Der Staat als autoritärer Vater
IN der gesamten arabischen Welt gibt es nicht ein einziges demokratisches Regime, nicht einen Rechtsstaat. Die zunehmend städtische und gebildete arabische Öffentlichkeit ist erbittert über das Fortdauern dieser skandalösen Situation, während doch die Demokratisierung überall sonst auf der Welt – in Osteuropa, Lateinamerika, Afrika und Asien – voranschreitet. Sie fordert nun einen anerkannten Status als Staatsbürger, um wirksamer gegen den Neo- Autoritarismus der Machthaber und gegen die Offensive des islamistischen Obskurantismus vorzugehen.
Von HISCHAM BEN ABDALLAH AL-ALAWI *
In Europa ist die politische Modernisierung des Nationalstaats mit der Veränderung des Begriffs von der Staatsbürgerschaft einhergegangen. Untertanen, deren wesentliche Rolle als Individuen bislang darin bestanden hatte, einer Macht zu gehorchen, die eine transzendentale Autorität verkörperte, wurden zwischen dem siebzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert nach einem langen Kampf gegen den Despotismus zu „Staatsbürgern“, zu gleichberechtigten Partnern eines Gesellschaftsvertrags also, der sich auf eine souveräne nationale Autorität stützte.
Dieser Vertrag beruhte auf einem Regelwerk – den Gesetzen –, das für alle gleichermaßen galt, dessen Legitimität jedoch von der Zustimmung der Bürger abhing. In diesem Vertrag, an den sich alle modernen Demokratien halten, steht die Verpflichtung des Staates, seinen Bürgern eine Reihe Grundrechte zu gewährleisten, noch über der Pflicht der Bürger, die staatlichen Gesetze zu befolgen.
Selbst in den demokratisch fortgeschrittenen Ländern wurden diese politischen Rechte jedoch erst nach einer langen Folge von Konflikten allgemein verbreitet und umgesetzt. In Frankreich etwa wurde das Wahlrecht für Frauen erst 1945 eingeführt. In den Vereinigten Staaten gilt das allgemeine Wahlrecht erst seit wenig mehr als einem Vierteljahrhundert, als eine neue Gesetzgebung insbesondere den Schwarzen in den Südstaaten die freie Ausübung ihrer Bürgerrechte gewährte. Manchmal haben diese demokratischen Vorstöße auch zu Kompromissen mit den traditionellen Formen politischer Macht geführt: So ist Großbritannien noch immer eine Monarchie ohne schriftliche Verfassung.
Die letzten Etappen in der Entwicklung der Staatsbürgerlichkeit in Westeuropa und den USA wurden erst kürzlich genommen, als die „Staatsbürger“ während der großen Wirtschaftskrisen durchsetzten, daß der Gesellschaftsvertrag in der Form eines Wohlfahrtsstaats bestimmte wirtschaftliche und soziale Rechte beinhaltet. Nur dank dieser Erweiterung konnte sich in Westeuropa die liberale bürgerliche Ordnung aufrechterhalten.
Seltsamerweise erwies sich andernorts, in den eben erst unabhängig gewordenen Nationen der arabischen Welt, eine durch Massenmobilisierungen unterstützte Variante des Wohlfahrtsstaats als das geeignetste Mittel zur staatsbürgerlichen Integration. Damit kam man der Entfaltung einer wahren Bandbreite politischer Rechte zuvor – und verhinderte sie häufig sogar.
Mehrere arabische Regime, sowohl Monarchien als auch Republiken, haben die allgemeine unentgeltliche Schulbildung, Sozial- und Krankenkassen sowie den Schutz des Arbeitsplatzes zu Symbolen für die Zugehörigkeit zur Staatsgemeinschaft gemacht. Anstelle von Staatsbürgern im modernen Sinn des Wortes haben sie dadurch jedoch Untertanen geschaffen, deren Möglichkeit, ihre bürgerlichen und sozialen Rechte in Anspruch zu nehmen, keine Selbstverständlichkeit ist, sondern vom guten Willen ihrer Regierenden abhängt.
Staatsbürger als Untertan
DER Verweis auf die Vordringlichkeit der nationalen Befreiung und die Herbeiführung eines Systems der sozialen Gerechtigkeit hat im übrigen sowohl den konservativen als auch den fortschrittlichen Regierungen in arabischen Nationalstaaten häufig dazu gedient, die Forderung der Bürger nach bürgerlichen und politischen Rechten zu ignorieren. Im besten Fall wurden diese Fragen nach hinten auf die Tagesordnung geschoben. Häufig jedoch wurden die Verfechter bürgerlicher Freiheiten nur allzuschnell als Staatsfeinde abgestempelt.
Das in den meisten arabischen Verfassungen stolz präsentierte Wort vom „Staatsbürger“, das aus den Verfassungen westeuropäischer Länder übernommen wurde, ist zumindest in dieser Hinsicht ein Sprachmißbrauch. Der arabische Begriff des muwatin, mit dem gewöhnlich das Wort „Staatsbürger“ übersetzt wird, steht de facto in einem ganz anderen Zusammenhang. Statt einen mündigen, auf seine Rechte pochenden Bürger, der mit dem französischen Begriff des Citoyen gemeint ist, bezeichnet der muwatin politische Untertanen, deren Unterordnung unter den Staat als erwiesen gilt, deren Loyalität jedoch weiterhin zweifelhaft bleibt. Doch nicht nur der Staat sieht in ihnen keine „Bürger“, sondern Untertanen. Auch der muwatin selbst ist häufig im alten Untertanendenken befangen. Die Freiheit dieser Bürger ist keine erkämpfte, sondern ebenso aufgezwungen wie provisorisch.
Vor diesem Hintergrund kämpfen die Bürger der arabischen Welt weiterhin für das Entstehen demokratischer Regierungsformen, wobei sie zwangsläufig von den historischen Besonderheiten und dem kulturellen Umfeld jeder Nation beeinflußt werden.
Jahrelang haben Historiker, Anthropologen und Politologen über die Unfähigkeit (oder den mangelnden Willen) der arabischen Staaten debattiert, den politischen Raum für eine Staatsbürgerschaft mit klar bestimmten Rechten und Pflichten zu schaffen. Zur Erklärung wurde der entscheidende Einfluß der Familien- und Stammeszugehörigkeiten auf die Strukturen der arabischen Gesellschaften und Kulturen angeführt. Die Familie gilt tatsächlich weiterhin als das Zentrum sowohl der gesellschaftlichen Organisation als auch des Wirtschaftslebens und der Kultur. Die familienunabhängigen Machtverhältnisse, die sich in Europa durchgesetzt haben, werden im arabischen Raum durch traditionelle patriarchalische Modelle überlagert. Es ist nur natürlich, daß dieses Phänomen die Herausbildung der politischen Subjekte beeinflußt.
Die wirtschaftliche Entwicklung und Industrialisierung, das Wachstum der Städte und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht haben im Laufe der letzten vierzig Jahre die Rolle der Familie in zahlreichen arabischen Gesellschaften tiefgreifend verändert. Da diese Veränderungen jedoch unausgewogen, begrenzt und unvollendet geblieben sind, erfüllt die Familie auch weiterhin eine gewichtige Funktion – und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits mindert sie durch den Halt und die Sicherheit, die sie bietet, die negativen Folgen der wirtschaftlichen Probleme und gewährleistet den Fortbestand der kulturellen Werte. Doch zugleich verfestigt sie die patriarchalen Herrschaftsformen und ermöglicht es, die Entwicklung einer unabhängigen, erwachsenen Beziehung zwischen dem Staat und dem Bürger zu behindern.
Das Verhältnis zwischen dem Familienoberhaupt, einer zugleich autoritären und großzügigen Figur, und dem geschützten, abhängigen und willfährigen Kind ähnelt dem zwischen Regierenden und Untertanen. In der arabischen Welt ist das Staatsoberhaupt oft der „Vater der Nation“. Die rechtlich festgelegten Sozialleistungen erscheinen so als „persönliche Gesten der Großzügigkeit“ eines Machthabers und nicht als Vorteile, die einer Gemeinschaft von einer Regierung zugestanden worden sind. Gunstbezeugungen können jedoch jederzeit wieder zurückgenommen werden.
Paradoxerweise ist diese Sicht der Dinge am deutlichsten in den fortschrittlichsten Ländern vertreten. Selbst in Nassers Ägypten (1954–1970), dem Modell für sozialistische Planwirtschaft in der arabischen Welt, wurden Maßnahmen wie die Verteilung des Bodens, die Nahrungsmittelsubventionen und die Sozialleistungen als persönliche Geschenke des nationalen Familienoberhaupts an bedürftige Verwandte dargestellt und aufgefaßt.
Das bedeutet noch nicht, daß eine starke Familienstruktur ausreicht, um ein demokratisches Staatsbürgertum zu verhindern. Doch diese politischen Systeme müssen sich sowohl mit einer Krise in den Bereichen Entwicklung, Verstädterung und Bildungswesen auseinandersetzen als auch mit dem Erbe der kolonialen Abhängigkeit, einem Bewußtsein von seiner geopolitischen Schwäche und einer Reihe nationaler Personenkulte. Da stellt sich die Frage, inwieweit eine bestimmte Abhängigkeitsstruktur als Modell für andere Machtbeziehungen dienen kann und inwiefern sie dazu beiträgt, die politische Entwicklung der arabischen Welt hinauszuzögern.
Die zähen Bindungen der tribalen, ethnischen und religiösen Solidarität sind die zweite Herausforderung, der sich moderne Vorstellungen von Nation und Staatsbürgerschaft stellen müssen. In ihrem Kampf um die Gunst der Bevölkerung bilden die Stämme und Nationalstaaten einen grundlegenden kollektiven Widerspruch heraus. Historisch hat die Herausbildung moderner Nationalstaaten, die das Gewaltmonopol ausüben, nach und nach zum Verschwinden früherer Macht- und Loyalitätsformen geführt. In der arabischen Welt hingegen ist es bedeutenden Stämmen in Nordafrika, auf der arabischen Halbinsel, am oberen Nil und in der syrischen Wüste gelungen, sich noch lange nach Beginn des neunzehnten Jahrhunderts eine jeweils unterschiedlich stark ausgeprägte Autonomie gegenüber der Zentralmacht zu sichern.
Die nach dem Abzug der Kolonialverwaltungen entstandenen Nationalstaaten haben dieses Problem auf zwei verschiedene Weisen zu lösen versucht, die beide mit modernen Begriffen von Staatsbürgerschaft unvereinbar sind. In den meisten Fällen sind die arabischen Führer der Herausforderung der Stämme mit einer Mischung aus Unterdrückung und Einbindung (durch Heiraten, Bündnisse, persönliche Gunstbezeugungen, Schüren von Rivalitäten usw.) begegnet. Doch wo das von Ibn Khaldun1 definierte Modell bestimmend war, hat der Staat die Form einer Fusion zwischen tribaler Solidarität und Zentralmacht angenommen und alles mit einem paternalistischen und religiösen Wohlwollen durchsetzt. Die politisch-religiösen Bewegungen auf der arabischen Halbinsel und in Nordafrika sind die offensichtlichsten Beispiele für diese Entwicklung. In diesen Fällen beruht die Ausweitung der Zentralmacht mehr auf Zwang als auf der Zustimmung des Bürgers, die allein die Legitimität des modernen Sozialvertrags begründet.
Ein weiterer Faktor, der zur Erklärung für die Art der Herausbildung von Staatsbürgerschaft in der arabischen Welt hinzugezogen wird, ist neuerdings die politische Rolle des Islam. In etwas vorschneller Vereinfachung einer besonders komplexen historischen Entwicklung merken westliche Beobachter häufig an, daß in Europa die Entwicklung der Nationalstaaten und der demokratischen politischen Staatsbürgerschaft von einer Säkularisierung der Politik und einer konstitutionellen Trennung von Kirche und Staat begleitet war. In der arabischen Welt gibt es keine wirklich vergleichbare Entwicklung. Sowohl die sogenannten islamistischen politischen Bewegungen als auch zahlreiche konservative Regime haben im Gegenteil versucht, ihre Legitimität auf der kompletten Verschmelzung von Religion und Politik aufzubauen. Die Länder, die versucht haben, die Säkularisierung zu fördern, sind in die Defensive geraten: Sie haben mit ihren eigenen Niederlagen zu kämpfen und müssen erkennen, daß es ein Fehler war, die Bindung der arabischen Gesellschaften an die islamischen Werte zu unterschätzen. Allerdings führen die religiösen Anrufungen einer transzendentalen Macht oft zur Stärkung von Abhängigkeitsstrukturen, was die Entwicklung eines modernen politischen Staatsbürgertums um so mehr verzögert.
Die Berufung auf den Islam, sei es nun in seiner radikalen oder konsertiven Ausformung, kann insofern durch Verweis auf die traditionelle Loyalität zur Legitimation einer undemokratischen Ordnung angeführt werden und jedwede Erneuerung somit verhindern.
Das islamische Denken und die islamische Praxis gehen jedoch über den heutigen autoritären Islamismus hinaus, und dessen Fehler bedeuten keineswegs, daß der Islam an sich mit der Existenz politischer und sozialer Rechte unvereinbar ist. Man könnte sogar behaupten, daß gerade die Unterdrückung des Islamismus darauf hinausläuft, nicht nur die Vorzüge der modernen Staatsbürgerschaft zu verbieten, sondern darüber hinaus die im Islam vorhandenen fortschrittlichen Prinzipien von Gleichheit und Gerechtigkeit zu ächten. Aus dem Islam und seinen Werten kann die Schaffung eines demokratischen politischen Raums entstehen. Kein Modell einer laizistischen Gesellschaft verlangt den Ausschluß des Islam. Im übrigen enthalten der Koran und die Sunna durchaus mit Staatsbürgerschaft vereinbare Prinzipien. Die shura empfiehlt Debatten und Beratungen mit der Gemeinschaft. In der Tradition des Islam sind die konkreten Formen dieses sozialen Dialogs schon immer Thema lebhafter Diskussionen gewesen. Die Salafia-Bewegung, die einflußreichste Strömung unter den modernen islamischen Juristen und Denkern, behauptet, daß die Anwendung der shura heute Wahlen und Parlamente bedeuten würde. Diese islamische Denkrichtung empfiehlt den Gebrauch der Vernunft, um neue Regeln auszuarbeiten. Die sollen immer dann, wenn die religiösen Schriften keine ausreichenden Handlungsanleitungen beinhalten, eine angemessene Reaktion auf wirtschaftliche, politische und soziale Veränderungen ermöglichen.
Ferner ermutigt der Islam die Gemeinschaft, durch Konsens über den besten Weg zur Verbesserung des kollektiven Wohlergehens zu entscheiden. Jahrzehntelang haben die meisten islamischen Länder ihre politischen Entscheidungen auf der Basis dieser islamischen Traditionen gefällt.
Im übrigen beschränkt sich das Phänomen der Neubewertung des Religiösen gegenüber dem Politischen nicht nur auf die arabische und islamische Welt. Es taucht in so unterschiedlichen Ländern wie Israel, Indien oder den Vereinigten Staaten von Amerika auf. Der Fortschritt der Säkularisierung bedeutet keineswegs das Verschwinden der Religion aus dem öffentlichen Leben. Selbst in den fortgeschrittenen westlichen Demokratien hat es oft einen Kompromiß zwischen Religion und Politik gegeben: Großbritannien hat eine Staatsreligion beibehalten, und Deutschland subventioniert die Kirchen. Kein sozialpolitisches Modell hat zum Ausschluß der Religion geführt (nicht einmal Diktaturen haben das erreicht).
Um auf den Islam zurückzukommen: Die Bedeutung, die er der Gerechtigkeit, Gleichheit und der Gemeinschaft beimißt, sind sichere Trümpfe auf dem Weg zu einer wirklichen Staatsbürgerschaft. Nichts in dieser Religion steht der Schaffung eines demokratischen politischen Raums entgegen. Die arabischen Machthaber sollten sich ohne Verzug an die Verwirklichung dieses Raums wagen, um den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen.
dt. Christiane Kayser
1 Anm. d. Red.: Ibn Khaldun (1332–1406), in Tunis geborener arabischer Historiker und Philosoph. Sein Hauptwerk, „Livre des considérations sur l'histoire des Arabes, des Persans et des Berbères“, macht ihn zum Vorläufer der Soziologie und zum Geschichtsphilosophen.
(Dachzeile, Titel, Vorspann und Zwischentitel stammen von der Redaktion.)
* Ingenieur in Rabat, Marokko. Sohn des 1983 verstorbenen Prinzen Moulay Abdallah. Der Autor äußert sich hier als Privatperson.