14.07.1995

Quebec: Erneutes Referendum im Herbst

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Quebec: Erneutes Referendum im Herbst

Nachdem er die Wahlen vom September 1994 knapp gewonnen hatte, leitete Jacques Parizeau, Chef des „Parti Québécois“ (PQ), eine neue Volksabstimmung über die Unabhängigkeit von Kanada in die Wege. Aufgrund der unklaren Ergebnisse von Meinungsumfragen zögerte der Premierminister zwar zunächst, sein Wahlversprechen zu halten, doch dann entschloß er sich, die Wähler und Wählerinnen Mitte des nächsten Herbstes entscheiden zu lassen. Noch ist das Referendum aber nicht gewonnen, denn die Föderalisten, die sich in der Liberalen Partei gesammelt haben, ebenso wie die große Mehrheit der Angelsachsen und der sogenannten „Allophonen“, dem Bevölkerungsanteil, der weder Englisch noch Französisch als Muttersprache hat, sind strikt gegen eine Unabhängigkeit von Quebec. Anglo- und Allophone stellen 9 bzw. 8 Prozent der 7,2 Millionen Einwohner von Quebec. Alle erinnern sich im übrigen noch genau an die Blamage, die der berühmteste Anhänger einer Quebecer Souveränität, René Lévesque, bei dem Referendum im Mai 1980 erlitten hatte: Mit einer Mehrheit von 60 Prozent wurde damals sein Versuch, einen von Kanada unabhängigen Staat zu errichten, verworfen.

Fünfzehn Jahre später sind die Karten allerdings neu verteilt: Der Bundesstaat hat mit seinem Beitritt zum nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Nafta) zwischen Kanada, USA und Mexiko bereits auf einige seiner Privilegien verzichtet. Das Beispiel der Europäischen Union macht klar, daß Staaten, die seit Jahrhunderten miteinander rivalisieren, trotzdem einen hohen Grad wirtschaftlicher und politischer Integration erreichen können. Und die sanfte Scheidung von Tschechien und der Slowakei hat einen Präzedenzfall geschaffen, der die besorgten Gemüter beruhigt hat.

Im übrigen hat der jetzige Premierminister Jacques Parizeau den ursprünglichen Gesetzentwurf der PQ leicht abgeändert: Er schlägt nun vor, ein souveränes Quebec sollte sich mit Kanada assoziieren, nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene (insbesondere durch eine einheitliche Währung, den kanadischen Dollar), sondern mit gemeinsamen Institutionen auch im Bereich der Politik, in Anlehnung an den EU-Ministerrat und das Europäische Parlament. Die Verteidigung, die Währungspolitik, die internationalen Handelsfragen und anderes wären dann Sache dieser Institutionen. Also durchaus kein Bruch, sondern lediglich der Wille, im Rahmen eines eigenen Staates eine kulturelle Identität, deren Träger die französische Sprache ist, zu behaupten. All jenen, die an den Überlebenschancen eines souveränen Quebecs zweifeln, antworten Parizeau und seine Freunde, daß der neue Staat immerhin weltweit an zwanzigster Stelle der Wirtschaftsmächte stehen würde...

BERNARD CASSEN

Le Monde diplomatique vom 14.07.1995, von Bernard Cassen