11.08.1995

Die Bombe als Sinnstiftung?

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Die Bombe als Sinnstiftung?

URCH ihren Wahlsieg im November letzten Jahres fühlen sich die amerikanischen Konservativen in ihrer ideologischen Offensive gestärkt, zumal das Weiße Haus ihnen nur selten Widerstand entgegensetzt. Außer dem Abbau der Sozialprogramme für Arme und der Infragestellung der Rechte für rassische Minderheiten hat diese Offensive auch die Volkskultur und die historische Erinnerung im Visier. Die Leader der Rechten beklagen sich gern über die political correctness, die ihnen angeblich abverlangt wird. Die Kontroverse über Hiroshima zeigt jedoch deutlich, wer die wirklichen Erben der McCarthy-Ära sind.

Von KAI BIRD *

In den Vereinigten Staaten des Newton Gingrich ist Gertrude Himmelfarb eine der einflußreichsten Intellektuellen. Sie ist Historikerin und zudem die Ehefrau von Irving Kristol, einer Galionsfigur der neokonservativen Bewegung.1 Kristol, der in seiner Jugend Sozialist war, sieht die Aufgabe des rechten Intellektuellen heute darin, „den Amerikanern zu erklären, warum sie recht haben, und den Intellektuellen, warum sie unrecht haben“2. Dieser Aufgabe scheint sich auch seine Frau verschrieben zu haben. In den letzten Jahren hat Frau Himmelfarb immer wieder die „neuen Historiker“ angegriffen und sie beschuldigt, einen zu scharfen Blick auf die Geschichte der Vereinigten Staaten zu werfen. Bereits 1987 betonte sie in ihrer Schrift „The New History and the Old“, daß Geschichte und Nation wieder „vereint“ und kritische Analysen der nationalen Vergangenheit daher zu verdammen seien. Ihrer Ansicht nach ist Amerika zu stark in Klassen, ethnische Gruppen und Rassen gespalten, als daß man es den Historikern noch erlauben dürfte, die Mythen der nationalen Einheit in den Staub zu ziehen.3

Frau Himmelfarb und ihren Gesinnungsgenossen bläst der Wind in die Segel. Sie genießen die Unterstützung des (republikanischen) Präsidenten des Repräsentantenhauses, Newton Gingrich, der aus der gleichen politischen Ecke stammt wie James F. Byrnes, ein rassistischer Politiker aus South Carolina. Byrnes allerdings gehört auch zu dem Personenkreis, dessen Überzeugungsarbeit Präsident Truman im August 1945 zum Befehl veranlaßte, Hiroshima zu bombardieren.

Die Interpretation der Vergangenheit ist und bleibt ein ideologisches Schlachtfeld. Doch den politischen Nachfolgern von John Byrnes ist es – ähnlich wie den McCarthy-Anhängern der fünfziger Jahre – gelungen, ein kulturelles Klima zu erzeugen, in dem fast jeder nonkonforme historische Diskurs auf den Index gesetzt werden kann. Die große Debatte über Hiroshima, die im Winter und im Frühjahr die Vereinigten Staaten erschütterte, ist dafür nur das neueste Beispiel. Ein Museumsdirektor kann seine Stellung verlieren, einem Professor wird geraten, sich nicht öffentlich zu äußern, und einer überregionalen Tageszeitung wird empfohlen, den Patriotismus andersdenkender Historiker anzuzweifeln.

Was die meisten Amerikaner über Hiroshima wissen, ist nicht mehr als ein Mythos. Denn Hiroshima ist nicht einfach ein historisches Ereignis wie viele andere auch. Es markiert sowohl das Ende des zweiten Weltkriegs als auch den Beginn von vierzig Jahren Kalten Krieges.4 Deshalb symbolisiert dieses Ereignis einen regelrechten Komplex von Überzeugungen, auf denen die Identität der meisten Amerikaner beruht. Denn wenn sie zu der Ansicht kommen sollten, daß das Massaker von 200 000 Zivilpersonen in Hiroshima und Nagasaki – die meisten davon Frauen, Kinder und unbewaffnete alte Leute – nicht notwendig war, würde die moralische Wahrnehmung ihrer selbst und ihrer Nation vielleicht erheblich ins Wanken geraten. Jeder, der behauptet, Präsident Harry Truman habe die Motivation seiner Entscheidung nicht ganz offengelegt, kann unter diesen Bedingungen bereits der Subversion bezichtigt werden.

Wie stark die Neokonservativen den politischen Diskurs des Landes bereits beeinflussen, zeigt die sich über ein Jahr hinziehende Kontroverse um die „Enola Gay“-Ausstellung (so der Name des Bombers, der am 6. August 1945 die Bombe über Hiroshima abwarf), die vom Museum für Luft- und Raumfahrt der Smithsonian Institution in Washington organisiert wurde. Mit der vollen Unterstützung des Museumsdirektors Martin Harwit verfaßten Experten Anfang 1994 ein vorläufiges Skript zu einer Ausstellung über das Bombenflugzeug. Darin wurden die unterschiedlichen Einschätzungen der Historiker zu Präsident Trumans Entscheidung in groben Zügen widergegeben. Schon in den ersten Zeilen heißt es: „Bis heute geht die Kontroverse darüber weiter, ob der Einsatz dieser Bombe gegen Japan wirklich notwendig war, um das Kriegsende zu beschleunigen“5.

Dieser Text wurde danach von einem Historikerkomitee durchgesehen und (mit einigen unwesentlichen Änderungsvorschlägen) gebilligt. Einer der Historiker, Richard Hallion, der für die US Air Force arbeitet, beschrieb das Skript so: „Im großen und ganzen handelt es sich um eine beachtenswerte, vollständige und anschauliche Arbeit, die auf sorgfältiger Forschung beruht.“

Danach fingen die Scherereien an. Im Frühjahr des vergangenen Jahres verschaffte sich die Air Force Association eine Kopie des ursprünglichen Skripts von siebenhundert Seiten. Einige aus dem Zusammenhang gerissene Zitate wurden an die Medien weitergegeben. Laut ihnen würde die geplante Ausstellung den Eindruck erwecken, die Amerikaner hätten im Pazifik einen „Rachefeldzug“ geführt. In Wirklichkeit bestand der grundlegende Einwand der Veteranen-Organisationen jedoch darin, daß die vorgesehene Ausstellung keineswegs eine reine Ehrung der „Enola Gay“ war, sondern im Gegenteil eine Reihe peinlicher Fragen über die Mission aufwerfen würde, die dieser Bomber auszuführen hatte: die Ermordung von Zehntausenden wehrloser Zivilisten in den letzten Tagen eines bereits gewonnenen Krieges. Die Veteranen und die Organe der neokonservativen Presse – in erster Linie die Washington Post – hielten es also für angebracht, eine Zensur der Ausstellung zu erwirken.

In einer Zeit, in der nur noch wenige Leute Bücher lesen, verwundert es nicht, daß die meisten Veteranen des zweiten Weltkriegs, die die Ergebnisse der historischen Forschung kaum zur Kenntnis nehmen, weiterhin davon überzeugt sind, daß die Atombombe ihnen das Leben gerettet hat. Ebensowenig überrascht es, daß die Veteranen-Organisationen derlei Kontroversen benutzen, um ihre Anhänger aufzuputschen. Und soll man sich da noch wundern, daß Richard Hallion, der Historiker der US Air Force, als er begriff, woher der Wind wehte, das Ausstellungs-Skript öffentlich angriff ...?

Sehr viel ärgerlicher war jedoch die Feigheit der Smithsonian Institution. Zunächst entschied der Direktor des Museums für Luft- und Raumfahrt, das Skript des Ausstellungsprojekts Zeile für Zeile von Vertretern der Veteranen-Organisationen durchsehen zu lassen. Für Direktor Harwit bedeutete diese Maßnahme, daß die Arbeit seiner eigenen Experten herabgewürdigt und die der Historikerkommission ignoriert wurde. Im Laufe der anschließenden Verhandlungen stimmte er einer immer stärkeren Zensur zu. Alle Dokumente, denen zu entnehmen gewesen wäre, daß Truman Alternativen zum Einsatz der Atombombe hatte, verschwanden aus der Ausstellung, wodurch auch die Meinungen so angesehener Persönlichkeiten wie General Dwight Eisenhower, Admiral William Leahy, General George Marshall und – Harry Truman selbst der Zensur zum Opfer fielen ...

Das ursprüngliche Skript beinhaltete zwei Erklärungen. In seinen 1950 erschienenen Memoiren schreibt Admiral Leahy, der Chef des persönlichen Generalstabs, der dem Präsidenten Roosevelt und später Truman zugeordnet war: „Die Japaner waren schon besiegt und bereit, sich zu ergeben. (...) Der Einsatz dieser barbarischen Bombe über Hiroshima und Nagasaki hat uns nicht geholfen, den Krieg zu gewinnen. (...) Dadurch, daß wir die Atombombe als erstes Land benutzten, machten wir uns die ethischen Maßstäbe von Barbaren zu eigen. Auch in General Eisenhowers Memoiren ist zu lesen: „Genau zu diesem Zeitpunkt [im August 1945] suchte Japan nur noch nach einer Möglichkeit, mit einem Minimum an Gesichtsverlust zu kapitulieren. (...) Es war nicht notwendig, dieses schreckliche Ding auf sie abzuwerfen.“

Vor allem bezüglich dieser beiden Zitate wollten die Veteranen-Organisationen und die Verfechter der historical correctness ihr Recht auf Zensur ausüben. Die fürchteten verständlicherweise, daß die Publizität, die Eisenhowers Ansicht im Rahmen einer von Millionen Bürgern besuchten Ausstellung gewänne, schon ausreichen würde, um eine ganze Reihe kritischer Neueinschätzungen des Einsatzes der Atombombe über Hiroshima zu rechtfertigen. Und dadurch würde gleichzeitig auch das Konzept der nuklearen Abschreckung und die Strategien, die sich hinter dem Kalten Krieg verbargen, in ein anderes Licht gerückt.

Ebenso wußten sie, daß trotz der fünfzig Jahre langen Propagierung der offiziellen Geschichtsversion die Kontroverse über Hiroshima weiterging und daß sich die Geister gerade bei diesem Thema wie nie zuvor schieden.

Mitten in der Polemik, die das Ausstellungsprojekt der Smithsonian Institution ausgelöst hatte, fragte nun das Meinungsforschungsinstitut Gallup die Amerikaner: „Wenn Sie die Entscheidung hätten fällen müssen, die Atombomben abzuwerfen oder nicht, hätten sie dann den Befehl zur Bombardierung gegeben, oder hätten sie einen anderen Weg gesucht, um Japan zur Kapitulation zu bringen?“ Immerhin entschied sich eine knappe Mehrheit (49 Prozent gegen 44 Prozent) für die zweite Lösung.

Säuberung der Geschichte

DIE beiden inkriminierten Erklärungen von Leahy und Eisenhower wurden gestrichen. Doch damit wollte man es noch immer nicht bewenden lassen. Des weiteren wurde jede Seite des Skripts durch einen „patriotischen“ Filter fast Orwellschen Zuschnitts gepreßt. Das Wort „Zivilisten“ etwa, das die Opfer der Atombombenexplosion bezeichnete, ersetzte man durch „Leute“. Im November 1994 glaubte Martin Harwit schließlich über einen Text zu verfügen, den die Veteranen-Organisationen und auch die mißtrauischsten Kongreßabgeordneten akzeptieren würden. Dagegen unterzeichneten allerdings mehr als achtzig Historiker eine Erklärung, in der sie das Vorgehen als „Säuberung der Geschichte“ anprangerten. Eine Historikerdelegation stattete Harwit einen Besuch ab und machte ihm klar, daß der zensierte Text, abgesehen von seiner Unausgewogenheit, eine Reihe historischer Fälschungen enthielt. Dazu gehörte auch die von Präsident Truman erheblich übertriebene Schätzung bezüglich der voraussichtlichen amerikanischen Verluste im Fall einer Invasion des japanischen Archipels. Harwit teilte der American Legion daraufhin mit, daß er sich verpflichtet fühle, diese Zahl nach unten zu korrigieren.

Für die Historiker war diese etwas makabere Dimension der Angelegenheit im ganzen ziemlich nebensächlich. Für die Veteranen-Organisationen stellte sie hingegen eine zentrale Frage dar. Denn sie rechtfertigten die Bombardierung von Hiroshima mit dem Argument, die Atomexplosion habe Hunderttausenden Amerikanern das Leben gerettet. Durch eine kritische Neubewertung wäre diese Argumentation brüchig geworden. Deshalb verlangten die Veteranen die Entlassung Harwits und die Rückziehung des Skripts. Ihre Verbündeten im Kongreß drohten damit, das Budget der Smithsonian Institution zu beschneiden und seine Mitarbeiter öffentlichen Anhörungen zu unterziehen.

Nun hatte diese Institution allerdings bereits einen Hagel an Pressekritik über sich ergehen lassen müssen. Vor allem zwei Reporter der Washington Post, Eugene Meyer und Ken Ringle, hatten sich ganz besonders durch eine Artikelserie hervorgetan, wobei sie die Historiker übrigens kaum hatten zu Wort kommen lassen. Aus ihrer Sicht war die ganze Kontroverse nichts weiter als ein Generationenkonflikt zwischen den ehemaligen Soldaten, die vor Ort gewesen waren, und den Historikern und Ausstellungskommissaren, die unter dem Einfluß der pazifistischen Bewegung der sechziger Jahre die patriotischen Errungenschaften ihrer Väter herabwürdigten und belächelten. Für den Leitartikler der Washington Post versuchten „die etwas beschränkten Vertreter von Sonderinteressen und einer revisionistischen Perspektive nur ihren Vorteil zu nutzen, um ein historisches Ereignis an sich zu reißen und auszuweiden. Zahlreiche Amerikaner, die die damalige Zeit miterlebt haben, fassen dies Geschehen aber ganz anders, nämlich sehr viel authentischer auf“6.

Die Politiker der Linken haben sich nicht gerade ein Bein ausgerissen, um die Kommissare der Smithsonian Institution zu verteidigen und die intellektuelle Redlichkeit des Projekts abzusichern. Präsident Clinton ließ sogar wissen, er unterstütze die Forderungen der Veteranen. Im Januar dieses Jahres fiel das Schicksal der Ausstellung dann in die Hände von Michael Heyman, dem neuen Sekretär der Smithsonian Intitution.

Dieser angesehene Akademiker, Forscher und ehemalige Rektor der Universität Berkeley genoß einen ausgezeichneten Ruf als Verteidiger des Prinzips der Freiheit von Lehre und Forschung. Aber auch er fand sich bald in einer fast unhaltbaren Position wieder. Und der Druck der rechten Lobby, die politisch den Wind in den Segeln hat, nahm ständig zu. Nachdem er mit Heyman ein Gespräch unter vier Augen und zwei Telefonate geführt hatte, verlangte Newton Gingrich, daß das Ausstellungsprojekt aufgegeben werde. Um seine Prinzipien aufrechtzuerhalten, hätte Michael Heyman hart bleiben können, doch die Smithsonian hätte in der Folge schwere finanzielle Verluste hinnehmen müssen. Die Kontroverse „frißt uns auf, sowohl mich als auch die Institution“, erklärte er ..., kurz bevor er mit Würde vor der höheren Gewalt einer Geschichtsschreibung durch patriotical correctness kapitulierte.

Bereits kurz nach seiner Ernennung sagte er gleichzeitig zwei andere Ausstellungsprojekte ab (das eine sollte sich mit dem Vietnamkrieg befassen, das andere mit dem Kalten Krieg) und kündigte den Rücktritt von Martin Harwit an. Auf einer Pressekonferenz erklärte er dazu: „Mir ist klargeworden, daß wir einen grundlegenden Fehler gemacht haben, indem wir eine Ausstellung über die Geschichte des Einsatzes von Nuklearwaffen und das Gedenken ans Ende des zweiten Weltkriegs miteinander verbinden wollten.“7 Zwei Monate später wiederum, als er im März 1995 das endgültige Ausstellungskonzept zu „Enola Gay“ gegenüber einer Unterkommission des Repräsentantenhauses vertreten mußte, versprach er immer noch, damit „nichts weiter zu tun, als den Tatsachen Rechnung zu tragen.8.

Am vergangenen 28. Juni 1995 wurde die Ausstellung schließlich eröffnet. Es gibt dazu lediglich einen kurzen Begleittext, der in untadeliger Orthodoxie den Einsatz der Atombombe rechtfertigt: Dadurch seien Leben gerettet, das Ende des Krieges beschleunigt und eine kostspielige Invasion in Japan vermieden worden. So wird auch in einer großen Demokratie die Geschichte zuweilen „gesäubert“.

dt. Marianne Karbe

1 Ihr Sohn William Kristol leitet übrigens eine der Parteistiftungen (ideologische Think Tanks) der Republikaner. Wer mehr über diese intellektuelle Galaxis mit ihrer strengen endogamen Struktur wissen will, lese die Untersuchung von Serge Halimi „Die Think Tanks der amerikanischen Rechten“, Le Monde diplomatique (dt.), Mai 1995.

2 Zitiert nach Eric Alterman, Sound and Fury: „The Washington Punditocracy and the Collapse of American Politics“, HarperCollins, New York 1992, S. 78. Le Monde diplomatique ist auf dieses Buch in der Juliausgabe 1993 eingegangen.

3 Siehe die Artikel von Pierre Dommergues und Serge Halimi in „Leçons d'histoire“, Manière de voir, Nr. 26, Mai 1995.

4 Dazu: Frédéric Clairmont, „La guerre froide commence à Hiroshima“, Manière de voir, Nr. 26.

5 „Script no. 1“, Enola Gay Exhibit, Air and Space Museum. Der Autor des Artikels ist im Besitz dieses Textes, den die Museumsverantwortlichen nicht mehr herausgeben.

6 The Washington Post, 1. Februar 1995.

7 The Washington Post, 31. Januar 1995.

8 „Enola Gay Exhibit to ,Report the Facts'“, The Washington Times, 11. März 1995.

Autor von „The Chairman: John J. McClay. The Making of the American Establishment“, Simon and Schuster, New York 1992. Kopräsident des Historikerkomitees für eine freie Debatte zu Hiroshima.

Le Monde diplomatique vom 11.08.1995, von Kai Bird