11.08.1995

Ein Lebensgefühl erobert die Welt

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Ein Lebensgefühl erobert die Welt

IM Mai 1995 hat der internationale Musiksender MTV (Music Television) zwei neue Dienste für Asien eingeweiht. Nunmehr bestrahlt der Sender so gut wie alle bewohnten Zonen des Planeten und ist unbestreitbar zur Nummer eins des Weltfernsehens geworden: Er erreicht fast dreihundert Millionen Haushalte auf den fünf Kontinenten. Dieser beispiellose Erfolg ist einerseits natürlich Resultat einer ungeheuer effizienten Verkaufsstrategie, aber in erster Linie erklärt er sich durch die Art der Programme: MTV hat einen direkten Draht zur Jugend der Welt, er bietet ihr eine ununterbrochene Welle von Sorglosigkeit, Ausgelassenheit, Modernität, Sinnlichkeit an und vor allem von Musik, dieser Universalsprache schlechthin. Nicht egal welche Musik: Rock'n'Roll, der die ganze Welt erobert und sich überall durchgesetzt hat, als Symbol der jugendlichen Lebenskraft, aber auch als Symbol Amerikas.

Von unserem Sonderkorrespondenten YVES EUDES *

In den Vereinigten Staaten sagt man oft, Rock'n'Roll sei keine Musik, sondern eine Lebensart. MTV, der Rocksender im Land des Rock, ist kein Fernsehsender, er ist eine Einstellung, eine Stimmung, ein Lebensstil. Vierzehn Jahre nach seiner Gründung ist MTV bereits ein Pfeiler der populären Kultur. In ganz Amerika gehören seine Bilder und seine Musik zur täglichen Ausstattung Dutzender Millionen von Haushalten und zahlloser Bars, Restaurants, Läden und öffentlicher Orte, über die sie sich ohne Unterbrechung ergießen.

Tatsächlich hat der Musiksender eine neue Fernsehform erfunden. Er ist vor allem wegen seiner Rock-Videos berühmt, doch all seine Programme sind nach dem gleichen Muster gestrickt: eine Flut von Farben, Bewegungen und Tönen, die in einem teuflischen und genauestens kalkulierten Rhythmus eingesetzt werden. MTV ist mittlerweile längst zum neuen Symbol eines uralten amerikanischen Konflikts geworden. Für die Puritaner ist MTV ein dämonisches Unterfangen, das die Jugend dazu animiert, sich der Unzucht hinzugeben, und alle möglichen und unmöglichen Sünden verherrlicht. Für die Konservativen aus dem Hinterland handelt es sich um ein scheinheiliges Medium, das unter der Hand die liberalen Werte der Ostküstenliberalen verbreitet. Für die linken Intellektuellen ist MTV der Gipfel an Oberflächlichkeit und Gehirnwäsche, eine strikt kommerzielle Operation, die sich mit einem libertären Mäntelchen umhüllt. Doch für seine jugendlichen Anhänger ist MTV der einzige Fernsehsender, in dem sie sich erkennen, unkalkulierbar, rebellisch, unverschämt.

Dennoch ist MTV ein reines Produkt des traditionellen Medien- und Finanzestablishments. Er wurde 1981 von der Gruppe Warner/ American Express ins Leben gerufen, um mit anderen themenbezogenen Sendern ihre Kabelnetze zu bevölkern. In weniger als zwei Jahren wurde der Musiksender ein gewinnbringendes Unternehmen. 1985 hatte Warner vorübergehend Schwierigkeiten und verkaufte ihn für 515 Millionen Dollar an den Konkurrenten Viacom – das sind kaum acht Prozent seines jetzigen Wertes. Seither ist das Schicksal von MTV an die Viacom gebunden, die 1987 unter die Kontrolle der NAI (National Amusements Inc.) kam, einer Holdinggesellschaft des Multimilliardärs Sumner Redstone. Viacom hat seitdem auf schwindelerregende Weise expandiert.

Heute belegt MTV drei Stockwerke des monumentalen Hochhauses der Viacom im Zentrum von New York. Der Sender ist das Herzstück der Gruppe und entfaltet sich unter den aufmerksamen Augen der Besitzer. Doch diese sehr relative Autonomie scheint MTV nicht zu stören, denn Teil von Viacom zu sein hat durchaus auch Vorteile. Dieses riesige Medienreich hat die Kontrolle der Paramount, der letzten noch unabhängigen Major Company Hollywoods, übernommen, dann die von Blockbuster, dem größten nationalen Netz von Videokassetten- und Musikläden. Viacom ist somit auf den zweiten Platz der Weltrangliste der Kommunikationskonsortien vorgerückt. Dieses neue Kartell kann seine Macht in allen Bereichen ausüben: Fernsehen, Radio, Film, Verlagswesen, Vertrieb, neue Medien ...

MTV gehört zur Abteilung MTV Networks, zusammen mit dem Kindersender Nickelodeon und dem Musiksender VH 1 (für die über Dreißigjährigen), und könnte als kleine gewöhnliche Provinz im Königreich des Sumner Redstone gelten. Doch dem ist nicht so. MTV ist das Juwel und die Speerspitze der Viacom, eine der wenigen Töchter der Gruppe, deren Namen und Emblem in der Öffentlichkeit bekannt sind. Der Sender ist darüber hinaus ein außergewöhnlich kreativer Pol, der in der Lage ist, Multimediaprodukte in jeder Form herzustellen und die kommerziellen Synergien zwischen den verschiedenen Bereichen zu konkretisieren.

MTV ist um so gewinnbringender, als sein Betrieb wenig kostet. Sein Hauptprodukt, die berühmten Rock-Videos, kosten nichts: Sie werden umsonst von den Musikverlagen angeboten, die den Musiksender als Schaufenster für die bei ihnen unter Vertrag stehenden Künstler ansehen. Tatsächlich ist MTV zu einem unvergleichlichen Werbeinstrument geworden, das einen Künstler innerhalb einer Woche berühmt machen, die Verkaufszahlen verhundertfachen, eine Mode im ganzen Land schaffen kann. Die Verleger zögern deshalb nicht, in Videoclips zu investieren, die manchmal kleine, sehr kostspielige Kunstwerke sind, die von spezialisierten Firmen hergestellt werden und eine große Infrastruktur, Spezialeffekte und viele verschiedene Drehorte voraussetzen. Ihre Kosten stehen im Verhältnis zum Bekanntheitsgrad des Künstlers: der neueste Clip von Madonna dauert etwa drei Minuten und hat 1,2 Millionen Dollar gekostet, aber die Band „Ugly Kid Joe“ hatte einen beachtlichen Erfolg mit einem Videoclip für 8 000 Dollar.

In New York funktioniert MTV mit kaum zweihundert festen Angestellten. Ein Stamm junger Filmemacher, Graphiker und Techniker schafft das Kunststück, mit wenig Mitteln ein scheinbar teures und komplexes Fernsehprogramm zu machen. Alle Studiosequenzen werden in einem einzigen Raum gedreht – in der Ecke stehen die Dekorationen für die verschiedenen Sendungen. Die VJs (Videojockeys) sitzen oder stehen vor einer oder zwei Kameras, und vier Personen führen Regie. Alles geht in Ruhe vonstatten, denn auf MTV gibt es nie Live-Sendungen, die kleinste Ansage wird Tage vorher gedreht. Die den Sender charakterisierende Spontaneität, die Ausgelassenheit, die Rock'n'Roll-Attitüde, wird sorgfältig geplant und austariert.

Nicht alle beklagen sich darüber. Die Künstler und die kleinen Labels können sich ein Leben ohne MTV und ohne sein einzigartiges Talent, ihre Videos elegant und wirksam in Szene zu setzen, nicht mehr vorstellen. Das Geniale an diesem Sender ist sein packaging: die Vorspanne, Logos, Markenzeichen, Dekors, mit all diesen Mitteln produziert der Sender eine Stimmung, die die Sänger aufpeppen, sie talentierter, faszinierender, begehrenswerter erscheinen läßt. Die Ansager des Senders sind immer jung, hübsch und feurig und heutzutage genauso berühmt wie die von ihnen vorgestellten Künstler.

Aber MTV strahlt nicht nur Videos und Konzerte aus. Nach und nach verändert der Sender seine Strategie und erweitert seine Palette. Er strahlt zunehmend nichtmusikalischen Sendungen aus und verfolgt das Ziel, ein breites Angebot an Jugendprogrammen ins All zu schicken. Um seine Zuschauerraten in einem übersättigten Markt weiter zu steigern, muß er längere, vielfältigere Sendungen ausstrahlen und regelmäßige Einschaltpunkte anbieten. Doch dabei hat niemand im Sinn, etwa, den Stil oder die Stimmung zu ändern, die Programme müssen sich der MTV-Welt anpassen: rhythmusbestimmter Schnitt, Wuchern mit Tönen und Farben, schwindelerregende Kameraschwenks. Das trifft auch auf den Inhalt zu: Ob es sich um irgendwelche Quizzspiele handelt, um Serien, Mode, Debatten, Kabarett, Fernsehspiele oder „Rockumentarfilme“ – der Sender hat alle Sparten erneuert und ihnen seinen Stempel aufgedrückt. MTV Sport zeigt keinesfalls, wie sonst üblich, Spiele oder zumindest Ergebnistabellen: Nein: Das einzige, was man sieht, sind moderne Gladiatoren, die sich mit dem Fallschirm von Hochhäusern stürzen, nackt im Mondlicht surfen, mit dem Fahrrad über Abgründe springen oder an einem Flugzeug hängend Wasserski fahren.

Der Sender bringt selbstverständlich auch Kurznachrichten. Anfangs waren die Nachrichten fast ausschließlich auf die Musikwelt bezogen und die Redaktion berichtete nur über das Musikgeschäft und Hollywood. Doch heute wagt sie sich in die unterschiedlichsten Gebiete vor. MTV hat für ihre Nachrichtenschau den Begriff der new news erfunden, gegenüber den old news, die man sonst überall findet: zwischen zwei Informationen über die Tournee der Guns'n'Roses und das Privatleben Courtney Loves streuen die VJ-Journalisten in den neuesten Dekors ein paar Sekunden über das Schicksal der haitianischen Kinder oder die neuen Gesetze gegen sexuelle Belästigung ein.

Auf seine Weise möchte MTV auch ein „Bürgerkanal“ sein. Er räumt regelmäßig Sendezeit ein für Vereinigungen, die sich für die gute Sache einsetzen – den Kampf gegen Armut, Analphabetentum, Krebs, Aids oder Umweltverschmutzung – und organisiert Konzerte für Südafrika oder amnesty international. Doch vor allem ergreift der Sender neue Initiativen und produziert Reportagen oder Debatten zu heiklen Themen: Sexualität unter Jugendlichen, Feuerwaffen, religiösem Fundamentalismus, gefährdete Arbeitsplätze, Abtreibung, Rassismus, Gewalt in den Schulen und sogar die zwiespältigen Beziehungen zwischen Drogen und Rock'n'Roll.

Der Sender hat ein neues Motto: „MTV ergreift das Wort!“, und auch einen Auftrag: „Eine ganze Generation begeistern, um die Umwelt zu schützen und um die Mißstände der Welt: Krankheit, Drogen- und Alkoholmißbrauch, Analphabetentum und gesellschaftliche Apathie zu bekämpfen.“

Hedonismus, Rebellion und eine Prise „Soziales“

DIE entscheidende Wende fand 1991 statt, als MTV seine Feuerprobe bestand. Angesichts des Golfkriegs ist die Reaktion des Senders zuerst zwiespältig. Doch die harte Realität setzt sich durch: Es sind die eigenen Zuschauer, die in den Krieg ziehen. Deshalb beweist der Sender, als die Kampfhandlungen beginnen, untadeligen Patriotismus: Ausstrahlung der Rede Präsident Bushs vor der Operation „Wüstensturm“, Spezialprogramme für die Soldaten an der Front und ihre Familien, mit Songs und Grüßen und guten Werken. Doch der Sender bemüht sich, dieses kriegerische Intermezzo zu vergessen und wendet sich der Präsidentschaftswahl 1992 zu. Er beschließt, sich wirklich in die Politik zu stürzen, ohne jedoch auf den unnachahmlichen Stil zu verzichten, der ihn an die Spitze gebracht hat. Sein erstes Ziel: die Jugendlichen dazu bewegen, sich in die Wählerlisten einzutragen. Die anderen Sender hatten sich bereits daran versucht, doch MTV hat seine eigenen Methoden. So taucht Madonna auf und murmelt mit rauher, sinnlicher Stimme: „Wählen ist cool!“

Diese Inszenierungen sind nicht so sinnleer, wie man denken könnte. Das Engagement von MTV ist eine Antwort auf die Kampagnen der religiösen Gruppierungen und der konservativen Politiker, die regelmäßig zu Kreuzzügen aufbrechen gegen bestimmte als unmoralisch, obszön oder sogar „antiamerikanisch“ angesehene Lieder. Diese neuen Hexenjagden bewirken natürlich die Mobilisierung der Rocker des ganzen Landes, die dabei mit der Unterstützung von MTV rechnen können, der indirekt als Plattform dieser gotteslästerlichen Werke angegriffen wird.

Doch MTV will keinesfalls ein CNN für Jugendliche werden: Musik und Freizeit verlieren ihre Rechte nicht. Heute praktiziert der Sender eine feine Vermischung der Arten, eine Synthese zwischen dem aufmüpfigen Geist des Rock'n'Roll, hedonistischem Konsumverhalten und angepaßtem liberalen Denken. Der „sozialen“ Botschaft der zum Nachdenken anregenden Sendungen wird sanft gegengesteuert durch die anderen Programme, die physische Kraft, Sinnlichkeit und sorglose Vergnügungsjagd als höchste Werte zelebrieren. Zwischen zwei Anzeigen über die schlimmen Folgen von Alkoholgenuß singt die schöne, als bunte Rebellin gekleidete Sheryl Crow mit ihrer lässigen, brutalen Stimme: „Ich liebe es, mich morgens früh mit Bier vollzuschütten.“ In bestimmten Videos, insbesondere denen der schwarzen Rapper, ist Gewalt allgegenwärtig, wird niemals gezeigt und immer unterstellt. Ihre Namen, ihre Gesten, ihre Gesichtsausdrücke, die Geschichten, die sie erzählen, alles unterhält eine zweideutige Faszination für das Chaos des städtischen Dschungels, einfach erworbenes Geld, dicke Wagen, leichte Mädchen und Feuerwaffen.

Die Verantwortlichen von MTV halten diese Widersprüche in aller Gelassenheit aus. Alles ist eine Frage der Dosierung, die Kunst besteht darin, an die von der Gesellschaft gesetzten Grenzen zu stoßen, ohne sie jemals zu überschreiten. Der Sender ist also ständig mit dem Problem der Zensur konfrontiert: Er muß einen Schnitt in einer allzu eindeutigen Videoszene verlangen, einen anderen allzu brutalen Schnitt ablehnen. Er hat auch eine immer länger werdende Liste von Wörtern aufgestellt, deren Ausstrahlung verboten ist. Er hat es sogar gewagt, ein besonders „heißes“ Video von Madonna abzulehnen.

Im übrigen verfolgt MTV seine allseitige Expansion. Heute verlegt der Sender Platten, Bücher und Videospiele und läßt sich breit im Multimediamarkt nieder. In Verbindung mit anderen Viacom-Filialen produziert er auch Fernsehprogramme für andere Sender sowie Spielfilme. Schließlich arbeitet er an einem Riesenprojekt: der Gründung neuer Musiksender, die dem Original nachgebildet sind, sich aber an konkretere Zielgruppen wenden. Einerseits sind das die nationalen Sender MTV 2 und dann MTV 3, die jeweils auf eine eng begrenzte Musikart zugeschnitten sind. Andererseits Lokalsender, die sich auf die Musikszene einer Region oder einer Metropole beziehen. MTV fehlt es weder an Mitteln noch an Ideen, doch beim augenblicklichen Stand der Dinge gibt es ein maßgebliches Hindernis: Die meisten Kabelnetze sind voll. Um dieses Problem zu umgehen, arbeitet MTV mit dem neuen direkten Satellitensendedienst USSB zusammen, der über mehrere hundert Kanäle verfügt.

MTV weiß, daß sein Wachstum auf dem amerikanischen Markt trotz seiner Anstrengungen von nun an begrenzt sein wird. Andererseits steht ihm dank Satellit der Rest der Welt offen. Da sind die Perspektiven unendlich.1 Mit einem weltweiten Netz von zwölf Satelliten und einer Reihe von Übertragungsabkommen mit Dutzenden lokaler Sender erreicht MTV bereits fast alle bewohnten Regionen. Er ist in fast dreihundert Millionen Haushalten anwesend – mehr als ein Viertel der Familien mit Fernseher weltweit. Dazu kommt der Verkauf seiner Produkte an andere Sender, die einen ersten Kontakt des fremden Publikums mit dem „MTV-Stil“ herstellen.

Ohne Bündnispartner hat sich der Sender jedoch nicht in diese Schlacht gestürzt: Die großen amerikanischen Unternehmen, die in erster Linie den Markt der unter Dreißigjährigen anpeilen, sehen MTV als Werbeplattform der Zukunft. Ihren Experten zufolge bilden die Hunderte Millionen Jugendlichen in den Industrieländern und aus den wohlhabenden Schichten der Dritte-Welt-Länder einen homogenen Markt. Sie folgen den gleichen Moden, haben den gleichen Lebensstil und die gleichen Wünsche: man kann sie also mit den gleichen Botschaften verführen. Mehr und mehr wenden sich Levi's, Coca-Cola, Reebok, Nike, McDonald's, Apple, IBM oder Kodak mit in den USA ausgearbeiteten Kampagnen an die jungen ausländischen Käufer. MTV soll auch eine wachsende Rolle in der internationalen Werbung für Hollywoodfilme spielen. Der Sender strahlt massiv Musikvideos aus, die in Wirklichkeit verbesserte Trailer für neuere Filme sind, und seine Kinomagazine beschäftigen sich ausschließlich mit englischsprachigen Filmen.

Amerikanische Geschäftsleute, die viel reisen, wissen, daß MTV über einen unvergleichlichen Trumpf verfügt: der Rock'n'Roll hat den Planeten bereits erobert. Überall wo sie zum Auskundschaften hinfahren, ist der Rock bereits zur Stelle. Tatsächlich wird MTV oft bereits von seinem potentiellen Publikum erwartet, herbeigewünscht, lange Zeit bevor er es erreicht. Die ostdeutschen Grenzbeamten kurz vor dem Mauerfall, die russischen Besatzungssoldaten in Litauen, die Jeunesse dorée in Bagdad, die libanesischen Milizsoldaten, die chinesischen Studenten, die Jugendlichen in Sarajevo oder die Guerilleros im Dschungel Birmas – alle haben sie versucht, den Sender mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu empfangen. Sie wollen über Musik und Tanz mit der amerikanischen Jugend in Verbindung treten, die – wie sie blauäugig glauben – alles besitzt, von dem sie träumen: materiellen Reichtum, Freiheit, weite Räume, ein Leben voll Sorglosigkeit und Vergnügen. In Indien sind die drei magischen Buchstaben zum Adjektiv geworden: Man bezeichnet damit alles, was modern ist, entspannt und wenig ehrerbietig gegenüber der Tradition.

Getreu den Prinzipien der Gründerväter der Vereinigten Staaten sieht MTV seine kommerzielle Strategie und seine kulturelle Berufung als zwei Seiten ein- und desselben Auftrags. Die Verantwortlichen scheinen davon überzeugt, daß ihr Sender, der die Jugendlichen aller Länder über politische, religiöse und ethnische Grenzen hinaus erreicht, eine Rolle zu spielen hat bei der Annäherung der Völker und beim Entstehen einer toleranteren, harmonischeren und friedlicheren Welt. Dank der vereinheitlichenden Kraft der Satelliten verwurzelt die amerikanische Popkultur die liberalen westlichen Werte besser als jeder andere Diskurs der Weltgesellschaften.

Lokale Bands, amerikanische Musik

DAS lebende Symbol dieses Kreuzzugs der Rockkultur ist William Roedy, der Leiter der internationalen Abteilung von MTV Networks. Dieser ehemalige Vietnamkämpfer wurde in der Militärakademie Westpoint ausgebildet und hat in den siebziger Jahren drei Nato- Stützpunkte für Raketen mit Nuklearsprengköpfen in Europa befehligt, bevor er sein Interesse am Fernsehen entdeckte. Sein Ziel im Leben ist: „Die kulturellen, sozialen und politischen Schranken zwischen den Menschen niederreißen ... und dafür sorgen, daß MTV in jedem Haushalt der Erde präsent ist.“ Seine Devise: „Keine Regel beachten, ausweichen, sich heranschlängeln und niemals akzeptieren, daß man dir irgend etwas verweigert.“ Seine rührendste Erinnerung: in Bratislava einen ehemaligen Antiatombunker entdeckt zu haben, der heute eine Diskothek ist, in der ununterbrochen MTV ausgestrahlt wird ... MTV hat auch beschlossen, einige seiner „Sensibilisierungskampagnen“ auf die ganze Welt auszudehnen. Meistens wählt der Sender eine allgemeine Botschaft und ein globales Herangehen, zum Beispiel in Sachen Umweltschutz. Doch wenn es um Themen wie Aids-Vorsorge oder die Beteiligung der Jugendlichen am demokratischen Leben geht, zieht er es vor, die Botschaften den örtlichen kulturellen Besonderheiten anzupassen.

Denn MTV hat die Grenzen der Internationalisierung durchaus begriffen. Sein Aktionsprinzip entspricht dem klassischen Satz: „Global denken, lokal handeln.“ Es kommt zum Beispiel nicht in Frage, der ganzen Welt die amerikanischen VJs aufzudrängen, deren Wortschatz, Anspielungen und Humor jedem unverständlich bleiben, der nicht in den Vereinigten Staaten aufgewachsen ist. So hat MTV in weniger als zehn Jahren fünf große, relativ autonome Filialen aufgebaut, die unter sich die Welt aufteilen. Jede ist ein Sender für sich, der ein Großteil der amerikanischen Programme übernimmt, doch seine eigenen Ansager hat, Originalsendungen produziert und Videos „lokaler“ Rockgruppen ausstrahlt. MTV achtet darauf, nicht als Dampfwalze angesehen zu werden, die die Musikszene in den Ländern, in denen er sich niederläßt, erdrückt. Tatsächlich beteiligt sich der Sender an der Werbung für lokale Gruppen, immer vorausgesetzt, sie spielen amerikanische oder amerikanisch angehauchte Musik. Unter dem Einfluß von MTV bildet sich eine neue Generation von Musikern heraus, die die New York Times „perfekte Nachbildungen“ ihrer amerikanischen Kollegen nennt.2

MTV weiß sich auch dem Stand des Marktes und den Gesetzgebungen der verschiedenen Länder anzupassen. Japan, seine erste Zielscheibe, hat sich als schwierigstes Territorium herausgestellt, doch dem Sender gelang schließlich der Durchbruch: Nach zwei wenig ergebnisreichen Partnerschaften hat er 1992 einen Satellitenkanal gegründet, der vierundzwanzig Stunden am Tag sendet, dank eines Franchise-Abkommens mit dem mächtigen Music-Channel-Co.-Konsortium, das Pioneer, TDK und Tokyo Agency zusammenschließt. MTV Japan strahlt ein vermischtes Programm aus, in englisch oder japanisch, je nach Tageszeit, und räumt den lokalen Rockgruppen einen ziemlich breiten Platz ein.

In Brasilien, wo MTV seit 1990 sendet, hat sich der Sender ebenfalls mit einem lokalen Partner zusammengetan, der Pressegruppe Abril. So kann MTV für maximale Werbung die Zeitungen und Magazine der Gruppe nutzen und gleichzeitig jenseits der Kabelnetze und Parabolantennennetze über terrestrische Frequenzen zehn Millionen Haushalte erreichen. Auf MTV Brasil sprechen die VJs Portugiesisch, doch die Musik ist vor allem amerikanisch. In einem Land, wo die eigene Musik außerordentlich stark und lebendig ist, hat der amerikanische Sender sich dennoch durchsetzen und ein Modephänomen unter den Jugendlichen der wohlhabenden Schichten erzeugen können.

„Damas y caballeros, rock and roll!“ Für das spanischsprachige Lateinamerika hat MTV 1993 den Sender MTV Latino ins Leben gerufen, der zu hundert Prozent vom Mutterkonzern kontrolliert wird. Mit seinen zwei Satelliten erreicht er alle Länder des Kontinents, und nach nur einem Jahr ist er mit mehr als fünf Millionen Abonnenten zum größten Satellitensender Lateinamerikas geworden. Der Sender hat seinen Sitz in Miami, in einer Stadt also, die zur Kulturhauptstadt eines neuen kontinentalen Melting Pot werden möchte. MTV Latino kann auch in den Vereinigten Staaten empfangen werden, auf Kabelkanälen für die hispanischen Gemeinschaften. Den Geist und die Strategie des Senders verkörpert perfekt die Staransagerin Daisy Fuentes, geboren in Havanna, aufgewachsen in New Jersey und heute berühmt von Buenos Aires bis Brooklyn.

Der Sender strahlt viele spanisch synchronisierte Programme von MTV USA aus. Ansonsten wechseln sich nordamerikanischer Rock und New Latin Music ab, letztere wird gespielt von Gruppen mit hybriden Namen wie Los Fabulosos Cadillacs. Angesichts seines unmittelbaren Erfolgs wird MTV Latino schon 1996 seine Investitionskosten eingespielt haben.

Die jüngste der ausländischen Filialen ist der Sender MTV Asia, der seit dem 5. Mai 1995 den Großteil des asiatischen Kontinents abdeckt. Eigentlich handelt es sich um einen Neubeginn: Von 1991 bis 1994 hat es in Asien bereits MTV gegeben, in Partnerschaft mit der Murdoch- Gruppe und einem Hongkonger Unternehmen. Doch diesmal agiert MTV allein und denkt groß: Es gibt zwei verschiedene Sender, einen in Englisch mit einigen Programmen in Hindi und einen anderen in Chinesisch, der verschlüsselt ausgestrahlt wird.

MTV Asia erreicht achtzehn Länder und bald, wenn der Satellit Panamsat 4 in Betrieb sein wird, dreißig. Der Sitz des Senders ist in Singapur. Es wurde angekündigt, daß die Programmplanung von Asiaten gestaltet werden wird, um dem musikalischen Geschmack des Publikums besser zu entsprechen3 und die lokalen Empfindsamkeiten zu beachten, insbesondere in bezug auf Sexualität und Nacktaufnahmen. Doch erst einmal hat die ganze Vorbereitung in New York stattgefunden, einschließlich der Konzeption der Logos, der Regie der Sendungen und der Aufnahmen von „News“ und Ansagen.

In Indien hat MTV zwecks größeren Einflusses ein Abkommen mit dem Sender Doordashan 2 geschlossen, durch das er insgesamt dreizehn Millionen Haushalte erreichen kann – das ist ein Drittel der Familien mit Fernsehapparat. Südkorea wiederum zieht es vor, über den Sender M-Net eine Auswahl der amerikanischen Programme mit koreanischen Untertiteln zu empfangen. MTV verhandelt sogar mit den Behörden in Peking, um ihnen ein spezifisches Programm vorzuschlagen. Mittelfristig plant MTV, fünf Sender in Asien einzusetzen.

MTV läßt sich auch in Afrika nieder. Es gibt ihn bereits in Kenia und Nigeria, wo einige seiner Programme übertragen werden, und vor allem in Südafrika, dank einer Partnerschaft mit der South African Broadcasting Corporation. Das Ziel ist in erster Linie, die junge schwarze Bevölkerung der Townships zu erreichen, für die Musik die wesentliche Form des kulturellen Ausdrucks ist. MTV hofft, ab 1996 einen neuen Sender ins Leben zu rufen, MTV South Africa, und seine Verbreitung über den gesamten Kontinent auszudehnen.

Bis heute ist die mächtigste Filiale jedoch MTV Europe, seit 1987 mit Sitz in London bestehend. Diese Filiale wurde gemeinsam mit der Maxwell-Gruppe ins Leben gerufen, untersteht aber seit 1991 der ausschließlichen Kontrolle von MTV Networks, die sie ab dem Folgejahr zu einem gewinnbringenden Unternehmen machte. 1995 empfangen einundsechzig Millionen Haushalte in siebenunddreißig „Territorien“ den Sender, er verfügt über ein Potential von zweihundert Millionen Zuschauern – mehr als jeder andere Sender in Europa. Er deckt den gesamten Kontinent ab, einschließlich der Türkei, Zentralrußlands und des Nahen Ostens. Seit dem 3. Juli 1995 werden die Programme von MTV Europe und VH 1 über die Satelliten Astra und Eutelsat verschlüsselt gesendet. Mehr noch, seit Ende Juli werden diese Programme über die Knotenpunkte der europäischen Kabelnetze digital übertragen. Anfangs konnten die Kabelnetze die Programme gratis empfangen, doch angesichts ihres Erfolgs bei den Abonnenten verlangt MTV nunmehr eine Gebühr.

Eines nach dem anderen haben sich alle Länder, bislang mit Ausnahme der Beneluxländer und Irland bereit erklärt, diese Gebühren zu zahlen. In Italien, Griechenland, der Türkei, Israel, Libanon und Osteuropa hat MTV Abkommen mit „lokalen“ Sendern geschlossen, die Programmblöcke von sechs bis zwölf Stunden am Tag übertragen. In Rußland arbeitet MTV zusammen mit der Gesellschaft Biz Enterprises, die eine Auswahl seiner Programme auf Kanal 6 anbietet.

Eine „Euro-Identität“ in englischer Sprache?

IN seinen Londoner Büros beschäftigt MTV Europe unter Leitung eines Amerikaners dreihundert Personen aus neunzehn Nationen. Der Versuch der Anpassung an den europäischen Markt ist nicht zu leugnen, hat aber zweideutige Ergebnisse. MTV Europe spricht Englisch und übernimmt alle wichtigen Sendungen von MTV USA mit leichter Verzögerung. Doch zu gewissen Stunden beherrscht eine leicht verwirrende Stimmung den Sender. Die englischen Ansager sind selbstverständlich sehr englisch. Die anderen, Deutsche, Niederländer oder Spanier, bieten bemühte und manchmal ungeschickte Nachahmungen der amerikanischen VJs. Die zahlreichen Videos der britischen Bands verbreiten eine erstickende, dekadente, manchmal vergiftete Stimmung, die einen Kontrast zu der jugendlichen Kraft und zügellosen Sorglosigkeit der amerikanischen Videos bildet.

Insgesamt wirkt MTV Europe wie eine abgeschwächte Fassung von MTV USA: stiller, braver, weniger provokativ. Seine „News“ ähneln oft normalen Kurznachrichten, und seine Kampagnen gegen Rassismus, für die Aids-Vorbeugung oder den Tierschutz verfallen oft dem „politisch korrekten“ Denken auf großbritannische Art. Die europäischen Unternehmen sind natürlich an diesem neuen, den Kontinent umspannenden Medium interessiert, aber sie haben sich die „globalen“ Strategien der Amerikaner noch nicht zu eigen gemacht. Die Programme von MTV Europe sind folglich durchsetzt mit deutschen, holländischen oder schwedischen Werbespots, deren visuelle Qualität weit hinter dem restlichen Programm zurückbleibt.

Trotz allem ist dieses Potpourri zunehmend von einem sich „paneuropäisch“ gebenden Geist beseelt. MTV Europe ist der einzige Sender, der sich systematisch an die Jugend aller Länder des Kontinents wendet. Die VJs reden direkt mit ihren Fans aus Madrid und Helsinki, die plötzlich sehr nahe zu sein scheinen. Die Programmzeiten erscheinen mit Angabe der Zeitzonen auf dem Bildschirm, was flüchtig den Eindruck vermittelt, der Alte Kontinent sei ein einziges großes Land wie die Vereinigten Staaten.

Vor den Europawahlen 1994 hat MTV Europe eine Kampagne für die Wahlbeteiligung der Jugendlichen durchgeführt – „Wählt Europa“, eine ernsthaftere Nachahmung von „Choose or Lose“ – unter Beteiligung zahlreicher Kandidaten und politischer Verantwortlicher wie Jacques Delors. Der Sender hat dann auch anderen Verantwortlichen als Plattform gedient, die mit der europäischen Jugend debattieren wollten, von Michail Gorbatschow bis zu Tansu Çiller. So legt MTV vielleicht gerade den Grundstein zu einer zukünftigen künstlichen „Euro-Identität“, die in englischer Sprache unter Leitung der Angelsachsen aufgebaut und die amerikanische Popkultur als Zement und gemeinsamen Nenner nutzen würde.

Dabei verläßt sich der Sender auf einen anderen berühmten Satz aus Übersee: „Rock and roll is here to stay“, der Rock währt ewig.

dt. Christiane Kayser

1 Siehe dazu „It's an MTV world“, Newsweek, 24. April 1995.

2 „How MTV plays around the world“, New York Times, 7. Juli 1991.

3 „New MTV Asia tunes itself to audience taste“, The Straits Times, Singapur, 30. Juni 1995.

* Journalist, Autor von „La Conquête des esprits“, Paris, La Découverte 1982.

Le Monde diplomatique vom 11.08.1995, von Yves Eudes