11.08.1995

Die Bombe

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Die Bombe

Von IGNACIO RAMONET

ALLE Welt ist bestürzt, daß der französische Staatspräsident Jacques Chirac ausgerechnet zum fünfzigsten Jahrestag von Hiroshima und Nagasaki (wo innerhalb weniger Sekunden 300 000 Zivilisten vernichtet wurden) die Genehmigung zur Wiederaufnahme der Atomtests in Polynesien erteilt und die gesamte Weltöffentlichkeit vor den Kopf stößt.

Es gibt keinen Grund, daß Chirac ausgerechnet jetzt das Moratorium über die Aussetzung der Atomversuche bricht, das schließlich 1992 auf Initiative Frankreichs zustande kam und seither von den USA, England und Rußland eingehalten wurde. Lediglich China, das in Sachen Demokratie, Wahrung der Menschenrechte und Umweltschutz wahrlich kein Musterknabe ist, führt die Atomversuche unter Mißachtung der weltweiten Proteste fort.

Nachdem Chirac im Wahlkampf das „Einheitsdenken“ und die zunehmende „Technokratie“ angeprangert hatte, argumentiert er plötzlich, daß er seine Entscheidung nach ausführlichen Beratungen „mit den zivilen und militärischen Experten“ getroffen habe.

Wer sind nun diese Experten? Zunächst einmal die „Direktion für Militärwaffen“ (DAM) vom Kommissariat für Atomenergie (CEA) – ein wahrer Staat im Staate, der, jeglicher demokratischer Kontrolle enthoben, die Atomsprengköpfe entwickelt und herstellt und deshalb schon immer für Atomversuche plädiert hat. Jacques Bouchard, der Verantwortliche der Direktion, hat in seinem atomaren Wahn kürzlich verlauten lassen, „auch im Mutterland“1 seien heutzutage Atomversuche denkbar.

Weitere „Experten“ sind all jene militärischen Befehlshaber, denen das Moratorium die Hände gebunden hatte und die nun die verlorene Zeit aufholen wollen. Wie man schon 1994 an der Ruanda-Affäre sowie kürzlich an der (dementierten) Bombardierung der bosnisch-serbischen Hauptstadt Pale sehen kann, verfügt die Armee in Frankreich nach wie vor über einen enormen politischen Einfluß. Dies erweist sich einmal mehr an der Wiederaufnahme der Atomversuche. Kein Wunder in einem Land, das als eine der wenigen Demokratien in Europa seinen Nationalfeiertag, den 14. Juli, historisch umgedeutet hat, so daß er heute nichts weiter ist als der Feiertag der Armee, der vornehmlich durch einen Militäraufmarsch begangen wird.

Im Grunde hat Chirac erklärt, diese Tests seien unverzichtbar sowohl zur Aufrechterhaltung „der Sicherheit und Zuverlässigkeit“ der französischen Abschreckungskraft als auch zur „Vorbereitung der Laborsimulationen“. Als ob eine Angelegenheit mit solcher Bedeutung, bei der es um das Zentrum der französischen Verteidigungsfähigkeit geht und die das höchste Vorrecht des Staatschefs darstellt, ein rein technisches Problem wäre und nicht etwa die Politik auf höchster Ebene tangierte.

Dabei weist alles darauf hin, daß die militärische Abschreckung mit den bereits existierenden Waffen bis ins Jahr 2010 gesichert ist. Zumal dank der Erfahrung mit dem „Phöbus-Laser“ des CEA-Studienzentrums in Limeil-Brévannes sowie mit dem Superlaser des Palen-Programms in der Nähe von Bordeaux die Laborsimulationen auch ohne zusätzliche Tests bereits ab dem Jahr 2003 durchgeführt werden können. Deshalb muß man sich fragen, ob es bei diesen Atomtests nicht in Wirklichkeit darum geht, neue Miniaturwaffen, sogenannte Schauwaffen, zu entwickeln, die auf dem Schlachtfeld selbst, auf kurze Entfernung, eingesetzt werden können. Und über deren Einsatz Offiziere direkt vor Ort entscheiden, nicht mehr der Staatspräsident.

Dies käme einer radikalen Änderung der de Gaulleschen Strategie gleich, die bislang gegolten hatte: Die Atomwaffen würden so nicht länger der Abschreckung des Starken durch den Schwachen dienen, sondern sie wären eine ständig vorhandene Option, um hier und da auf Nebenschauplätzen eingesetzt zu werden. Eine Bedrohung hauptsächlich gegen den Süden.

CHIRACS Entscheidung ist um so weniger verständlich, als das Ende des Kalten Kriegs und des „Gleichgewichts des Schreckens“ eigentlich der nuklearen Abrüstung hätte Vorschub leisten sollen. Hatte doch ausgerechnet Frankreich bereits im Juni 1991 einen Plan zur allgemeinen atomaren Abrüstung vorgelegt und sich bei den Genfer Verhandlungen dafür ausgesprochen, daß noch vor Ende 1996 ein Abkommen über das vollständige Verbot der Atomtests unterzeichnet werde. Noch am vergangenen 11. Mai hatte Frankreich in New York neben weiteren 177 Ländern ein Abkommen unterzeichnet, das eine „zeitlich unbefristete“ Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages vorsah.

Während bei diesem Vertrag die nichtatomaren Staaten einem grundsätzlichen Verzicht auf Atomwaffen zugestimmt haben, bleiben Frankreich und die übrigen vier ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates – und nur sie – weiter im Besitz der Bombe. Aber nicht bedingungslos. Im Gegenteil. Angesichts der Tatsache, daß heutzutage die Weitergabe von Atomwaffen die größte Gefahr darstellt, ist das Verhalten Frankreichs keine Ermutigung für Länder wie Israel (das im übrigen seine Bombe ohne einen einzigen Atomtest fertiggestellt hat), Pakistan und Indien, auf die Atombombe zu verzichten! Und auch der Iran oder Nordkorea werden sich so gewiß nicht davon abhalten lassen, eine Bombe ihr eigen nennen zu wollen.

Zeugt es etwa von Verantwortungsbewußtsein, wenn man ohne Befragung der Bevölkerung und ohne Absprache mit den Partnern der Europäischen Union gegen die scharfen weltweiten Proteste diese Versuche durchzuführen plant? Zumal die Einwohner von Französisch-Polynesien darin einen „Kolonialismus“ am Werk sehen und verstärkt ihre Unabhängigkeit diskutieren. Kann Paris sich wirklich über die Tatsache hinwegsetzen, daß der südliche Pazifik durch das Abkommen von Rarotonga vom August 1985 zu einer entnuklearisierten Zone erklärt worden war?

Die Atomversuche, so argumentieren Chirac und sein Außenminister, seien notwendig, damit Frankreich seine Rolle als „Großmacht“ beibehalten könne. Ein trauriges Argument, ein mediokres Denken – und das Eingeständnis einer politischen Ohnmacht. Besäße Frankreich nicht viel mehr Größe, und entspräche es nicht weitaus mehr seiner Tradition, wenn es anstatt Plutonium zu produzieren weltweit für die Ächtung jeglicher Atomwaffen einträte? Damit niemand in den kommenden Jahrhunderten das Brennen von zehntausend Sonnen zu befürchten hat. Warum ist das, was man bei den chemischen und bakteriologischen Waffen erreicht hat, für die Atomwaffen nicht machbar?

1 Le Monde, 21. Juli 1995.

2 Gespräch mit Charles Millon, Le Figaro Magazine, 15. Juli 1995.

Le Monde diplomatique vom 11.08.1995, von Von IGNACIO RAMONET