bart und dem gewinnenden Lächeln lebt jetzt in einem dreigeschossigen Mietshaus im Norden von London. Hier empfängt er Journalisten und Unterstützer, hier werden auch die Berichte des CDLR zusammengestellt. Die Informationen über die Politik der Unterdrückung, über die Schandtaten der Königsfamilie und ihre Abhängigkeit vom Ausland finden dank Telefax und Internet in Saudi-Arabien große Verbreitung. Mohammed al-Masra'i, der seine Ausbildung im Westen absolviert hat, kann stundenlang sprechen – er unterbricht seinen Vortrag nur, um die Gebete zu verrichten.
„Das Bildungsniveau in Saudi-Arabien ist gestiegen, die Analphabeten-Quote liegt jetzt bei 35 Prozent, das ist weniger als in Ägypten. Es gibt praktisch in jedem Haushalt eine Person, die lesen kann. Alle haben ein Radio und hören die Auslandssender, die Leute unterscheiden sogar zwischen der BBC, die sie für voreingenommen halten, und dem holländischen Sender, dem mehr Objektivität bescheinigt wird. Man schätzt, daß es zwischen 100 000 und 600 000 Satellitenantennen gibt. Die sind zwar verboten, aber die Vorschriften sind bisher nicht durchgesetzt worden. Man kann diese Informationsflut nicht eindämmen ...“
In der saudischen Gesellschaft hat der Golfkrieg ein bleibendes Trauma hinterlassen. 500 000 fremde Soldaten haben sich im „Heiligen Land des Islam“ aufgehalten, das Königreich war nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen, obwohl Dutzende von Milliarden Dollar für die neueste Waffentechnologie verschwendet wurden. Schließlich wurde der Irak von den Streitkräften der Golfallianz planmäßig zerstört. All das hat in einer Bevölkerung, die sehr nationalistisch – manchmal bis zur Fremdenfeindlichkeit – und sehr fromm ist, Fragen und Zweifel geweckt. „Überall gab es Diskussionen und Auseinandersetzungen“, erinnert sich Mohammed al-Masra'i. „Es herrschte eine Aufbruchsstimmung, aber die Menschen fürchteten Saddam Hussein, deshalb hielten alle zum Königshaus, sogar die Islamisten. Ich habe diese Haltung nicht geteilt.“
Bei den Gegnern des Regimes ist häufig eine romantische Sehnsucht nach den alten Zeiten zu bemerken, als das Prinzip der schura, der politischen Konsultation, noch galt. Obwohl er heute für ein Mehrparteiensystem eintritt, ist auch Mohammed al-Masra'i davon nicht frei. „In den sechziger Jahren wurden die Universitätsprofessoren regelmäßig von der Regierung zu Beratungsgesprächen eingeladen. Wir bekamen fast jede Woche Informationen über Gesetzesvorhaben, und man wollte unsere Meinung dazu hören. Manchmal haben wir uns geäußert, manchmal nicht, je nach Interesse und Kenntnisstand. Unter König Fahd war das dann nicht mehr üblich.“
Manchmal funktioniert das gesellschaftliche System tatsächlich besser mit Hilfe solcher „archaischer“ Prinzipien. Für den Herrscher kann die Beratung mit den anderen Mächtigen im Land ein entscheidendes Mittel der Information sein. „Zu jedem dieser madschlis kommen bis zu fünfzig Personen“, erklärt Mohammed al-Masra'i. „Alle Stämme sind vertreten. Man diskutiert die Tagespolitik. Wenn der König zum Beispiel Kritik an den Palä
stinensern üben will, dann kann er das vielleicht nicht offen tun, aber er kann die Ratsversammlung benutzen, um das Gerücht in Umlauf zu setzen, die Palästinenser seien selbst schuld an ihrer Lage, weil sie ihr Land an die Juden verkauft hätten. Zwei, drei Tage später ist dieser Standpunkt dann überall bekannt. König Feisal (1964-1975) zum Beispiel hatte Henry Kissinger eine offizielle Audienz gewährt, aber er nutzte den madschlis der Stammesfürsten, um das Volk wissen zu lassen, daß er den Berater des amerikanischen Präsidenten höchst ungnädig empfangen habe.“
Lange Zeit hätten die Menschen eben geglaubt, jeder müsse selbst mit seinen Problemen fertig werden, meint ein anderer Regimegegner: Chalid al-Fauas leitet das „Advice and Reformation Committee“, eine Organisation, die radikalere Positionen vertritt als das CDLR. Zu ihren Führern gehört auch Ussama Ben Laden, ein Geschäftsmann, dem im Februar 1994, als erstem saudischen Bürger, die Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. „In den siebziger Jahren war es noch sehr schwierig, gemeinsame Aktionen zu organisieren“, sagt al-Fauas. „Die Vertreter des Staates, sogar der König selbst, hielten jede Woche öffentliche Versammlungen ab, ließen sich Beschwerden einzelner vortragen und versprachen Abhilfe.“
Aber seit 1973 hat die saudische Gesellschaft im Zuge der Ölpolitik tiefgreifende Veränderungen erlebt, die auch die traditionellen Grundlagen der Macht in Frage stellten. 1970 lebten nur 26 Prozent der Bevölkerung in den Städten, 1990 sind es 73 Prozent. Die Kindersterblichkeit, die Anfang der achtziger Jahre noch 118 von 1 000 betrug, ist 1990 auf 21 von 1 000 gesunken. 1960 besuchten nur 2 Prozent der Mädchen eine Schule, 1981 waren es bereits 41 Prozent und zehn Jahre später mehr als 80 Prozent.4
Inzwischen haben sogar mehr junge Frauen als Männer einen Hochschulabschluß. Allerdings bleiben ihnen bestimmte Studiengänge verschlossen – sie können zum Bespiel nicht Ingenieurin, Architektin oder Journalistin werden –, und auf dem Arbeitsmarkt haben sie praktisch keine Chance. Frauen dürfen den Kreis der Familie nicht verlassen, das gilt vor allem in der Region des Nedschd. Nirgendwo sonst in der islamischen Welt wird dieser Grundsatz noch mit solcher Strenge befolgt: Im Iran zum Beispiel haben Frauen Zugang zu fast allen staatlichen Positionen, sie können sogar Minister werden.
Das Problem der jungen Akademiker
Die jungen Saudis sind gebildeter als ihre Eltern, ihre Lebensart ist städtischer, sie haben sich weitgehend aus den Stammesbindungen gelöst, wo sie sich nicht sogar ganz ihrer Wurzeln entledigten. Jedenfalls durften sie annehmen, daß es ihnen besser gehen würde als der älteren Generation, daß ihnen der Reichtum des Landes ein angenehmes Leben garantiere. Von körperlicher Arbeit wollten sie nichts wissen, dafür waren die Arbeitsemigranten aus den arabischen und asiatischen Ländern zuständig. Selbst Studenten aus ärmeren Familien strebten mindestens eine gutbezahlte Position im höheren Verwaltungsdienst an. Der enorme Anstieg der Studentenzahlen, der auch mit der Geburtenrate zusammenhängt (sie gehört zu den höchsten in der Welt), war allerdings begleitet von einer deutlichen Senkung des Qualifikationsniveaus. Wie auch in anderen arabischen Ländern entstand eine Schicht von „Lumpenakademikern“ ohne rechte Ausbildung.5
Der Aufstieg von islamischen Universitäten in den siebziger Jahren hatte zur Folge, daß sich anschließend Tausende von ulema auf dem Markt der Religionsgelehrsamkeit Konkurrenz machten, Geistliche, die auf die heftigen Wandlungsprozesse in der muslimischen Welt reagierten und den traditionellen Führungsschichten den Kampf ansagen konnten. Und schließlich wurde die junge Generation auch noch Opfer der Finanzkrise, in die das Königreich Anfang der achtziger Jahre geriet: Seit 1986 kann der Staat nicht mehr allen Hochschulabgängern einen Arbeitsplatz garantieren.
„Saudi-Arabien war nur kurze Zeit ein reiches Land.“6 Mit diesem Satz faßte die Financial Times Ende 1993 die Einschätzungen in britischen und anderen westlichen Wirtschaftskreisen zusammen. Die Nummer eins unter den erdölexportierenden Ländern wird inzwischen von der Weltbank als ein „Land mit mittlerem Einkommen“ eingestuft, und das Blatt der Londoner City meint, Saudi-Arabien werde sich „einem größeren chirurgischen Eingriff unterziehen“ müssen. Die düstere Prognose wurde wenige Monate später vom Internationalen Währungsfonds (IWF) bestätigt: Ohne Strukturreformen werde sich das laufende Defizit weiter erhöhen. Bis 1998 werde die Staatsverschuldung auf 77 Prozent des Bruttosozialprodukts gestiegen sein. Der IWF empfahl daher „die Reduktion unproduktiver Ausgaben, die Neuordnung des öffentlichen Haushalts und zusätzliche Maßnahmen zur langfristigen Steigerung der Einnahmen, die nicht aus dem Ölgeschäft stammen“.
Im ersten Halbjahr 1995 hat sich die Situation leicht verbessert: Die Förderung des „schwarzen Goldes“ konnte während der ersten vier Monate bei 8,17 Millionen Barrel pro Tag gehalten werden – zum Vergleich: Anfang 1990 waren es 5,6 Millionen Barrel pro Tag. Außerdem liegt der Preis im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 20 Prozent höher. Allmählich beginnen auch die Importbeschränkungen Wirkung zu zeigen. Die Regierung konnte Auslandsschulden zurückzahlen – 1994 hatte der Schuldendienst fast 10 Prozent der exportierten Güter und Dienstleistungen ausgemacht.
Diese zeitweilige Beruhigung ist eine unmittelbare Folge der Ölpreisentwicklung, denn noch immer hat das schwarze Gold einen Anteil von über 90 Prozent an den saudischen Exporten. Eine Rückkehr des Irak auf den Ölmarkt, und sei es mit begrenzten Kontingenten, würde die Finanzen des Königreichs erschüttern und ganz sicher auch die Monarchie ins Wanken bringen. Man begreift, warum Washington und Riad entschlossen sind, die Lockerung der Sanktionen gegen Saddam Hussein zu verhindern.
Kann ein Land, das 1995 ein Viertel seines Gesamtbudgets für die Armee und die Sicherheitskräfte ausgibt, überhaupt eine stabile Haushaltslage erreichen? Unter dem Druck der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Länder (vor allem Frankreichs), die befürchten, ihre Rüstungsgüter auf dem schrumpfenden Weltmarkt nicht mehr loszuwerden, deckt sich das Königreich mit allem ein, was zu haben ist. Was dieser „Kramladen“ wert ist, hat der Golfkrieg gezeigt. Inzwischen gibt es bereits wesentlich mehr Kampfflugzeuge als ausgebildete Piloten ...
Für die königliche Familie lohnen sich diese Einkäufe allerdings: sie kassiert bei jedem Vertragsabschluß 30 bis 40 Prozent Provision. Jean-Michel Foulquier, ein ehemaliger französischer Diplomat, der in Riad stationiert war, hat darauf hingewiesen, daß Prinz Sultan als Verteidigungsminister „seit dreißig Jahren den dicksten Posten im Budget verwaltet. (...) Für die Rüstungskäufe ist er persönlich zuständig. (...) Von dieser strategischen Anhöhe aus kontrolliert er die Abwicklung der Geschäfte, vor allem der eigenen natürlich.“7 Sein Sohn Chalid, der während der Kuweitkrise Befehlshaber der Vereinigten Streitkräfte war, hat es geschafft, in diesem kurzen Zeitraum drei Milliarden Dollar zu verdienen. Nur in seltenen Fällen gelingt es der internationalen Presse, einen Zipfel des Schleiers zu lüften, aber die Skandale, die zum Vorschein kommen, werden von den westlichen Regierungen sogleich vertuscht.8
„Sobald der Fürst die souveräne Macht besitzt“, heißt es schon bei Jean-Paul Marat, dessen Schriften im saudischen Königreich verboten sind, „geht es bei den Staatsgeschäften nicht mehr um das Wohl des Volkes, sondern um die Autorität des Fürsten, um die Würde seiner Krone, um seinen Stolz, um seine Launen. Er betrachtet nun den Staat als sein Erbgut und die öffentlichen Mittel als persönliche Einkünfte, er schachert mit Steuereinnahmen, Städten und Provinzen; er verkauft seine Untertanen und verfügt nach Belieben über alles, was die Nation hervorbringt.“9
Aus tausendundeiner Pfründe wird der märchenhafte Lebensstil der fünftausend Prinzen und Prinzessinnen bezahlt, die alle gar nicht genug bekommen können. „Nach einer Schätzung des Fortune Magazine“, heißt es an anderer Stelle bei Jean-Michel Foulquier, „beträgt das Vermögen von König Fahd mehr als 20 Milliarden Dollar. Der König besitzt zwölf Paläste in Saudi-Arabien, darunter den gewaltigen al-Yamamah-Palast in Riad. Nach dem Golfkrieg hat er sich einen ABC-Bunker bauen lassen (der Schutz vor nuklearen, biologischen und chemischen Waffen bietet); die Anlage ist 14 000 Quadratmeter groß, davon sind 7 000 Quadratmeter Wohnräume. Es gibt dort nicht zuletzt auch einen Operationssaal, in dem chirurgische Eingriffe am Herzen durchgeführt werden können ... Weiterhin besitzt der Herrscher mehrere Yachten, darunter eine, deren Wert auf hundert Millionen Dollar geschätzt wird.“10 Gar nicht zu reden von der Villa in Cannes, einer weiteren Villa in Genf, dem Palast in Marbella, dem Landgut bei Versailles und der künstlichen Insel vor der Küste von Dschidda, die durch eine Autobahn mit dem Festland verbunden ist ...
Einer dauerhaften Verringerung der Staatsausgaben, wie sie vom Internationalen Währungsfond gefordert wird, steht allerdings auch der Sozialpakt entgegen, der seit den sechziger Jahren den König und seine Untertanen verbindet. Dieser beinhaltet praktisch, daß die Bürger ihre rechtlose Stellung akzeptieren, dafür garantiert ihnen der Staat ein gesichertes Auskommen. Angesichts der Herausforderung durch die Islamisten wäre es heute problematisch, den Wohlfahrtsstaat abzubauen – das würde neue Unzufriedenheit schaffen.
Eine erstarrte Gerontokratie
IN dieser bedrohlichen Lage hat der König eine Doppelstrategie entwickelt. In der westlichen Öffentlichkeit und bei den dortigen Regierungen beschwört er die „islamistische Gefahr“, damit er unentbehrlich erscheint und der Westen ihm weiterhin die Stange hält – als Bollwerk der Zivilisation ... 11 Im eigenen Land verschärft er gleichzeitig die politische Überwachung der Geistlichkeit. Der Rat der Hohen Geistlichkeit wurde im November 1992 umgebildet, nachdem sieben seiner Mitglieder ausgeschlossen worden waren, weil sie sich geweigert hatten, die im September übermittelte kritische Botschaft zu verurteilen. Im Oktober 1994 hat der König einen Obersten Rat für Islamische Angelegenheiten geschaffen, der von Prinz Sultan angeführt wird.12
Zugleich hat er einigen seiner Gegner Friedensangebote gemacht. Im Herbst 1993 war ein Kompromiß mit der gemäßigten schiitischen Opposition zustande gekommen, woraufhin im Juli 1994 alle inhaftierten Anhänger dieser Gruppierung freigelassen wurden. Im Gegenzug hat die Organisation, die von London aus operierte und eine hervorragende Zeitschrift namens al-Dschasirah al-Arabia (Die arabische Halbinsel) herausgab, ihre Aktivitäten eingestellt. Einige ihrer Mitglieder sind mittlerweile in die Heimat zurückgekehrt.
Den Schiiten – sie stellen etwa zehn Prozent der Bevölkerung – bringt man nach wie vor eine tiefe Verachtung entgegen. Zwar hat sich die wirtschaftliche Situation in ihren Siedlungsgebieten (im Osten, wo sich alle großen Ölvorkommen befinden) verbessert, aber sie bleiben Bürger zweiter Klasse. Eine ganze Reihe von Positionen, vor allem innerhalb der Armee, bleiben ihnen verschlossen. Auch in der Ausübung ihres Glaubens werden sie behindert. Und unter den sechzig Mitgliedern der beratenden Versammlung, die 1993 ernannt wurde, war sage und schreibe nur ein einziger Schiite.
Für alle, die sich, wie Scheich al- Audah, nicht unterordnen wollen, hat man nur eine Antwort: Verfolgung und Bestrafung – und hierbei werden wahrhaft mittelalterlicher Methoden angewendet. „Wie die Flüsse ins Meer, münden die Monarchien in die Despotie“, heißt es schon bei Montesquieu.
Aber sie können auch in gerontokratische Starre verfallen. Am 10. April 1995 spuckten die Fernschreiber die folgende Meldung der saudischen Presseagentur aus: „König Fahd Ben Abdel Asis, der Diener der beiden Heiligen Stätten (Mekka und Medina), hat am gestrigen Sonntag mit seiner königlichen Hoheit Abdallah Ben Abdel Asis, dem Erbprinzen und Befehlshaber der Nationalgarde, telefoniert, um sich nach dessen Gesundheit zu erkundigen, die, infolge einer Grippe, leicht angegriffen gewesen war.“ In einem Land, in dem alles, was mit Information zu tun hat, in die Zuständigkeit der höchsten Stellen fällt, in dem die Medien den irakischen Einmarsch nach Kuweit erst Tage später melden, in dem der Gesundheitszustand der Führer als Staatsgeheimnis gilt – in einem solchen Land muß eine so ungewöhnliche Meldung zwangsläufig zu Spekulationen über die Erbfolge führen.
Offiziell ist alles geregelt: Wenn der jetzt vierundsiebzigjährige König Fahd stirbt, wird sein zweiundsiebzigjähriger Halbbruder Prinz Abdallah, der Kommandant der Nationalgarde, seine Nachfolge antreten. Auf Platz drei in der Erbfolge steht der einundsiebzigjährige Prinz Sultan, Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Allerdings gibt es eine Reihe von deutlichen Hinweisen, daß eine heftige persönliche und politische Rivalität zwischen Prinz Abdallah und der sogenannten „Siebenerbande“, den Sudeiri, entbrannt ist. Es handelt sich um die sieben Söhne des Begründers der Monarchie, Abdelasis Ibn Saud, alle sieben haben dieselbe Mutter. Neben König Fahd und Prinz Sultan sind vor allem der Innenminister Prinz Nayef und Prinz Salman, der Gouverneur von Riad, zu nennen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen könnten jedoch allenfalls gesundheitliche Probleme zu einer Änderung der Erbfolge führen. Die Opposition konzentriert ihre Angriffe auf den Clan der Sudeiri und schont Abdallah, weil er als weniger abhängig von den Vereinigten Staaten gilt.13 Nach ihrer Meinung würden die Amerikaner den designierten Thronfolger nach einigem Zögern schließlich akzeptieren müssen.
Das Alter der Machtelite dürfte sich noch mehr als die Palastintrigen in den kommenden Jahren als Last erweisen und den Niedergang der Monarchie beschleunigen. Die glänzende Fassade, die der Reichtum des Petrodollars nach wie vor zur Schau stellt,täuscht: Das Herrscherhaus der as-Saud wird bereits von Kräften belagert, die sich seinen Untergang auf die Fahnen geschrieben haben.
Alain Gresh
dt. Edgar Peinelt
1 Das Gedicht „Sie haben das Wort verboten“ stammt von Abdallah Hamid al-Hamid, Schriftsteller und Lehrbeauftragter an der Universität von Riad. Er wurde 1993 verhaftet und kam nach Informationen von amnesty international erst wieder frei, als er „eine Verpflichtung unterschrieben hatte, sich jeder politischen Aktivität zu enthalten, die gegen das Königreich gerichtet erscheint“.
2 Zur Entwicklung der islamischen Opposition in der Zeit nach dem Golfkrieg siehe Alain Gresh, „Les nouveaux visages de la contestation islamique en Arabie saoudite“, Le Monde diplomatique, August 1992.
3 Die Hälfte besaß außerdem die Doktorwürde einer Universität. Siehe R. Hrair Dekmejian, „The Rise of Political Islamism in Saudi Arabia“, Middle East Journal, Jg. 48, Nr.4, Herbst 1994.
4 „Saudi Arabia, A Country Study“, Federal Research Division, Washington: Library of Congress, 1993.
5 Siehe Mordechai Abir, „Saudi Arabia, Government, Society and the Gulf Crisis“, London, Routledge 1993, S. 15-23.
6 The Financial Times vom 22. Dezember 1993.
7 Siehe Jean-Michel Foulquier, „Arabie saoudite, la dictature protégée“, Paris, Albin Michel 1995, S. 41.
8 1989 wurde in Großbritannien eine offizielle Untersuchungskommission eingesetzt, die klären sollte, welche Provisionen im Zusammenhang mit einem Waffengeschäft von einigen Dutzend Millarden Pfund an das saudische Königshaus gezahlt worden waren. Es handelte sich um den al-Yamamah-Vertrag, den Margaret Thatcher im September 1985 unterzeichnet hatte und der, bei einer Laufzeit von zwanzig Jahren, vor allem die Lieferung mehrerer Dutzend Tornado- Kampfflugzeuge vorsah. Die Kommission entschied sich, den Bericht nicht zu veröffentlichen. In der Presse schätzte man die Provisionszahlungen auf 30 Prozent des Auftragswerts (siehe zum Beispiel The Independent vom 13. März 1992).
9 Jean-Paul Marat, „Les chaînes de l'esclavage“, Bruxelles: Pôle Nord, S. 45-79.
10 Jean-Michel Foulquier, a.a.O., S. 35-36
11 Es ist denkbar, daß die Machthaber die „Terroristengefahr“ gerne selbst etwas verschärfen wollen: Im September 1994, nach der Verhaftung von Scheich al-Audah, drohten die „Bataillone des Glaubens“ in einer Erklärung mit Aktionen gegen westliche Einrichtungen und hohe Repräsentanten des Regimes. Am 10. April 1995 meldete sich eine weitere unbekannte Organisation: die „Islamische Bewegung für den Wandel – Sektion Heiliger Krieg auf der arabischen Halbinsel“ stellte den Streitkräften des Westens das Ultimatum, bis zum 28. Juni aus der Region abzuziehen. Keiner der beiden Erklärungen folgten Taten.
12 Siehe dazu vor allem „Religion et Finance“, Issues Nr.11, Oktober 1994 (Paris). Außerdem hat der König angeordnet, daß die Weiterleitung aller Spenden, die für die Unterstützung von Muslimen in anderen Ländern aufgebracht werden, durch ein Komitee erfolgt, dessen Vorsitz sein Bruder Salman innehat (der außerdem Gouverneur von Riad ist). Siehe The Guardian vom 5. Mai 1993.
13 Prinz Abdallah pflegt seinen Ruf als arabischer Nationalist; man sagt von ihm, er habe Bedenken gegen das massive Eingreifen des Westens im Golfkrieg gezeigt. Er unterhält auch beständige Kontakte zur syrischen Führung. Andererseits wurde die Nationalgarde, die unter seinem Befehl steht und nichts anderes als eine Prätorianergarde des Regimes – und des Stammes der Herrscher – darstellt, in den achtziger Jahren mit Hilfe der USA auf den neuesten Stand gebracht. Nach wie vor sind zahlreiche amerikanische Berater in der Ausbildung der Truppe tätig.